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Leïla Slimani: "Das Land der Anderen"
Fugenlose Herkunftsscham

Verachtung schlägt dem jungen Paar entgegen - sie Französin, er Marokkaner und einen guten Kopf kleiner als sie. Im Kampf um die Unabhängigkeit Marokkos Mitte der 50er geraten Mathilde und Amine zwischen die Fronten. Leïla Slimani widmet ihren Großeltern den ersten Teil ihrer Familientrilogie.

Von Nora Karches | 08.06.2021
Leïla Slimani: "Das Land der Anderen" Zu sehen sind die Autorin und das Buchcover
Die französisch-marokkanische Autorin Leïla Slimani wurde 2016 für ihren Roman "Chanson douce" (in der deutschen Übersetzung "Dann schlaf auch Du") mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet. Jetzt erzählt sie ihre Familiengeschichte. (Cover: Luchterhand Verlag / Foto: Catherine Hélie / Editions Gallimard)
Frankreich im März 2020: Leïla Slimanis lang erwarteter dritter Roman erscheint. Plötzlich reden alle über Leïla Slimani, aber nicht über den Roman. Denn als die landesweite Ausgangssperre in Kraft tritt, erscheint ein zweiter Text der Autorin, und es ist dieser zweite Text, über den alle sprechen. In Le Monde, der wichtigsten Zeitung des Landes, veröffentlicht Leïla Slimani den ersten Eintrag ihres Corona-Tagebuchs.
"In dieser Nacht habe ich keinen Schlaf gefunden. Durch das Fenster meines Zimmers betrachtete ich den Sonnenaufgang über den Hügeln, den Raureif auf den Wiesen, die ersten Knospen an den Zweigen des Lindenbaums. Seit dem 13. März bin ich auf dem Land, in dem Haus, in dem ich seit Jahren das Wochenende verbringe."

Pariser Elite mit gebrochener Familiengeschichte

Das Phänomen ist interessant, denn in ihrem Roman "Das Land der Anderen" erzählt Leïla Slimani ihre Familiengeschichte. Sie erzählt, wer sie ist. Doch als ihr Text in Le Monde erscheint, wissen in Frankreich alle Bescheid, wer sie ist: Eine aus der Pariser Elite mit Zweitwohnsitz. Dabei ist die Geschichte, die "Das Land der Anderen" über Leïla Slimani erzählt, eine ganz andere. Es ist eine Geschichte von Verlust und Hilflosigkeit. Der Roman handelt von ihren Großeltern, sie Französin, er Marokkaner, die nach dem Zweiten Weltkrieg nach Marokko gehen und dort bei null anfangen.
"In den Briefen, die sie ihrer Schwester schrieb, log Mathilde. […] Sie beschrieb sich mit Hut und Stiefeln, stolz auf dem Rücken eines arabischen Vollbluthengstes. […] Sie dachte, das würde Irène und ihren Vater Georges mächtig beeindrucken und sie würden sie in ihren Betten oben in dem gutbürgerlichen Haus darum beneiden, dass sie die Langeweile gegen Abenteuer, den Komfort gegen ein Leben wie im Roman eingetauscht hatte."

Kurzes Glück für ein ungleiches Paar

Kennengelernt haben sich Mathilde und Amine kurz vor Kriegsende, als Amine mit seinem Regiment in Mathildes Heimatdorf stationiert ist. Der Krieg, in dem Männer aus Frankreich und den Kolonien Seite an Seite kämpfen, öffnet einen Freiraum, und für kurze Zeit ist die Verbindung der beiden gesellschaftlich akzeptiert. Doch bei ihrer Ankunft in Marokko wird das ungleiche Paar – sie blond, er dunkelhäutig und einen guten Kopf kleiner als sie – mit sozialer Ächtung bestraft. Sowohl durch die französische Kolonialmacht als auch durch die marokkanische Bevölkerung.
"Wie oft hatte sie, wenn sie untergehakt neben ihm ging, die Blicke der Passanten auf sich gespürt? Die Berührung seiner Haut erschien ihr dann brennend, unangenehm, und sie kam nicht umhin, mit einem gewissen Widerwillen zu erkennen, wie anders ihr Mann war. Sie dachte, dass es grenzenloser Liebe bedurfte, mehr Liebe, als sie zu empfinden imstande wäre, um die Verachtung der Leute zu erdulden."

Scham über französisch-marokkanische Herkunft

Ihre Tochter Aïcha wächst auf in Scham über ihre Herkunft. An ihrem Geburtstag lädt sie ihre französischen Mitschülerinnen nur widerwillig auf die abgelegene Farm ihrer Eltern ein.
"'Sag deinem Chauffeur, er soll uns zurückbringen.' – 'Dem Chauffeur?' Mathilde dachte an Amines düstere Miene, daran, wie er die Konditorschachtel auf den Küchentisch geknallt hatte. Diese Kinder hatten ihn für den Chauffeur gehalten, und er hatte ihnen nicht widersprochen. Mathilde begann zu lachen, wollte das Missverständnis gerade aufklären, als Aïcha rief: 'Mama, kann der Chauffeur sie zurückbringen?'"
Als der Kampf um die Unabhängigkeit Marokkos Mitte der 50er Jahre immer blutiger wird, fragt Aïcha ihren Vater: "Aber wir, gehören wir zu den Guten oder den Bösen?" Und Amine antwortet ihr: "'Wir', sagte er, 'sind wie dein Baum, halb Zitrone, halb Orange. Wir gehören zu keiner Seite.' [...] Während er leise auf den Flur trat und die Tür schloss, dachte er, dass die Früchte des Zitrangenbaums ungenießbar waren."

Kolonialistische Denkmuster wirken ins Private

Die französische Literaturkritik reagierte irritiert, als "Das Land der Anderen" erschien, denn als Autorin stand Leïla Slimani bisher für knappe Romane über die Pariser Bourgeoisie. Ihr neuer Roman ist ein historisches Fresko, multiperspektivisch erzählt und auf drei Bände angelegt. Auf den ersten Blick ist "Das Land der Anderen" denkbar weit entfernt von ihrem Welterfolg "Dann schlaf auch du", Leïla Slimanis Roman über die Segregation der sozialen Klassen in Paris. Doch auch in ihrem neuen Buch folgt die Autorin dem schriftstellerischen Auftrag, den sie sich erteilt hat: Leïla Slimani schreibt über Domination. "Das Land der Anderen" erzählt die Denkmuster des Kolonialismus, und der Roman ist dann am eindringlichsten, wenn er zeigt, dass diese Denkmuster selbst in die intimsten menschlichen Beziehungen hineinragen. In einer Szene nimmt ein alter Marokkaner, ein Vertrauter der Familie, Mathilde beiseite, und sagt:
"Wenn ich eines Tages, vor allem nachts, zu dir komme, öffne mir nicht. Auch wenn ich es bin, auch wenn ich dir sage, dass es dringend ist, dass jemand krank ist oder wir Hilfe brauchen, halte deine Tür auf jeden Fall geschlossen. […] Wenn ich komme, dann um dich zu töten. Weil ich schließlich denen geglaubt haben werde, die sagen, dass man Franzosen töten muss, um ins Paradies einzugehen."

Ambivalente Hauptfiguren

Dass er keine politischen Lektionen erteilt, ist die große Stärke des Romans. Es gibt kein Schwarz-Weiß, und das liegt vor allem an der Ambivalenz der Hauptfiguren. Amine kann in Marokko seine patriarchale Geringschätzung gegenüber Frauen nicht ablegen, und Mathilde kann sich nicht lösen aus ihrer Verachtung der Einheimischen: "Sie hasste den Geruch des Hausmädchens, sie ertrug ihr Lachen nicht, ihre Neugier, ihre mangelnde Hygiene. Sie sagte ihr, sie sei dreckig, und schimpfte sie einen Bauerntrampel."
"Ich habe immer das Gefühl, im Land der Anderen zu leben, egal ob ich in Marokko oder in Frankreich bin.", erklärte Leïla Slimani beim Erscheinen ihres Romans. "Das Land der Anderen" ist ein gelungener Text über die verschiedenen Facetten des Nicht-dazu-Gehörens. Amelie Thoma hat ihn hervorragend übersetzt. Bedauerlich ist einzig, dass der Roman auf Deutsch wie auf Französisch fast zu glatt geschrieben ist, zu fugenlos komponiert. Und das ist möglicherweise auch der Grund, weshalb am Ende das Gefühl bleibt, gerade Aïcha, ihrer Scham, ihren Hoffnungen, ihren Enttäuschungen nicht nahe gekommen zu sein. Schade, denn Leïla Slimani hat bereits angekündigt, dass Band 2 der Trilogie die Geschichte ihrer Mutter fortsetzen wird.
Leïla Slimani: "Das Land der Anderen"
Aus dem Französischen von Amelie Thoma, Luchterhand Verlag, München, 384 Seiten, 22 Euro