Freitag, 29. März 2024

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Lage in Afghanistan
"Die Taliban sind immer stärker am Drücker"

Seit der internationalen Intervention gegen das Taliban-Regime in Afghanistan sei die Lage eskaliert, sagte der Afghanistan-Experte Thomas Ruttig im DLF. Die Zahl der Binnenflüchtlinge sei im vergangenen Jahr auf 1,2 Millionen gestiegen. "Wir würden nicht über Abschiebungen nach Afghanistan reden, wenn wir nicht vor einem Bundestagswahlkampf stehen würden", sagte Ruttig.

Thomas Ruttig im Gespräch mit Ann-Kathrin Büüsker | 31.05.2017
    Am 31. Mai 2017 detoniert ein Sprengsatz in der afghanischen Hauptstadt Kabul, ganz in der Nähe der deutschen Botschaft im Diplomatenviertel. Das Bild zeigt eine schwarze Rauchwolke, zerstörte Autos und einen schwerbewaffneten Polizisten.
    Der schwere Anschlag in Kabul hat wieder einmal die Schwäche der afghanischen Armee gezeigt. (AFP PHOTO / SHAH MARAI)
    Ann-Kathrin Büüsker: Über die Sicherheitslage in der afghanischen Hauptstadt Kabul habe ich mit Thomas Ruttig gesprochen. Er ist Co-Direktor des unabhängigen Think Tanks Afghanistan Analysts Network, beschäftigt sich seit 1980 mit Afghanistan und war zuletzt selbst im März dort. Ich habe ihn gefragt, ob wir im Fall Afghanistan über lokale Konfliktherde reden, oder ob wir von einem tatsächlichen Krieg im Inneren des Landes ausgehen müssen.
    "Die Zahl der Binnenvertriebenen ist gerade 2016 sehr stark gestiegen"
    Thomas Ruttig: Dieser innere Krieg, der zwischen den Regierungstruppen und ihren ausländischen Unterstützern und den Aufständischen, vor allen Dingen den Taliban läuft, hat ja nie wirklich aufgehört. Wenn wir uns ein paar Kennziffern der vergangenen Jahre ansehen, zum Beispiel die Zahl der zivilen Opfer und die Zahl der internen Flüchtlinge, der Binnenflüchtlinge, Internally Displaced Persons, beide Zahlen sind erheblich gestiegen – die Zahl der zivilen Opfer seit 2009 seit der Zählung relativ allmählich, die Zahl der Binnenvertriebenen gerade 2016 sehr stark, fast eine Verdoppelung auf 1,2 Millionen, und in diesem Jahr sind auch schon wieder 100.000 dazugekommen. Und auch internationale Friedensforschungsinstitute haben Afghanistan in den letzten Jahren immer unter den drei, vier, fünf intensivsten Konflikten geführt.
    Büüsker: Von wem geht diese Gewalt aus? Reden wir hier über die Taliban, reden wir über den selbst ernannten Islamischen Staat, oder lässt sich das gar nicht mehr trennen, diese beiden Gruppen?
    "Man muss von einer Eskalation sprechen"
    Ruttig: Doch. Diese beiden Gruppen lassen sich schon voneinander trennen. Die haben zwar beide dasselbe Ziel, nämlich die Regierung in Kabul zu stürzen, aber sie kämpfen ja auch untereinander. Der Islamische Staat ist sozusagen ein Newcomer und die Taliban versuchen, diesen Newcomer gar nicht erst auf die Beine kommen zu lassen. Das ist auch weitgehend entschieden. Aber der Krieg hat natürlich noch mehr Seiten. Auch die Regierungstruppen, die internationalen Truppen nehmen daran teil. Wenn man die letzten 15, 16 Jahre seit 2001 der Intervention gegen das Taliban-Regime damals sich ansieht, muss man von einer Eskalation sprechen, die zugenommen hat, die aber auch von beiden Seiten vorangetrieben worden ist. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Amerikaner vorhatten, bis Ende 2014 alle Truppen aus dem Land abzuziehen und davor die Taliban entweder zu zerstören, oder zumindest mit einem Großangriff so weichzuklopfen, dass sie sich zu Friedensverhandlungen bereit erklären. Das ist schiefgegangen. Die Amerikaner haben dann trotzdem versucht abzuziehen und wir mit, aber sie haben die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Die Taliban sind immer noch da und da gab es eine Gegeneskalation. Also es ist jetzt nicht so, dass man sagen kann, es sind nur die Taliban oder der Islamische Staat, sondern man muss da wirklich auf beide Seiten sehen.
    Büüsker: Wie ist denn zu erklären, dass die Taliban immer noch oder vielleicht auch wieder so stark sind?
    Ruttig: Das hat vor allem damit zu tun, dass es im Grunde eine weitverbreitete Fehleinschätzung der Taliban gibt, die sie immer nur als Terrorgruppe behandelt. Die operieren zwar auch mit terroristischen Mitteln und wenn sich herausstellen sollte, dass sie bei diesem Anschlag heute, was wir ja noch nicht wissen, auch eine Hand drin hatten, dann wäre das ein Beleg dafür. Aber auf der anderen Seite sind die Taliban 2001/2002, als sie ja schon fast geschlagen waren, dann in den kommenden Jahren doch wieder erstarkt, auch weil die afghanische Regierung sehr viele Fehler gemacht hat, weil die internationalen Unterstützer viele Fehler gemacht haben. Dazu gehört vor allen Dingen das Nichtvorgehen gegen die weitverbreitete Korruption, selbst auch Gewaltausübung gegen Leute, die mal bei den Taliban waren oder von denen man annahm, dass sie mit den Taliban zu tun haben konnten – Stichworte Guantanamo, die Extraordinary Renditions, diese CIA-Flüge, mit denen Gefangene der anderen Seite im Afghanistan-Krieg dann in die Geheimgefängnisse gebracht worden sind, Waterboarding und alle diese Sachen. Das hat auch den moralischen Anspruch der westlichen Koalition in Afghanistan unterminiert, dort für Demokratie und Menschenrechte zu sprechen, und hat viele Leute in dieser Polarisierung auf die Seite der Taliban getrieben.
    PORTRÄT 3:4 - Thomas Ruttig Afghanistan Analysts Network
    Thomas Ruttig, Co-Direktor "Afghanistan Analysts Network". (dpa / picture alliance / AAN)
    Büüsker: Sie haben eben gesagt, dass auch die Regierung in Afghanistan Fehler gemacht hat. Wie ist denn derzeit der Kurs der Regierung? Besser?
    "Die sozialökonomische Situation in Afghanistan sieht sehr schlecht aus"
    Ruttig: Die Frage ist, was jetzt mit Kurs gemeint ist. Die neue Regierung unter dem Präsidenten Ghani und seinem Quasi-Ministerpräsidenten – dieses Amt gibt es ja offiziell nicht – Dr. Abdullah haben versucht, nach ihrer Amtsübernahme Ende 2014, die nach sehr stark manipulierten Wahlen im Übrigen erfolgt ist (wir wissen bis heute nicht wirklich, wer dabei gewonnen hat), haben erst mal das Hauptaugenmerk darauf gelegt zu versuchen, die Taliban an den Verhandlungstisch zu bringen, zu zwingen. Das ist schiefgegangen. Dann hat man auf eine militärische Eskalation wieder gesetzt, aber die afghanischen Sicherheitskräfte, wie wir heute auch gesehen haben, sind nicht in der Lage, ja zum Teil selbst die defensiven Aufgaben zu erfüllen. Die Taliban sind immer stärker am Drücker.
    Was aber fast noch wichtiger ist, ist, dass die sozialökonomische Situation in Afghanistan sehr schlecht aussieht. Nach dem Abzug der internationalen Truppen ist die Wirtschaft zusammengebrochen, weil sehr viele Aufträge aus dieser Richtung kamen. Die Arbeitslosigkeit ist sehr nach oben gegangen. Die Armutsquote in der afghanischen Bevölkerung ist noch mal nach oben gegangen. Das alles beeinflusst natürlich das Leben in Afghanistan.
    "Afghanistan hat seit drei Jahren überfällige Parlamentswahlen"
    Auf der politischen Seite – Afghanistan hat seit drei Jahren überfällige Parlamentswahlen. Die sind nicht durchgeführt worden, weil die afghanische Regierung einfach nicht in der Lage ist, die zu organisieren. Dabei hatten sie vorher gesagt, wir wollen das machen, wir brauchen keine internationale Hilfe mehr, wir wollen zwar internationale Finanzhilfe dafür, aber wir organisieren das selber, und bis heute hat nichts geklappt. So untergräbt man im Grunde die eigenen politischen Institutionen, auf denen man ja eigentlich beruhen und auf deren Grundlage man arbeiten sollte.
    Büüsker: Herr Ruttig, Sie haben jetzt viele Probleme skizziert, die es in Afghanistan nach wie vor gibt. Und trotzdem schiebt ja die deutsche Bundesregierung abgelehnte Asylbewerber dorthin ab. Die Bundesregierung begründet das damit, dass es in Afghanistan immer noch Regionen gäbe, in denen ein sicheres Leben möglich sei. Ist das aus Ihrer Sicht der Fall?
    Ruttig: Die Bundesregierung sagt ja auch, dass Kabul hinreichend dauerhaft sicher sei, dass man dorthin abschieben könnte. Man muss sich aber nur die Nachrichten von heute ansehen. Und man könnte auch eine zweite sehr kurze Antwort geben, nämlich, ich glaube nicht, dass wir über Abschiebungen nach Afghanistan reden würden, wenn wir nicht vor einem Bundestagswahlkampf stehen würden, bei dem die AfD sehr starke Positionen haben wird.
    Büüsker: So die Einschätzung von Thomas Ruttig vom Afghanistan Analysts Network.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.