Mittwoch, 24. April 2024

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Psychologin über Flüchtlinge auf Lesbos
"Wir kämpfen jeden Tag um die Gesundheit der Kinder"

Die Lage im Flüchtlingslager auf Lesbos ist dramatisch. Besonders die Kinder litten unter den Bedingungen, sagte die Psychologin Katrin Glatz-Brubakk, die vor Ort für "Ärzte ohne Grenzen" arbeitet. Man sehe Kinder, die ihren Lebensmut komplett aufgegeben hätten. Die Hilfsangebote der EU seien nicht ausreichend.

Katrin Glatz-Brubakk im Gespräch mit Stefan Heinlein | 23.12.2020
Ein afghanisches Kind verlässt ein Schiff im Hafen von Lavrio, Griechenland. Einige Menschen durften die Lager auf Lesbos verlassen.
Ein afghanisches Kind verlässt ein Schiff im Hafen von Lavrio, Griechenland. Einige Menschen durften die Lager auf Lesbos verlassen. (dpa/picture alliance/AP/Petros Giannakouris))
Mehr als 17.000 Kinder, Frauen und Männer leben in den Flüchtlingscamps auf den griechischen Inseln, die Mehrheit ohne festes Dach über dem Kopf, meist in Zelten, schutzlos der eisigen Witterung ausgesetzt. Nach dem Brand auf Moria wurde auf der griechischen Insel Lesbos ein neues provisorisches Zeltlager für etwa 7.500 Menschen errichtet. Dort arbeitet die Kinderpsychologin Katrin Glatz-Brubakk von der Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen". Die Bedingungen, unter denen die Menschen dort leben müssten, seien unwürdig, so Glatz-Brubakk. Die Menschen würden krank, hätten Hautkrankheiten, da es keine Möglichkeiten zum Waschen gebe.
Kinder auf Lesbos: Zwischen Wut und Verzweiflung
Gerade bei den Kindern sei die psychologische Lage besonders schlimm. Viele litten unter Angstzuständen. "Wir sehen auch Kinder, die ganz den Lebensmut aufgeben und nicht mehr leben wollen."
Manche seien auch wütend, weil sie wahrnehmen, wie unwürdig sie von Europa behandelt werden. Manche sagen: "Ich wäre lieber von einer Bombe in Syrien gestorben, als langsam hier jeden Tag ein bisschen zu sterben", berichtet Glatz-Brubakk.
Je länger die Kinder in dem Lager wohnen müssten, desto größer werde auch der psychologische Schaden, den sie davontragen. Es gebe viel zu wenig Menschen in den Lagern, die sich um die Kinder kümmern. Die Angebote der EU seien nicht ausreichend. Dennoch gebe es bei der Arbeit mit den Kindern auch kleine Erfolge: "Wenn man ein Kind überzeugen kann, doch weiter zu leben, obwohl es Pläne hat, sich umzubringen, macht das Mut zum Weitermachen", so die Psychologin.
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Das Interview im Wortlaut:
Stefan Heinlein: Können Sie uns schildern, was es jeden Tag bedeutet, für die Familien im griechischen Winter in Zelten am Strand von Lesbos zu kampieren?
Katrin Glatz-Brubakk: Das heißt, dass man einen Alltag hat, wo man vor dem Zelt Matsch hat, wenn es geregnet hat auch im Zelt, wenn es Wasser hat. Manche Zelte klappen im Wind zusammen. Das heißt, man hat überhaupt kein Dach mehr überm Kopf. Die Toiletten kippen um im starken Wind und da fließt der Inhalt raus. Es gibt keine Schule, kein Spielgebiet, nirgends, wo die Kinder sich sicher fühlen. Also sehr, sehr unwürdige Bedingungen.
Heinlein: Der deutsche Entwicklungsminister Müller hat die Zustände auf Lesbos als entsetzlich beschrieben. Ist dies das richtige Adjektiv, oder hat er übertrieben oder untertrieben?
Glatz-Brubakk: Es ist entsetzlich. Es ist unwürdig. Es gibt keine Menschenrechte und wir sehen jeden Tag, dass Menschen einfach davon krank werden.
Heinlein: Welche Folgen hat denn diese Situation für die Gesundheit der Menschen?
Glatz-Brubakk: Es gibt keine Sanitäranlagen. Das heißt, es gibt Menschen im Lager, die haben seit drei Monaten nicht duschen können. Man kann Klamotten nicht waschen oder sehr, sehr begrenzt. Es gibt kein warmes Wasser. Das heißt zum Beispiel, Hautkrankheiten wie die Krätze gibt es in den allermeisten Zelten, einfach weil es nicht möglich ist, sie weder zu behandeln noch sie los zu werden. Ich arbeite ja mit den Kindern und für sie ist vielleicht die psychologische Lage am schlimmsten. Wir sehen Kinder, zwei-, dreijährige, die so unruhig werden und so viel Angst haben, dass sie anfangen, den Kopf gegen die Wand zu knallen, bis sie bluten. Sie reißen sich die Haare raus. Sie haben angefangen, jetzt nachtzuwandeln, weil sie träumen, dass das Feuer wieder da ist und dass sie flüchten müssen. Und wir sehen auch leider Kinder, die ganz den Lebensmut aufgeben und einfach nicht mehr leben wollen.
"Man darf nicht heizen, weil es im Camp einfach nicht genug Strom gibt"
Heinlein: Es ist ja nicht Ihr erster Aufenthalt auf Lesbos. Sie sind bereits das neunte Mal im Einsatz in griechischen Flüchtlingscamps. Wie hat sich denn die Situation der Menschen verändert nach dem Brand von Moria? Ist es jetzt in dem aktuellen Camp noch schlechter geworden als zuvor?
Glatz-Brubakk: Es ist in dem Sinne schlechter geworden: Im alten Camp konnte man sich kleine Holzhütten bauen. Man konnte die Wohnungslage ein bisschen bessern. Das darf man jetzt nicht und deswegen wohnen alle im Zelt. Auch durch den Winter hindurch müssen sie im Zelt wohnen. Es ist kalt. Man darf nicht heizen, weil es im Camp einfach nicht genug Strom gibt. Man darf kein Feuer machen. Manche versuchen es trotzdem, weil man einfach friert, mit kleinen Gasbrennern, und was wir dann sehen sind dann auch ständig mehr Brandwunden, weil man mehr darüber stolpert. Man wohnt eng und alt Moria und neu Moria zu vergleichen ist wie zwei Albträume zu vergleichen.
Heinlein: Was sagen denn die Menschen, mit denen Sie jeden Tag Kontakt haben, angesichts dieser Umstände, die Sie schildern? Sagen die Menschen, ich bereue meine Flucht, es wäre besser gewesen, wenn wir zuhause geblieben wären?
Glatz-Brubakk: Bei den Kindern hören wir öfter mal, dass sie Wut haben auf ihre Eltern. Sie sagen, wir sind geflüchtet, um uns sicher zu fühlen und um dem Krieg zu entkommen, aber jetzt sind wir in diesem Albtraum drin und warum sind wir hier. Manche sind wütend, weil sie wirklich wahrnehmen, wie unwürdig sie von Europa behandelt werden. Und manche sagen, ich wäre lieber von einer Bombe in Syrien gestorben als langsam hier jeden Tag ein bisschen zu sterben.
Heinlein: Sie sind Kinderpsychologin. Sind das seelische Narben bei den Kindern, die in Zukunft wieder verheilen können, wenn sie später vielleicht als Flüchtlinge zu uns kommen und anerkannt werden, oder bleibt da etwas zurück in jedem Fall für das ganze Leben?
Glatz-Brubakk: Es wird ganz bestimmt Narben geben. Mit Narben kann man ja leben. Aber je länger sie in diesem Lager wohnen müssen, in so unwürdigen, gefährlichen Bedingungen, je größer wird natürlich der Schaden und je schwieriger ist das dann auch wieder zu reparieren.
"Ich kann nicht als Kinderpsychologin arbeiten und die Hoffnung aufgeben"
Heinlein: Sind die Kinder von Lesbos schon so etwas wie eine verlorene Generation? Kann man das sagen?
Glatz-Brubakk: Ich kann nicht als Kinderpsychologin arbeiten und die Hoffnung aufgeben. Wir kämpfen jeden Tag um die Gesundheit der Kinder und hoffen natürlich, dass wir so gut wie möglich beitragen können. Wir sehen es auch täglich. Aber wie gesagt: Je länger sie hier sind, je größer ist die Chance, dass sehr viele Kinder damit auch später Probleme haben werden.
Heinlein: Was können Sie denn den Kindern sagen? Es wird alles gut, es wird alles schön in Zukunft, Du hast eine gute Zukunft? Oder wie tröstet man Kinder, angesichts dieser Situation?
Glatz-Brubakk: Erst mal spielen wir viel mit ihnen. Therapeutisches Spielen ist wie ein psychologisches Kinderei. Man kann für einen kleinen Augenblick vergessen, dass alles traurig und schwierig ist, und man kann den Stress ein bisschen auflockern. Man kann aber auch Traumata durch Spielen heilen und vor allen Dingen auch ein bisschen Gegenstandskraft und Resilienz aufbauen, denn das brauchen sie hier dringend.
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Heinlein: Gibt es denn genügend Psychologen? Gibt es genügend Menschen in dem Lager, in dem Sie sind, 7500 Menschen, die sich um die Kinder kümmern?
Glatz-Brubakk: Leider nein. Was die EU anbietet ist sehr begrenzt an Gesundheitsangeboten. Es gibt ja auch nichts an Schulangeboten oder Kindergarten oder irgendwie was Positives für die Kinder. Wir wissen, dass Kinder Struktur brauchen, Voraussichtbarkeit, und die ganze Lage ist überhaupt nicht für Kinder gemacht.
"Sie haben verdient, dass jemand hier ist, der für sie sorgt"
Heinlein: Ich habe es erwähnt und Sie haben es mir im Vorgespräch erzählt. Es ist bereits Ihr neunter Einsatz in der Region. Darf ich Sie persönlich fragen? Warum machen Sie diese schwierige Arbeit? Was treibt Sie an?
Glatz-Brubakk: Wenn man erst einmal auf Lesbos gewesen ist und die Kinder in mein Herz eingekrochen sind, ich kann es einfach nicht lassen. Sie haben verdient, dass jemand hier ist, der für sie sorgt, der ein bisschen Liebe bringt, aber auch, weil ich fachlich kann und weiß, wie ich helfen kann. Darum kann ich es einfach nicht lassen.
Heinlein: Sehen Sie auch Erfolge?
Glatz-Brubakk: Ja, absolut! Klar, die Erfolge wären größer, wenn sie nicht in diesen Bedingungen wohnen müssten, aber wenn man ein Kind überzeugen kann, doch weiterzuleben, obwohl es Pläne hat, sich umzubringen, das macht Mut zum Weitermachen. Oder ein Kind, das seit acht Monaten nicht gesprochen hat, endlich mal ein bisschen redet oder ein bisschen lächelt; das gibt schon ein Erfolgsgefühl. Und für das Kind ist es natürlich super wichtig.
Heinlein: Was sagen Sie Menschen, was sagen Sie Politikern bei uns in Deutschland oder überhaupt in Europa, die jetzt behaupten, es ist gut, dass Flüchtlinge in diesen Lagern leben, auch unter diesen Umständen, denn diese Bilder, die schrecken dann ab, damit nicht in Zukunft noch mehr zu uns kommen und versuchen, nach Europa zu gelangen?
Glatz-Brubakk: Ich habe gestern mit einer 13-Jährigen gesprochen. Sie ist auf der Flucht mit ihrem großen 20-jährigen Bruder. Deren Mutter wurde bei einem Selbstmordangriff in Afghanistan umgebracht. Ihr Vater und zwei Brüder sind von Taliban gefangen worden. Sie haben in Afghanistan keine Zukunft. Sie kommen, egal wie es hier ist, obwohl es hier auch schlimm ist und viele wissen, wohin sie gehen. Aber sie flüchten von etwas, viel mehr, als dass sie hierher wollen. Aber sie haben keine Alternative.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.