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Leipziger Aufruf 2019
"Die Gesellschaft muss wieder zusammenfinden"

Aus Sorge um die Demokratie und ihre gesellschaftliche Vielfalt haben sich Leipziger Bürger in einem Bündnis mit einem "Aufruf 2019" formiert. Derzeit laufen die Vorbereitungen für eine Großdemonstration in Leipzig. Die Initiatoren wollen parteiübergreifend einen neuen gesellschaftlichen Diskurs anregen.

Von Alexandra Gerlach | 09.01.2019
    Teilnehmer der Demonstration gegen Rassismus und Rechtsruck mit dem Motto "Unteilbar" gehen im Oktober 2018 auf der Leipziger Straße in Berlin.
    Teilnehmer der Demonstration "Unteilbar" im Oktober in Berlin. Leipzig Bürger wollen sich in ihrer Stadt nun für den Erhalt der Demokratie und ihrer Grundwerte einsetzen. (dpa/ picture alliance/ Christoph Soeder)
    Etwas nervös schaut Christian Wolff auf seine Uhr. Es ist Montagabend und der Pfarrer in Rente weiß nicht, wie viele der Unterstützer tatsächlich zum Vorbereitungstreffen im Leipziger Thomashaus erscheinen werden. Immerhin, das nachbestellte Werbematerial ist da: quietschbunte "Aufruf 2019"-Banner, Anstecker, Aufkleber und Flyer, alles aus Spenden finanziert, liegen auf dem Tisch:
    "Das ist jetzt die Postkarte und hinten auf der Postkarte steht jetzt der Text vom Aufruf 2019, der Gott sei Dank nicht so lang ist, dennoch meine ich, sehr inhaltsreich und ein Text, der sich jetzt nicht so schnell verbraucht."
    Kurz vor 18.00 Uhr wird es lebhaft im holzgetäfelten Besprechungsraum, die Gäste geben sich die Klinke in die Hand, schnell sind alle 20 Plätze am Besprechungstisch besetzt.
    "Herzlich Willkommen, freue mich, dass wir eine große Runde geworden sind."
    Breites Spektrum an Teilnehmern
    Das Spektrum der Teilnehmer ist bunt gemischt, ebenso die Altersklassen. Eingefunden haben sich engagierte Leipziger Bürger, Gewerkschaftsmitarbeiter, Verwaltungsangestellte, eine Schülerin, ein Student, Manager und Leipziger Unternehmer ebenso wie einige aktive und auch pensionierte Pfarrer, wie dieser:
    "Also, was mich an diesem Aufruf 2019 begeistert, oder weswegen ich da gerne mitarbeite, ist erstens, es geht nicht grundsätzlich gegen etwas, sondern es geht um etwas. Was will ich, wofür stehe ich und hier stehen ja die drei Dinge wie weltoffenes Leipzig, demokratisches Sachsen, friedliches Deutschland und geeintes Europa. Das sind ja Grundziele, unter die ich mich jedenfalls gerne stelle und alleine, dazu zu stehen, reicht nicht aus."
    Der ehemalige Pfarrer will aktiv als Ordner bei der Demo mitmachen und hat noch einen Freund mitgebracht, der auch mithelfen will: "Mir gefällt es, dass es nicht von einer Partei ist, dass es über der Partei steht, da fühle ich mich nicht so rüber gezogen und es macht mir Spaß, hier mitzumachen."
    Ähnlich denkt die Jüngste im Raum, Selma Roth, die Vertreterin des Leipziger Schülerrates: "Die Themen sind total spannend und deswegen bin ich hier."
    Reporterfrage: "Ist es Zeit die Demokratie zu verteidigen? Was meinen Sie?"
    "Ich denke schon. Ich finde es auch gerade wichtig, dass Schüler Mitspracherecht haben und da haben wir hier in Leipzig, sind wir ganz gut aufgestellt mit unserem Stadtschülerrat und auch dem Jugendparlament."
    Aufruf 2019: Vorbereitungen für die Großdemonstration in Leipzig
    Aufruf 2019: Vorbereitungen für die Großdemonstration in Leipzig (Deutschlandradio/ Alexandra Gerlach)
    Der Aufruf 2019 hat seinen Ursprung in einer starken Bürgerbewegung, die sich 2014 im Zusammenhang mit der Flüchtlingsdiskussion in Leipzig bildete. Ein großes Netzwerk für ein weltoffenes Leipzig sei daraus entstanden, sagt der Theologe Christian Wolff. Auf dem Höhepunkt der Krise seien 2015 35.000 Menschen in Leipzig auf die Straße gegangen für Weltoffenheit und Toleranz. Daran will der Ende Oktober gegründete "Aufruf 2019" anknüpfen.
    Auf der neuen Homepage werden Unterschriften gesammelt, momentan sind es rund 600 und täglich werden es mehr. Die Initiatoren wollten parteiübergreifend und überkonfessionell einen neuen gesellschaftlichen Diskurs anregen, sagt Versammlungsleiter Christian Wolff:
    "Ein Diskurs braucht auch einen inhaltlichen Input und den geben wir, indem wir sagen, wir treten ein für ein geeintes und friedliches Europa, und für den sozialen Zusammenhalt, für die Integration der Menschen, die jetzt hier bei uns Zuflucht gesucht haben und natürlich auch für die freiheitliche Demokratie."
    "Wir merken jetzt schon, wie vergiftet das Klima ist"
    Ein solcher Aufbruch sei dringend nötig, meint Irena Rudolph-Kokot, die bei Ver.di im Personalrat sitzt und zudem das Aktionsnetzwerk "Leipzig nimmt Platz" vertritt, das bereits im Jahr 2009 mit öffentlichkeitswirksamen Aktionen gegen die damaligen Neonazi-Aufmärsche in Leipzig von sich reden machte: "Also für mich ist das auf jeden Fall wichtig, wir haben jetzt in Sachsen in diesem Jahr Wahlen und wir merken ja jetzt schon, wie vergiftet das Klima ist und das Klima muss sich also wieder bessern aus meiner Sicht, die Gesellschaft muss wieder zusammenfinden."
    Ebenso wie Pfarrer Christian Wolff sieht Irena Rudolph-Kokot ein großes, gefährliches Defizit im gesellschaftlichen Demokratieverständnis. Sie hofft, "dass möglichst viele jetzt endlich sich engagieren, aufstehen und endlich als Demokratinnen und Demokraten ihre Meinung sagen, denn das fehlte irgendwie die letzten Jahre so ein bisschen."
    Der Demonstrationszug am kommenden Montag wird quer durch die Stadt und teilweise über den Ring führen und dabei an mehreren Zwischenstationen halten. Am Goerdeler-Denkmal am Ring, wird der Leipziger Oberbürgermeister Burkhard Jung sprechen. Auf dem Marktplatz werden mehrere Unterstützer des "Aufrufes 2019" zu Wort kommen. Sprechen wird dann auch Matthias Sturm, ein Leipziger Unternehmer, der sich nach der Revolution 1989 selbständig machte und bis dato eher passiv und still die Vorzüge der freiheitlichen Demokratie genoss. Ihn beschäftigt, "dass ich mehr und mehr spürte, dass die Mehrzahl der deutschen Bevölkerung still ist. Ich gehöre da mit dazu."
    Was er, der bislang Stille, dann vor vielen Menschen auf dem Marktplatz sagen wird, weiß er noch nicht konkret, aber: "All das, was wir bei der Revolution 1989 gefühlt und gesagt haben, nämlich für etwas zu sein, und schlussendlich auch für die Demokratie, ist ein wenig aus meiner Sicht auf der Strecke geblieben. Das Wort "für" ist ganz tief in meinem Herzen, denn nur dann kann ein Herz entstehen und kein Hass".