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Gesellschaft
Ungleichheit muss nicht gleichbedeutend mit Ungerechtigkeit sein

Viele beklagen einen Mangel an sozialer Gerechtigkeit: Die Schere zwischen den Bevölkerungsschichten scheint immer weiter auseinander zu gehen. Richtig verlässliche Zahlen dazu gibt es jedoch nicht. Aber ab wann wird die Ungleichheit ungerecht? Forscher geben verschiedene Antworten auf diese Frage.

Von Ingeborg Breuer | 14.02.2019
    Ein kleiner Junge in einem großen Spielzeugauto in einem Garten. Daneben ein anderer kleiner Junge mit einem kleinen Spielzeugauto auf einer Betonbank.
    Welche Einkommensunterschiede sind gerecht? Haben alle die gleichen Chancen in unserer Gesellschaft? (EyeEm/timkirman / Ox akbal)
    "Es gibt Studien, wo Menschen befragt werden, was denken Sie, wie sieht die Einkommensverteilung in Ihrem Land aus? Und wenn man die Leute fragt, ist das Ergebnis so eine Art Pyramide der Einkommensverteilung. Also eine sehr breite Basis unten, sehr viele arme Menschen. Und dann wird es nach oben immer weniger und nur sehr wenige sind ganz oben."
    Die Reichen werden immer reicher, die Armen immer ärmer. Die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander. Kaum ein Bundesbürger würde solche Aussagen infrage stellen. Nicht immer allerdings deckt sich die empfundene Schieflage mit der Realität. Eine Pyramide in der Einkommensverteilung, wie viele Deutsche annehmen, gibt es jedenfalls nicht. Professor Andreas Peichl, Volkswirtschaftler am Münchener Ifo-Institut:
    "Überhaupt keine Pyramide, sondern eher ein Kreisel. Deutlich weniger Menschen ganz unten, mehr in der Mitte und auch am oberen Ende der Einkommensverteilung deutlich weniger Menschen. Aber es ist tatsächlich so, dass viele Menschen denken, dass es viel ungleicher ist in Deutschland als es tatsächlich ist."
    Unterschiedliche Methoden - unterschiedliche Ergebnisse
    Es ist ein vertracktes und durchaus umstrittenes Ding mit der Ungleichheit. Komplizierter als oft in der öffentlichen Meinung vertreten. Vergleicht man Bruttolöhne, ist die Ungleichheit höher als bei Netto-Löhnen. Auf die Gesamtbevölkerung bezogen fällt sie, stagniert dagegen, wenn man nur Erwerbstätige miteinander vergleicht. Zudem diskutieren Forscher darüber, ab wann Ungleichheit ungerecht wird. Und welche Auswirkungen sie auf die Gesellschaft hat. Für alle steht allerdings fest:
    "Zwischen 1999 und 2005 sieht man einen extrem starken Anstieg der ökonomischen Ungleichheit in Deutschland", so Olaf Groh Samberg, Professor für Soziologie und Ungleichheitsforscher an der Uni Bremen. Die Gründe für die gewachsene Ungleichheit sind vielfältig. Die Löhne der Gut-Qualifizierten stiegen, zugleich wurde der Niedriglohnsektor ausgebaut. Die Spitzensteuersätze wurden gesenkt. Hinzu kamen ökonomische Ungleichheiten zwischen Ost- und Westdeutschland. Und durch die Zunahme von Single- und Alleinerziehenden-Haushalten können prekäre Lebensverhältnisse weniger als früher durch einen gutverdienenden Partner abgepuffert werden. Allerdings ist seit über zehn Jahren die Ungleichheit kaum mehr gestiegen, aber auch kaum zurück gegangen.
    "In den letzten 12, 13 Jahren, seit 2005 ist es halbwegs stabil geblieben."
    Vermögensungleichheit besonders hoch
    In der Netto-Einkommensungleichheit liegt Deutschland knapp unter dem EU-Durchschnitt. Dagegen ist die Vermögensungleichheit in fast keinem anderen Land der Euro-Zone so hoch wie hier. Warum das so ist, mag allerdings manchen überraschen. Professor Christian Bayer, Wirtschaftswissenschaftler an der Uni Bonn:
    "Wenn man zum Beispiel Europa anschaut, dann ist es auf den ersten Blick vielleicht etwas überraschend, dass die höchste Vermögensungleichheit im so gleichen Schweden ist. Die Vermögensungleichheit in Schweden ist deutlich höher als in Großbritannien, was innerhalb der EU als relativ ungleiches Land gilt. Und dazu haben wir hier im Haus auch eine Studie gemacht."
    Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass die Unterschiede in der Vermögensungleichheit zu immerhin 40 Prozent mit der unterschiedlichen sozialen Grundsicherung in der Euro-Zone zusammenhängen.
    "Wenn man sich Südeuropa ansieht, Griechenland, Italien, Spanien, dann haben wir dort, grob gesprochen, gar keine soziale Grundsicherung. … Die Notwendigkeit, Vermögen zu bilden, ist natürlich in einem Land, wo mir ganz Schlimmes passieren kann, wenn ich kein Einkommen habe, viel größer als in einem Land, wo die allerschlimmsten Härten verhindert werden. … Auch ein relativ armer Arbeitnehmer in Griechenland wird halt versuchen zu sparen, während in Deutschland die Notwendigkeit nicht so stark da ist, weil er schlimmstenfalls über den Staat abgesichert ist. Und das wiederum über die Zeit führt zu einer ganz anderen Vermögensverteilung, weil dann auch aus ärmeren Familien mehr ererbt wird."
    Weit auseinander klaffende Einkommen und Vermögen widersprechen in der Regel dem natürlichen Gerechtigkeitsempfinden. Aber sind Ungleichheiten per se schlecht für eine Gesellschaft? Ab wann werden sie zum Problem und mit welchen Folgen?
    "Ökonomen würden sagen, wir brauchen ein gewisses Maß an Ungleichheit, weil das eben Anreize für wirtschaftlichen Wettbewerb schafft. Wenn wir einen Einheitslohn hätten, in allen Berufen, dann gibt’s auch wenig Anreiz in bestimmte Berufe zu gehen. Und, da wo viel geleistet wird, braucht es auch höhere Löhne und höhere Anreize."
    Andreas Peichl vom Münchener Ifo-Institut differenziert: "Ungleichheit ist nicht immer schädlich, Ungerechtigkeit ist schädlich. Die Frage ist also, ob Ungleichheit auch gleichbedeutend mit Ungerechtigkeit ist?"
    Wann wird Ungleichheit ungerecht?
    Wann aber wird die Tatsache, dass nicht jeder das Gleiche bekommt, ungerecht? Für viele ist das eher eine philosophische Frage als eine für Ökonomen. Christian Bayer:
    "Wir haben auf der Welt ganz unterschiedliche Niveaus an Ungleichheit, Ungleichheit in Einkommen, in Vermögen. Aber ich finde es ist schwierig, aus einer wissenschaftlichen Perspektive heraus zu sagen, ab da entsteht ein Problem. Vielleicht werden bestimmte Dinge kontinuierlich schlechter, wenn die Ungleichheit zunimmt, andere Dinge mögen besser werden, wenn Ungleichheit zunimmt. Aber zu sagen, das ist der Punkt, wo es problematisch wird, das ist schwierig."
    Der Philosoph John Rawls versuchte in den 70er-Jahren des vorigen Jahrhunderts zu bestimmen, wann wirtschaftliche Ungleichheit in Ungerechtigkeit umschlägt. Möglicherweise, meinte er, sei Ungleichheit unvermeidbar, allerdings müsse sie dann, so wörtlich "den am wenigsten Begünstigten die bestmöglichen Aussichten bringen".
    Olaf Groh Samberg: "Also das ist das berühmte Rawls-Kriterium, dass auch diejenigen, denen es am schlechtesten geht, solange die noch profitieren, sind wachsende Ungleichheiten kein Problem. Das ist heute nicht mehr der Fall. Bei den unteren zehn Prozent ist das Realeinkommen sogar gesunken. Dann gibt es die Argumentation, Ungleichheiten können dann gerecht sein, wenn sie leistungsgerecht sind. Wenn wir eine Wettbewerblichkeit haben und dieser Wettbewerb fair ist, dann haben wir vielleicht eine höhere Ungleichheit, aber die ist legitim, weil jeder die Chance nach oben zu kommen hat. Das hieße, bei höherer Ungleichheit müssten wir auch höhere Mobilität sehen, das sehen wir nicht. Das heißt, die, die oben sind, steigen seltener ab, die die unten sind, steigen seltener auf als das früher der Fall war."
    Andreas Peichl und seine Mitarbeiter wiederum haben versucht, die Ungerechtigkeit von Ungleichheit zu messen. Dazu bestimmten sie zunächst einmal drei Kriterien für Gerechtigkeit:
    "Das eine ist das der Chancengerechtigkeit. Da geht es darum, dass jemand, der die gleiche Leistung erbringt, auch entsprechend entlohnt werden muss, und zwar unabhängig von der Herkunft. Und es muss eine Armutsgrenze geben. Wo wir sagen, wir wollen nicht, dass jemand unterhalb dieses Existenzminimums liegt. Und genau so kann man sagen, am oberen Ende der Verteilung. Irgendwo ist es nicht mehr gerechtfertigt, dass jemand sehr hohe Einkommen verdient. Warum sollte das noch gerecht sein an einem Punkt?
    Das Ergebnis mag für viele überraschend sein: Nur 17,6 Prozent der gesamten Einkommensungleichheit in Deutschland basierten, so die Ifo-Forscher, auf Ungerechtigkeit.
    Mangelnde Chanchenrechtigkeit ist das eigentliche Problem
    "Im Großen und Ganzen kommt da raus, dass wir in Deutschland im oberen Mittelfeld liegen, was die Gerechtigkeit angeht. Es gibt Länder in Europa, die schneiden besser ab, das sind vor allem skandinavische Länder, aber auch die Niederlande. Und es gibt andere Länder, die sind ähnlich wie Deutschland, dazu gehört auch Österreich. Aber es gibt auch Länder, die schlechter abschneiden, vor allem in Osteuropa, auch in Südeuropa, zum Beispiel Italien, wo sehr viel davon abhängt, wo man geboren ist, im Norden oder Süden und die familiären Beziehungen eine große Rolle spielen."
    Nicht in der Einkommensverteilung sehen die Wissenschaftler des Ifo-Instituts die Gerechtigkeitslücke in Deutschland, sondern vielmehr in der Chancengerechtigkeit. Stärker als in anderen Ländern hänge der Schulerfolg vom sozioökonomischen Hintergrund und vom Bildungsstand der Eltern ab. Hier sei Verbesserungsbedarf geboten.
    "In Deutschland haben wir ne große Ungerechtigkeit im Bildungssystem, weil das Elternhaus sehr starken Einfluss darauf hat, wer aufs Gymnasium geht, wer studiert und einen Abschluss macht. Wir haben jetzt mittlerweile ein Anrecht auf eine frühkindliche Betreuung, aber richtig Bildung, also Lehrer für unter Dreijährige sehe ich in Deutschland nicht. Und dazu kommt noch, dass in vielen Städten die Kitas für unter Dreijährige richtig viel Geld kosten. Wir machen kostenlose Hochschulbildung, stellen aber sicher, dass wir den Kita-Zugang nur den Leuten gewähren, die es sich leisten können. Und das sind letztlich gut verdienende Akademiker. Und das die Kinder aus anderen Schichten gar nicht erst auf die Uni kommen."
    Wahrnehmung von Forschern und Bevölkerung unterschiedlich
    Während die Forscher von Ifo-Institut unfaire Ungleichheit in Deutschland eher moderat einschätzen, ist die deutsche Bevölkerung anderer Meinung. Der Direktor des Sozioökonomischen Panels am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, Professor Stefan Liebig und seine Mitarbeiterin Jule Adriaans haben dazu in einer repräsentativen Studie die Gerechtigkeitswahrnehmung verschiedener Einkommensniveaus untersucht. Managerspitzengehälter waren ausgenommen.
    "Was wir beobachten ist, dass tatsächlich die unteren Einkommen von einer sehr großen Mehrheit der Bevölkerung als ungerecht wahrgenommen werden, als zu niedrig. Interessanterweise ist diese Einschätzung bei den oberen Einkommen nicht in dem Maße. Das heißt zwei Drittel der Befragten glauben, dass Einkommen im oberen Einkommensbereich durchaus gerecht sind."
    Das Bemerkenswerte an den Ergebnissen ist, dass nahezu alle Befragten der Studie die unteren Einkommen als ungerecht niedrig ansehen, jedoch zwei Drittel bis drei Viertel der Befragten ihr eigenes Einkommen für gerecht halten. Ist es also möglicherweise eher eine "gefühlte" Ungerechtigkeit, die die Deutschen hier artikulieren?
    "Also wenn drei Viertel der Bevölkerung sagen, diese Ungleichheit ist mir zu hoch und ein Ökonom sagt, ich hab aber ausgerechnet, das ist aber gar nicht so schlimm, wer entscheidet dann? Und ich denke, das ist eine grundlegend demokratische Frage, wie viel Ungleichheit wollen wir, in was für einer Gesellschaft wollen wir leben?"
    Wenn Menschen eine Gesellschaft als ungerecht empfinden, so Olaf Groh Samberg, habe das durchaus fatale Konsequenzen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt:
    "Wir haben die Armut, die sich verfestigt, es gibt wenig Mobilität aus der Armut heraus, die Lebenschancen derer, die unten stehen, haben sich verschlechtert. Und wir sehen, wie stark die Wahlbeteiligung in den unteren Schichten zurückgegangen ist, wie ungleich die politische Partizipation geworden ist, weil auch bestimmt soziale Gruppen von etablierten Parteien, die sich Volksparteien nennen, nicht mehr richtig repräsentiert werden. Und in solche Lücken können dann andere Parteien hineinstoßen."
    Neue gesellschaftliche Trennlinien?
    Doch ob die politische Spaltung, die in den letzten Jahren in Deutschland zu verzeichnen ist, wirklich sozioökonomische oder eher soziokulturelle Gründe hat, wird kontrovers diskutiert. Verlaufen die gesellschaftlichen Trennlinien zwischen Arm und Reich oder mittlerweile eher zwischen jenen, die die gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse mit all ihren Unübersichtlichkeiten bejahen und jenen, die zu den Moderneskeptikern gehören?
    "Das wird in der vergleichenden Politikwissenschaft auch schon länger so diskutiert, dass gesellschaftliche Konflikte nicht nur entlang einer Achse arm und reich oder oben und unten verlaufen. Sondern es gibt eine zweite ganz zentrale Achse in modernen Gesellschaften und manche benennen die so, die zwischen Kosmopoliten und Kommunitariern, also zwischen denen, die für eine maximal offene Gesellschaft sind, für Offenheit gegenüber Außengrenzen sind. Und auf der anderen Seite eine Gruppe von Leuten, für die so was wie Heimat, Gemeinschaft, ein Wir-Gefühl, eine homogene Identität wichtig ist. Und die deswegen sagen, wir wollen sichere Außengrenzen, keine Migration, wir wollen keine Homo-Ehe.
    Allerdings weist Olaf Groh Samberg darauf hin, dass es oft einen Zusammenhang zwischen ökonomischer Stellung und kultureller Präferenz gibt. Die sogenannten "Kommunitarier", die die kultureller Homogenität der Gesellschaft bejahen, sind eher in den unteren bis mittleren Schichten zu finden als in jenen mit einem hohen sozioökonomischen Status. Mit der Folge:
    "Wir sehen wie diese beiden Achsen letztlich zu einer diagonalen Konfliktachse werden zwischen einerseits sehr modernen, liberal eingestellten Milieus. Und auf der anderen Seite ein Pol, den man als die Globalisierungsverlierer bezeichnen kann, weil sie sowohl ökonomisch wie auch kulturell zu diesen Verlierern zählen."
    Diesen Zusammenhang bestreitet auch der Leipziger Soziologe Holger Lengfeld nicht. Allerdings kommt er zu dem Ergebnis, dass man die kulturelle Spaltung der Gesellschaft deshalb nicht kleinreden dürfe. Seine empirischen Befunde wiesen nämlich darauf hin, dass man die den rechtspopulistischen Parteien nahestehenden "Kommunitarier" nicht mit rein verteilungspolitischen Angeboten – spricht: weniger Ungleichheit - davon überzeugen könne, ihre populistischen Neigungen aufzugeben. Sondern wohl nur über eine restriktivere Haltung im Umgang mit der Flüchtlingszuwanderung.