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Laura van den Berg: "Das dritte Hotel"
Wir Untote

Clare, die ihren Mann verloren hat, reist zu einem Filmfestival nach Havanna. Auf Kuba wird sie mit ihrer Unfähigkeit zu trauern ebenso konfrontiert wie mit Zombies, die plötzlich nicht nur in Filmen umherirren. Und sie merkt: Es reicht nicht mehr, ihr Leben als heiteres Unglück zu begreifen.

Von Samuel Hamen | 13.11.2020
Die Autorin Laura van den Berg und ihr Roman „Das dritte Hotel“
Die Autorin Laura van den Berg und ihr Roman „Das dritte Hotel“ (Buchcover Wallstein Verlag, Autorenportrait (c) Paul Yoon)
"Was machte sie in Havanna?" Mit dieser Frage im Kopf schlägt Clare in der Hauptstadt Kubas auf. Es ist Sommer 2015 und die Protagonistin aus "Das dritte Hotel" ist angereist, um am Festival des Neuen Lateinamerikanischen Films teilzunehmen. Eigentlich hätte ihr Mann Richard, Professor der Filmwissenschaften, das Festival besuchen sollen. Aber er ist einige Monate zuvor zu Tode gekommen, als er nachts spazieren ging und von einem Auto erfasst wurde.
Nun ist Clare vor Ort, vorgeblich, um jenen Regisseur zu einem Gespräch zu treffen, der für den ersten auf Kuba gedrehten Horrorfilm verantwortlich zeichnet. Tatsächlich ist die Reise Ablenkungsurlaub, Erkundung einer Ehe und Selbstfindungstrip in einem.
"Zurück im älteren Teil der Stadt, sah Clare vor dem Revolutionsmuseum, einem ehemaligen Präsidentenpalast mit mächtigen weißen Säulen, vor dem ein bronzener Panzer aufgebaut war, unerklärlicherweise ihren Mann. Das Museum warf einen riesigen Schatten, und in diesem Schatten stand er. Sie erkannte ihn von hinten, schon aus gut hundert Meter Entfernung, und blieb abrupt auf dem Bürgersteig stehen, weil ihr schwindelig wurde und ihr Mund sich mit einem Mal anfühlte, als wäre er voller Steine."
Warum eigentlich Horrorfilme?
Der Reiz liegt ab der ersten Seite dieses Romans darin, dass Clares Gefühl einer Dissoziation sich auf die Leserinnen und Leser überträgt: Auf den Leinwänden des Festivals stolpern die Untoten umher; auf den Seiten des Buches stromert eine verzweifelt Lebende über eine Insel und sieht mutmaßlich Tote. Aber ist ihrer Perspektive Glauben zu schenken?
Die Vorliebe der Literatur, den Realitätsgehalt ihrer Fiktionen zu hinterfragen, wird in Laura van den Bergs zweitem Roman als eine Form der Trauerarbeit entworfen. Mit welcher Wirklichkeit will die Protagonistin leben? Welche schmerzlichen Wahrheiten müssen verdrängt und verformt werden?
"Eine junge Frau erhob sich, um eine Frage zu stellen; Clare merkte ihr an, dass sie nervös war. Sie hielt die Spitze ihres Bleistifts fest gegen den Notizblock gedrückt. Warum eigentlich Horrorfilme?, wollte sie wissen, und bei dem Warum stockte ihre Stimme leicht. Warum nicht Filme über Dinge, die wirklich passieren?"
Aufzüge auf Reisen
Der Fortgang der Handlung wird von einem nicht immer nachvollziehbaren Fetisch für das Rätselhafte und Unerklärliche flankiert. Ein Briefumschlag wird von Clare erstmal ebenso wenig geöffnet wie eine Schatulle, die ihr Mann bei sich hatte, als er starb. Negative von Fotos, die dieser aufnahm, weisen laut Experten irreparable Schäden auf. Clare findet vieles nicht heraus – und gerade das Scheitern ihrer Recherche hält die Figur am Laufen, am Umherirren.
Die Idee, sich und ihre Umgebung nicht ergründen zu können, trägt sie dabei mit sich herum wie ein Totem gegen das allzu Normale und Flachsinnige. Das tut sie auch, um die Ödnis ihres Lebenslaufs zu konterkarieren. Als Handelsvertreterin für Aufzüge ist sie viel auf Reisen. Sie wohnt in Hotels und unterhält sich mit Anzugträgern über Anzugthemen. Ihre Ehe beschreibt sie mit Floskeln à la: Es gab mal gute, mal schlechte Jahre. Besonders die letzten Monate mit Richard stellten sie vor Rätsel. Ihr Mann war verschwiegener geworden, seine nächtlichen Spaziergänge wollte er nicht kommentieren.
Breit angelegte Polit- und Staatskritik
Vor diesem Hintergrund wirkt das insulare Setting wie eine Befreiung: Clare genießt das Klima, flaniert durch die Stadt und lernt Regisseure kennen, die als Karikaturen intellektueller Kosmopoliten daherkommen. Mit ihnen unterhält sie sich über die Suizidrate in Havanna sowie über regimekritische Filme, die vom Festival ausgeschlossen wurden.
Kuba wird in "Das dritte Hotel" glücklicherweise nicht zur romanesken Kulisse degradiert, in der es von Oldtimern und armen, aber glücklichen Menschen wimmelt. Eine breit angelegte Polit- und Staatskritik legt van den Berg ebenso wenig vor; das ist aber auch nicht das Ziel des Romans, der sich vor allem anderen auf seine ungeschickt trauernde Protagonistin fokussiert.
Später reist Clare nach Cienfuegos, immerzu ihrem vermeintlich nicht toten, vielleicht auch untoten Ehemann auf der Spur. Auch die Sorge um ihren demenzkranken Vater kann sie nicht ablegen. Sie wisse nicht, "wie sie im Rahmen ihres Lebens trauern" solle, sagt Clare an einer Stelle.
Der Ballast des Hintergrunds
In seinen stärksten Passagen brilliert der Roman darin, dieses Unwissen zur Darstellung zu bringen. Seine Hauptfigur legt eine melancholische Selbstironie an den Tag und verleiht ihrem Leid auf raffinierte, auch witzige Weise Ausdruck:
"Nach Richards Tod fantasierte Clare über Mittel und Wege, nur noch in Flugzeugen zu leben. Jahrelang hatte sie geglaubt, den schmerzlichsten Teilen des Lebens entkommen zu können, wenn sie einfach nur immer in Bewegung blieb; inzwischen war sie dem genauso bedenklichen Glauben verfallen, die Bewegung könnte sie wenigstens vor dem schmerzlichsten Teil der schmerzlichsten Teile schützen."
Zugleich schleppt der Roman den Ballast etlicher Hintergrundlektüren mit sich herum. In einem Register erwähnt die Autorin Aufsätze und Bücher zu Tourismus, Zombie-Filmen, Frauen als Reisenden und anderen Sujets, mit denen sie sich beschäftigt hat. An sich stellt diese Unterfütterung kein Problem dar.
Eine begnadete Erzählerin
Aber die Umtriebigkeit führt zu einer Aufhäufung von Motiven, Thesen und Einschüben, die im Text immer wieder als Schwere oder Ausschweifung auffällig werden. Mit einer Uni-Professorin muss sich Clare etwa ausgiebig und reichlich konfus über Quantenphysik und ein Leben nach dem Tod unterhalten.
So kränkelt "Das dritte Hotel" trotz seiner geistreichen Schnelle vor allem in der zweiten Hälfte an einem selbstauferlegten Problem: Einerseits sollen viele Thematiken in die Handlung eingebettet werden, vom feministischen Aspekt des Flanierens bis hin zu Sexualität im amerikanischen Film; andererseits müssen Aspekte von Clares Privatleben ständig verdunkelt werden, damit die Hauptfigur in ihrem Flow bleibt.
Diese Gleichzeitigkeit von Zeigen und Verbergen, von konstruiertem Erwähnen und konstruiertem Verschweigen kann dann selbst eine so begnadete Erzählerin wie Laura van den Berg nicht ganz über die Distanz retten.
Laura van den Berg: "Das dritte Hotel"
Aus dem Englischen von Sabine Schwenk
Penguin Verlag, München. 240 Seiten, 22 Euro.