Mittwoch, 08. Mai 2024

Archiv

Leben in der DDR
Gehen oder bleiben?

Trotz aller Aufarbeitung scheint ein Thema der DDR-Geschichte bislang wenig erforscht und führt nach wie vor zu Diskussionen: Die Flucht und Ausreise aus der DDR in den Westen und ihre Rolle beim Umbruch des Systems. Sachlich ging es zu beim Auftakt des zweiten Teils der Veranstaltungsreihe "Erinnerungsort DDR".

Von Isabel Fannrich | 16.04.2015
    Für Günter Jeschonnek kam die Aufforderung, im Dezember 1987 aus der DDR ausreisen zu müssen, plötzlich:
    "Es waren dann drei Stunden. Zwei Koffer, zwei Autos, zur Behörde, dort zuzugucken, wie man durchgestrichen wird mit einem dicken schwarzen Filzstift, dass man nicht mehr da ist. Dann die Ausbürgerungspapiere bekommen, dass man kein Staatsbürger mehr der DDR ist. Und dann mit den beiden Autos zum Tränenpalast gefahren. War ja eigentlich luxuriös. Wir können ja eigentlich dankbar sein, wir sind nicht im Knast gewesen."
    Flucht aus der DDR
    Fast drei Millionen Menschen sind zwischen Mauerbau und Mauerfall aus der DDR geflohen, ausgereist oder wurden des Landes verwiesen. Wie unterschiedlich ihre Motive waren, daran erinnert die Podiumsdiskussion, zu der die Bundesstiftung Aufarbeitung mit der Deutschen Gesellschaft und dem Berliner Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen eingeladen hatte.
    Der Agraringenieur und Regisseur Günter Jeschonnek hatte den Ausreiseantrag gestellt, weil er seine Tochter nicht in der DDR einschulen wollte. Inspiriert von der Schlussakte von Helsinki aus dem Jahr ´75 tat er sich mit Freunden zusammen. Für sie galt der Ausreiseantrag als politischer Akt.
    "Wir machen das nicht privat im Geheimen, sondern wir bieten dem SED-Regime die Stirn mit dem Risiko natürlich, eventuell verhaftet zu werden. Haben andere auch dann ermutigt, auch in anderen Städten, das genauso zu tun, sich als Bürger zu begreifen und nicht als Bittsteller. Sondern das als Forderung zu formulieren, dass man dorthin gehen kann und darf, wohin man gehen möchte."
    Nur punktuell erforscht
    Wissenschaftlich erforscht ist das Thema Ausreise aus der DDR nur punktuell. So hat sich im vergangenen Jahr eine Studie dem DDR-Kreis Halberstadt gewidmet und die Motive, der von dort stammenden Ausreiseantragsteller erforscht.
    Rainer Eckert, Direktor des Zeitgeschichtlichen Forums in Leipzig, fordert, in der Diskussion darüber, warum jemand die SED-Diktatur verließ oder blieb, stärker die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen zu berücksichtigen: Dass es Oppositionelle ebenso gab wie Angepasste und überzeugte Systemträger. Aber auch im individuellen Lebenslauf selbst fänden sich häufig Brüche, stellt der Professor für politische Wissenschaften fest:
    "Wir müssen davon wegkommen, Einzelpersonen auch der oppositionellen Zeitgeschichte als monolithische Subjekte zu begreifen. Viele waren in sich zutiefst gespalten. Das Spektrum ging vom Träger der Diktatur zu ihrem Gegner. Robert Havemann ist ein Beispiel. Oder Schwanken zwischen Anpassung und konsequenter Verweigerung, wie Roland Jahn in seiner Autobiografie sich selbst beschreibt. Ich plädiere hier also wiederum für eine differenziertere Herangehensweise."
    Wie es den Kindern von Flüchtlingen und Ausreisern ging, wurde bislang wenig beachtet. Susanne Schädlich erlebte 1977 als Zwölfjährige, dass ihre Familie innerhalb von fünf Tagen das Land verlassen musste. Ihr Vater, der Schriftsteller Hans-Joachim Schädlich, durfte in der DDR nicht veröffentlichen. Nach seinem Protest gegen die Biermann-Ausbürgerung war er aus der Akademie der Wissenschaften der DDR entlassen worden.
    "Das sind ganz andere Themen für Kinder wichtig, als für die Erwachsenen, die diese Entscheidung fällen. Also bei mir stand die Frage im Raum: Was passiert mit meiner Katze? (...) Was ist mit den Schulfreunden? Dass das aber ein Endpunkt war, das war mir schon klar. Es war ein Trauma, dieser Grenzübertritt oder auch dieser Wechsel von Ost nach West, für uns Kinder und für die Erwachsenen auch."
    Glaube an Reformierbarkeit
    Wer war im Recht: Diejenigen, die möglicherweise wegen wirtschaftlicher und beruflicher Interessen, aus familiären oder politischen Gründen alles hinter sich ließen und in den Westen gingen? Oder diejenigen, die in der DDR blieben und - wie Rainer Eckert von sich erzählt, bis zuletzt an deren Reformierbarkeit glaubten?
    Dr. Werner Krätschell hat als Pfarrer vor dem Mauerfall den Pankower Friedenskreis in seiner Kirche unterstützt. Er fordert einen weniger rechthaberischen Dialog.
    "Wer war mutiger? Sind die feige gewesen oder Verräter? Diese ganzen Einteilungen und Wertungen sind alles Quatsch. Wichtig ist, und das ist glaube ich in den Pfarrhäusern und in der Seelsorge stark praktiziert worden, dass man eher ein Helfer gewesen ist, wenn die Entscheidung nicht feststand, und dann diese Entscheidung mitzutragen, egal ob er hier bleibt oder rüber geht. Die Mündigkeit des Einzelnen ist entscheidend."
    Überraschenderweise debattieren Experten und Beteiligte nach wie vor, welche Auswirkungen der Massenexodus hatte - und inwiefern er dazu beitrug, dass die SED-Herrschaft kollabierte. Rainer Eckert kritisiert die bisherige Analyse als oberflächlich.
    "Ob die insgesamt ca. 3,8 Millionen Flüchtlinge und Ausreiser zur DDR-Opposition zu zählen sind, und ob sie die Diktatur stabilisierten oder gerade im Gegenteil destabilisierten: Hier sind sich die Zeitzeugen nach 25 Jahren der Diskussion genauso wenig einig wie die Historiker. Grob ist jedoch festzustellen, dass in der Regel, diejenigen, die gingen, sich oft als die konsequentesten Vertreter der Opposition betrachteten, dagegen diejenigen, die blieben, ihnen das Weggehen vorhielten. Gerade hier in Berlin in bestimmten Kreisen bis zum Vorwurf des Verrats."
    Oberflächliche Analyse
    Dass die massenhafte Ausreise und Flucht insbesondere der letzten Jahre die DDR nachhaltig geschwächt hat, ist offensichtlich. Ihre Wirkung auf die Oppositionsbewegung sei allerdings paradox gewesen, stellt der Historiker fest. In Leipzig etwa sei der Protest immer mutiger geworden, weil eine Chance auf Ausreise in die Bundesrepublik bestand. Gleichzeitig unterhöhlte gegenseitiges Misstrauen die Bürgerbewegung: Machte jemand nur deshalb mit, um schneller in den Westen zu gelangen? Und wer geht als nächster, lautete die bange Frage. Über das bittere Gefühl des Verlassenseins werde bis heute zu wenig gesprochen, sagt Eckert.
    "Aus meinem Freundeskreis haben etwa 100 Menschen die DDR verlassen. Von diesen 100 hat sich so gut wie niemand wieder gemeldet. Und wenn sich jemand gemeldet hat dann, war das immer eine typische Meldung: Man lehnte an einem schönen großen Auto auf Mallorca: Schöne Grüße aus Mallorca, ich bin endlich in der Freiheit. Und danach war davon nichts mehr zu hören."
    Dass die Ankunft im Westen häufig nicht einfach war, beleuchten neuere Studien und Ausstellungen von Gedenkorten wie dem Notaufnahmelager Marienfelde. Die Schriftstellerin Susanne Schädlich über ihre eigene Erfahrung:
    "Es war eigentlich im Grunde so, dass man zwar Deutsch sprach, aber doch eine andere Sprache. Und für uns war es ja auch so, anders als es für die vielen ´89 war, wir kamen zu viert nach Hamburg. Auch noch Hamburg, also eine der westlichsten Städte, sehr reich. Und wir fühlten uns irgendwie minderbemittelt als DDR-Bürger. Der erste Satz, der uns entgegenkam in Wewelsfleth war: Leute aus der DDR riechen anders."