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Lausitz
Kohleausstieg gegen Infrastruktur

Ob Schienen, Bahnen oder Brücken – die Infrastruktur in der Lausitz ist in einem desolaten Zustand. Nun soll ausgerechnet das Aus für die Braunkohle der Region Abhilfe leisten. Ein Sofortprogramm für den Strukturwandel in den vom Kohleausstieg betroffenen Regionen soll mit Milliarden helfen.

Von Sylvia Belka-Lorenz und Vanja Budde | 18.05.2019
Ein Eimerkettenbagger steht im Braunkohletagebau Jänschwalde.
In Lausitz war die Braunkohleindustrie seit mehr als 100 Jahren der wichtigste Arbeitgeber (dpa-Zentralbild / ZB / Patrick Pleul)
Ein nasskalter Morgen im Hauptbahnhof von Cottbus, der Metropole der Lausitz und zweitgrößten Stadt Brandenburgs: Der Bahnsteig am Gleis 5 ist wenige Minuten vor 7 Uhr bereits unübersichtlich voll: Hunderte Menschen sind unterwegs zur Arbeit. Ihr Zug trifft jetzt, im Berufsverkehr, bereits mit fünf, sechs Minuten Verspätung ein. Um 07:07 Uhr fährt er schließlich ab.
Für tausende Pendler führt der Schienenweg aus der größten Stadt im Süden Brandenburgs Richtung Berlin und zurück über den Spreewald. Die tägliche Verspätung scheint unabänderlich, denn ein 30 Kilometer langer Abschnitt zwischen Cottbus und Lübbenau ist seit Jahrzehnten nur eingleisig befahrbar. Das zweite Gleis wurde 1948 abgebaut und ging als Reparationsleistung in die Sowjetunion. Bis heute müssen darum, wenn ein Zug entgegen kommt, die Regionalbahnen der ODEG an Ausweichstellen stoppen und warten.
"Das ist gang und gäbe", sagt ein Reisender. Ein anderer: "Verspätungen sind schon öfters, stellenweise bis zu 20, 25 Minuten. Das stört dann schon, das nervt, wenn man dann 20, 25 Minuten länger in Lübbenau am Bahnhof stehen muss."
Doch nun gibt es Hoffnung
Brandenburgs SPD-Ministerpräsidenten Dietmar Woidke ist sauer: "Dass wir als Land mittlerweile fast 30 Jahre dafür kämpfen, ein Gleis wieder zu kriegen, das Ende der vierziger Jahre als Reparation abgebaut worden ist, das ist eigentlich eine Schande für die Bundesrepublik Deutschland."
Doch nun gibt es Hoffnung: Als Beihilfe für den Strukturwandel sollen auf Vorschlag der Kohle-Kommission in den kommenden Jahrzehnten 40 Milliarden Euro Beihilfen in die Reviere fließen. Ganz oben auf der Projekt-Liste der Staatskanzlei in Potsdam steht der zweigleisige Ausbau der Bahnstrecke Cottbus-Lübbenau.
"Wir wollen es in den kommenden Jahren schaffen, ab Cottbus Hauptbahnhof drei Züge pro Stunde aus Berlin und nach Berlin fahren zu lassen. Und deswegen ist es für mich ein ganz zentrales Vorhaben", sagt Woidke.
Das erste Soforthilfeprogramm des Bundes für die betroffenen Regionen beläuft sich über 260 Millionen Euro. Auf die Brandenburger Lausitz entfallen davon etwa 80 Millionen. Geld, das die strukturschwache Region gut gebrauchen kann:
"Ja, das sind ja nicht nur die Bahnlinien, das sind ja die Straßen, das sind ja die Brücken, hier ist ja alles marode! Also, die müssen ja wirklich fast bei Null anfangen."
"Viele Möglichkeiten, aber im Moment ist es eine Katastrophe"
Sybille Tetsch und ihr Mann Alexander führen in Proschim am Rand des Tagebaues Welzow ein kleines Restaurant, das "Schmeckerlein". Eine mutige Gründung, denn noch ist nicht klar, ob das Dorf nicht doch noch abgebaggert wird. Das will der Betreiber LEAG erst kommendes Jahr endgültig entscheiden. Die Gelder für den Strukturwandel böten nun große Chancen, sagt Alexander Tetsch:
"Wo sind die Logistikdienstleister, die hier ihre Hallen haben, ihre Umschlagplätze? Wo ist die Gleisanbindung Richtung Osten? Sie können ja nicht mal mehr mit dem Zug geregelt in Richtung Polen durchfahren. Und ja, ich sehe da viele, viele Möglichkeiten, aber im Moment ist es eine Katastrophe."
Annalena Baerbock, die Bundesvorsitzende der Grünen, die ihren Wahlkreis in Brandenburg hat, wirft der rot-roten Landesregierung Versagen vor: Statt den Strukturwandel und den Ausbau der Infrastruktur längst anzupacken, habe Regierungschef Woidke vor dem absehbaren Ende der Braunkohle die Augen verschlossen:
"Man hätte frühzeitig insbesondere für den Ausbau dieses Schienennetzes sorgen müssen, damit eben Beschäftigte in der Region auch wirklich bleiben, die nicht nur in der Kohle beschäftigt sind. Und all das wurde von dieser Landesregierung in den letzten Jahren eben nicht proaktiv angegangen, sondern man hat immer gesagt: Man will nicht über den Kohleausstieg reden."
Im Regionalexpress 2 von Cottbus nach Berlin haben einige Passagiere ihre Laptops herausgeholt, andere lesen, manche dösen. Doch spätestens ab Königs Wusterhausen ist es vorbei mit der Gemütlichkeit: Auf den letzten Kilometern vor Berlin werden die Waggons knallvoll. Holger Kelch, Oberbürgermeister von Cottbus, fordert darum:
"Dieses Gleis muss zweigleisig ausgebaut werden. Es müssen vor allen Dingen auch einige Bahnhöfe ausgebaut werden, weil die Züge, die derzeit verkehren, viel zu klein sind. Ich finde es teilweise menschenunwürdig, wie die Menschen dort transportiert werden."
"Vorsprung Ost"
Und neben Sitzplatzmangel droht auch weiteres Ungemach:
"Die ICEs haben immer Vorrang, das ging mir auch schon mal, da standen wir vor Berlin bald eine halbe Stunde und haben auf einen ICE gewartet. Die dürfen immer vorher einfahren."
Warten, weil andere Vorfahrt haben: Birgit Zuchold, Bürgermeisterin der Tagebaugemeinde Welzow, kennt das Gefühl:
"Sicherlich spielt der Ausbau der Infrastruktur eine entscheidende Rolle. Da ist aus meiner Sicht die Lausitz mit der Infrastruktur auch immer hinten angestellt worden. Wer oft genug nach Bayern fährt, der sieht, wie dort gebaut wird. Wir müssen hier um jede kleine Straße um ein Vielfaches mehr kämpfen und da fühlt man sich schon, ehrlich gesagt, ein Stück weit zurückgesetzt."
Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke schlägt in die gleiche Kerbe: Der zweigleisige Ausbau nach Cottbus sei im Bundesverkehrswegeplan zuletzt wieder nicht aufgenommen worden, weil in den entscheidenden Gremien nicht genug Ostdeutsche sitzen, so seine These. Dreieinhalb Monate vor der Landtagswahl am 1. September in Brandenburg fordert SPD-Politiker Woidke darum einen "Vorsprung Ost":
"Einen technologischen Vorsprung, aus dem heraus wieder Wirtschaftswachstum entstehen kann, das muss das Rezept sein für ganz Ostdeutschland. Dass der Bund nach vielen, vielen Jahren sich stärker in die Strukturentwicklung in den Regionen einbringen muss, gerade in den Regionen, die momentan in intensiven Strukturentwicklungsprozessen sind, wie beispielsweise die Braunkohleregionen, das ist eine Forderung, die nicht nur auf den Tisch gehört, sondern die auch vom Bund ernst genommen gehört und umgesetzt gehört. Und dieser Aufholprozess ist bei aller guter Entwicklung in den letzten Jahren zwischen Ost und West ja nicht mehr vorangekommen."