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Rabbi Michel Serfaty
"Entdeckt mich! Ich bin Jude"

"In Frankreich sterben wieder Menschen, weil sie Juden sind". Mit diesem Satz umriss Präsident Emmanuel Macron Anfang 2019 den Ernst der Lage: Der Antisemitismus erstarkt. Rabbi Michel Serfaty stellt sich Hass und Vorurteilen entgegen und sucht den Dialog insbesondere mit jungen Muslimen in den Vorstädten.

Von Ursula Welter |
    Rabbi Michel Serfaty mit Schulkindern vor seinem Bus
    Rabbi Michel Serfaty bringt Christen, Juden und Muslime an einen Tisch. (picture-alliance/ Godong)
    Seit mehr als einem Jahrzehnt kämpft der Rabbiner Michel Serfaty, Universitätsprofessor mit marokkanischen Wurzeln, gegen Vorurteile an. Der inzwischen betagte, frühere Basketballspieler und Spezialist für semitische Sprachen sucht den Dialog mit jungen Muslimen, die mit dem Hass auf alles Jüdische aufgewachsen sind.
    2014 schloss Serfaty in Ris-Orangis südöstlich von Paris mit dem Rektor der Großen Moschee von Évry, Khalil Merroun, und dem damaligen Bischof der Diözese, Michel Dubost, einen "Pakt der Brüderlichkeit". Der Pakt machte damals auf nationaler Ebene von sich reden. Der Name Serfaty steht aber vor allem für die Basisarbeit in den gewaltgeladenen Vorstädten, für die jüdisch-muslimische Aussöhnung dort. Er bringt Christen, Juden, Muslime zum gemeinsamen Erinnern an die jüngsten Opfer antisemitischer Taten an einen Tisch. Serfaty öffnet die Türen seiner Synagoge und sagt: "Wir müssen Mauern in den Köpfen einreißen".
    Erstarken des Antisemitismus in Frankreich
    Unsere Reporterin Ursula Welter hatte den Rabbi bereits mehrmals getroffen, zuletzt nach den Anschlägen auf die Redaktion von "Charlie Hebdo" und auf einen Supermarkt für koschere Lebensmittel in Paris 2015. Angesichts der jüngsten antisemitischen Vorfälle und der aufgeladenen Stimmung in Frankreich wollte sie jetzt wissen, was es für die jüdisch-muslimische Freundschaftsarbeit bedeutet, dass der Antisemitismus in Frankreich und Europa wieder erstarkt. Und was es für die muslimischen Partner des Rabbiners bedeutet, dass Moscheen angegriffen werden wie zuletzt in Christchurch.
    Sie begegnete dem gealterten Rabbiner, der sich weiter voller Elan um jüdisch-muslimische Verständigung bemüht. Sie sprach mit dem Rektor der Großen Moschee von Evry, Khalil Merroun, der sagt: "Wir weinen dieselben salzigen Tränen". Sie beobachtete einen muslimischen Restaurantbesitzer, der zum Gedenken an einen von Muslimen ermordeten jungen Juden eingeladen hatte. Und sie sprach mit Jugendliche aus Einwanderervierteln, die sich um Integration bemühen, sowie mit mutigen Müttern, die sich gegen Gewalt in den Banlieues stemmen.
    Der Rabbiner Michel Serfaty sitzt in der Synagoge auf einer Stufe und spricht mit muslimischen Jugendlichen
    Prediger gegen Antisemitismus
    Wer sich besser kennt, feindet sich nicht an. Seit fast 15 Jahren leistet der französische Freundschaftsverein AJMF in Banlieues und Jugendzentren harte Basisarbeit gegen Vorurteile und Hass. Und manchmal lädt der Rabbiner Michel Serfaty junge Muslime in das Herzstück seiner Gemeinde ein.
    Auf der Rückseite eines Transporters ist ein Plakat mit einer schwarzen Frau und der Aufschrift "Ich habe von Gott geträumt, sie war schwarz" zu sehen.
    Der Rabbiner, der Bus und die Banlieues
    Emmanuel Macron hat von dunklen Zeiten gesprochen, als er die jüngsten antisemitischen Vorfälle in Frankreich aufzählte. Hass und Vorurteile treffen Juden, aber auch Muslime. Der Präsident wünschte sich mehr Engagement. Dabei gibt es Leute, die längst machen, was der Staatschef fordert.
    Khalil Merroun (r.) und sein Freund Rabbi Michel Serfaty stehen im Gebetsraum der Großen Moschee von Évry
    Geeint in Trauer
    Nach dem rassistisch motivierten Anschlag auf zwei Moscheen in Christchurch, trauerten in Frankreich Juden und Muslime Seite an Seite. So auch der Rabbiner Michel Serfaty und sein Freund Khalil Merroun, Rektor der Moschee von Évry. Beide eint die Hoffnung auf friedliches Miteinander in Frankreich.
    Mütter des Viertels stehen mit Rabbi Michel Serfaty vor einem Gebäude in Ris-Orangis
    Die Mütter der Linie 402
    Busverbindungen sind Lebensadern in Frankreichs Vorstädten. In manchen Vierteln greift die Kriminalität auf die Verkehrsmittel über. Als Busfahren in den Stadtteilen von Évry immer gefährlicher wurde, griffen die Mütter ein. Die Linie 402 wurde zum Symbol von Zivilcourage und Bürgersinn.
    Ein Bild von Ilan Halimi steht an der Gedenkstätte. In Gedenken an den entführten und getöteten 23-jährigen jüdischen Mann wurden zwei Bäume gepflanzt. 
    Gemeinsam gegen den Hass
    Ilan Halimi, ein junger Jude, wurde 2006 entführt, gefoltert, von seinen Tätern an den Straßenrand geworfen. Er starb kurz darauf. Jetzt wurde der Ort des Erinnerns geschändet. Die Menschen sind entsetzt, aber auch entschlossen: Der Hass soll nicht das letzte Wort haben.
    Literaturhinweis
    In der Sendung wurden Zitate aus dem Buch "Tanz mit dem Jahrhundert. Erinnerungen" von Stéphane Hessel gelesen - aus dem Französischen übersetzt von Roseli Bontjes van Beek und Saskia Bontjes van Beek, erschienen im List Taschenbuchverlag, Berlin 2011.