An die 1.000 Männer und Frauen knien sich zum Gebet nieder, berühren mit der Stirn den grünen Teppich und preisen Allah. Freitagsgebet in der Al-Houdah-Moschee im Zentrum von Bordeaux. Manche der Gläubigen tragen traditionelle Gewänder, aber die meisten sind europäisch gekleidet.
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe "Laizität in Frankreich - Verschleierte Debatte".
Imam Tareq Oubrou trägt einen langen, schwarzen Mantel über seinem Anzug, auf dem Kopf eine weiß-rote Kappe. Zunächst auf Arabisch, dann auf Französisch predigt er über die Bedeutung des Korans seit dem Tod des Propheten: Es sei nicht Ziel des Koran, für alle Lebenslagen Gesetze vorzugeben, erklärt Oubrou. Nicht alles, was in der Sunna stehe oder was der Prophet gesagt habe, sei heilig.
Im Staat gilt das Gesetz der Republik
Der lebhafte Imam appelliert an die Intelligenz der Gläubigen zu erkennen, was relevant und praktikabel sei. Oubrou lässt keinen Zweifel daran, dass im Staat das Gesetz der Republik gelte. Die religiösen Gesetze regierten den spirituellen Bereich. Dies sei die Basis einer Versöhnung zwischen den Muslimen und ihren französischen Mitbürgern.
"Zuerst kommt aber die Versöhnung des Muslims mit sich selbst, mit seiner Religion, vorausgesetzt er versteht sie richtig. Dann muss er versuchen, sein Umfeld zu begreifen, insbesondere, wenn Muslime eine Minderheit sind. Denn die Minderheit sollte sich an die Mehrheit anpassen."
Der 60-Jährige ist nahe der marokkanischen Stadt Agadir in einer säkularen Familie aufgewachsen. Als Student in Frankreich hat eine mystische Erfahrung sein Leben auf den Kopf gestellt, danach wandte er sich dem Islam zu.
Mittler zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen
Er sei ein zufälliger Imam, sagt Oubrou. Als Autodidakt habe er viele Facetten des Islam kennengelernt, den radikalen Muslimbrüdern eine Weile nahegestanden aber auch den Sufis. Nach seiner Heirat beschloss er, in Frankreich zu bleiben. Er interessierte sich für die republikanischen Werte, die Geschichte des Landes und die Laizität. Auf diesen Studien beruht sein verändertes Verständnis des Islam in einer westlichen Gesellschaft.
"Ich weiß, was ich sage, schockiert viele Muslime. Sie sind sehr durch Lehren formatiert, die ich unbrauchbar und gefährlich für die Muslime finde, denn sie ersticken ihren Glauben, sind eine Einbahnstraße."
Oubrous Thesen haben ihm Kritik, zwei Morddrohungen von Anhängern des Islamischen Staates, aber auch viele offene Ohren eingebracht. Und das Ansehen der französischen Regierung, wenn es um die Suche nach einem friedlichen Zusammenleben zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen geht.
Tareq Oubrou ist rastlos. Er sucht den Austausch mit anderen. Nach diesem Freitagsgebet eilt er – jetzt nur noch in elegantem schwarzen Anzug mit weißem Hemd - gleich weiter zu einem Kolloquium. Das Thema: "Muslimischer Glaube und die Werte der Republik".
Der Saal Station Ausone, in dem rund 180 Zuhörer Platz finden, ist gut gefüllt. Oubrou stellt sein Buch "Aufruf zur Versöhnung" vor. Auf dem Podium setzt er sich mit Wissenschaftlern, Vertretern anderer Religionen, dem Laizitätsbeauftragten der Stadt Bordeaux sowie einem Freimaurer auseinander.
Misstrauen gegenüber den Religionen
"Wir haben ein wundervoll utopisches politisches System, aber die Realität ist schizophren. Die Laizität schützt die individuelle und kollektive Gewissensfreiheit, aber die Realität entspricht diesem republikanischen Ideal nicht."
Seine Stimme überschlägt sich manchmal. Das Publikum hört konzentriert zu. In Frankreich herrsche eine Kultur vor, die Religionen gegenüber misstrauisch sei. Den Muslimen empfiehlt Oubrou angesichts der angespannten Stimmung in Frankreich mehr Diskretion. Um die Lage zu beruhigen.
"Viele Muslime glauben, das Kopftuch für Frauen sei ein Gebot der Religion. Nein, es ist Teil der Kultur. Die Scham, der Anstand, sie sind Teil unserer Moral. Wie das bei der Kleidung umgesetzt wird, hängt vom Umfeld ab."
Gesellschaft muss Verantwortung übernehmen
Ein Standpunkt, der ihm viel Zustimmung einbringt. Doch der Vertreter der Protestanten, Pastor Pierre Lacoste, widerspricht. Er erinnert an die Erfahrungen der Hugenotten, als sie in Frankreich bekämpft wurden.
"Seit dieser Zeit bäumt sich etwas in uns auf, sobald die Glaubensfreiheit sich Grenzen auferlegt. Selbst im Namen eines kulturellen Anpassungsprozesses. Die französischen Muslime haben sich nicht dafür zu entschuldigen, dass sie da sind, indem sie sozusagen ihre Religion auf Zehenspitzen leben."
Die Lage in Frankreich ist komplex und auf allen Seiten von Ängsten geprägt. Dennoch leben die meisten Muslime ein ganz normales Leben. Die Spannungen könnten nur gemeinsam gelöst werden, meint Oubrou.
"Alle müssen ihren Teil der Verantwortung übernehmen: Die Schule, die Medien, Politiker, Religiöse. Denn der Fundamentalismus, der Terrorismus, das sind Phänomene mit vielen Ursachen."