Samstag, 27. April 2024

Fehlende Erfolge
Auf der Suche nach dem Leistungsgedanken im deutschen Sport

Vorrunden-Aus im Fußball, keine Medaillen bei der Leichtathletik-WM in Budapest, immer weniger Medaillen bei Olympischen Spielen – das entfacht nicht nur eine Debatte über das System des deutschen Sports, sondern wirft auch die Frage auf: Welchen Stellenwert hat Leistung in Deutschland noch?

Von Sabine Lerche | 02.09.2023
Ein deutscher Läufer steht bei der Leichtathletik-WM kurz vor dem Start im Block.
Keine Medaillen wegen fehlender Leistungsbereitschaft? Diese Folgerung finden Experten viel zu einfach. (IMAGO / Beautiful Sports / IMAGO / BEAUTIFUL SPORTS / Flatemersch)
Die aus deutscher Sicht medaillenlose Leichtathletik-WM hat eine Debatte wieder einmal stark in den Fokus gerückt: Hat Leistung noch einen Wert in der Gesellschaft? „Also ich glaube, das ist erstmal eine Debatte, die unglaublich pauschal geführt wird“, kritisiert der Gießener Sportsoziologe Michael Mutz.
„Dann muss man auch ehrlicherweise sagen, dass dieser Schluss von einer Leichtathletik-Weltmeisterschaft zur generellen Leistungsbereitschaft in Deutschland ganz schön an den Haaren herbeigezogen ist. Denn kein Mensch könnte sagen, wie das denn jetzt genau zusammenwirken soll.“
Dennoch: Ohne Leistungsbereitschaft komme man grundsätzlich in der Gesellschaft nicht weit, findet der Speerwurf-Olympiasieger von Rio 2016 Thomas Röhler:
„Am Ende geht es darum, Leistung zu bringen. Ob das in der Wirtschaft ist, ob im Leben, auf dem Fußballplatz oder im Sport ist, man muss Leistung bringen. Ich glaube, es ist moralisch sehr schön, wenn sich alle lieb haben auf dem Platz und am Ende jeder glücklich als Sieger nach Hause geht - das ist wunderbar. Aber ich finde, es geht im Sport schon auch ums Gewinnen“, sagte Röhler schon vor einigen Jahren im Deutschlandfunk-Sportgespräch.
„Ich habe es geliebt, wenn gemessen wurde, und ich habe auch geheult, wenn ich nur Vierter war. Aber ich habe das verstanden und es hat mir sehr geholfen, Leistung richtig einzuschätzen und zu respektieren. Wenn am Ende jeder als Sieger nach Hause geht, sehe ich das als gefährlich an.“

Schulsport, Breitensport und Spitzensport werden in der Diskussion vermischt

Genau darum geht es aber in vielen aktuellen Debatten: weniger nominale Leistung zu messen, sondern die Freude und Motivation am Sport zu vermitteln. Daran orientiert sich auch die in diesem Jahr beschlossene Reform der Bundesjugendspiele. Kritiker sehen auch darin ein Zeichen für sinkendes Leistungsdenken in der Gesellschaft.

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„Das ist wirklich eine Scheindebatte, die gerade geführt wird. Und der Höhepunkt dieser Scheindebatte ist es dann noch, wenn da die Bundesjugendspiele als Beispiel herangezogen werden, dass die Leistung sozusagen in unserer Gesellschaft keinen Wert mehr hat“, sagt Torsten Burmester, Vorstandsvorsitzender beim DOSB, ganz aktuell im Sportgespräch:
„Es geht um Veränderungen in der dritten und vierten Klasse vom Wettkampf zum Wettbewerb. Also wenn das Einfluss auf die Leistungsbereitschaft unserer Gesellschaft hat, dann ist es weit mit Deutschland gekommen.“
Burmester fordert also eine Trennung von Gesellschaft, Schulsport und Spitzensport. Das sieht auch Sportsoziologe Michael Mutz so:
„Ich glaube, wir dürfen da nicht die Ebenen verwechseln. Ich glaube, wir brauchen im Breitensport, im Schulsport, im Kinder- und Jugendsport grundsätzlich eine Strategie, die viele Kinder und Jugendliche in die Sportvereine holt und sie lange da hält und möglichst auch zu einem lebenslangen Sporttreiben animiert. Und das geht meines Erachtens nicht mit einem verkürzten Ansatz, der nur auf Leistung und Erfolg abzielt.“

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Busemann: „Sport hat keine Wertigkeit mehr in Deutschland“

Frank Busemann, olympischer Zehnkampf-Silbermedaillengewinner und seit Jahren TV-Experte, glaubt aber, dass die Talentfindung schon in der Schule beginnen müsste. Die Wertschätzung für Sportprofis sowie für Trainer nehme in Deutschland immer weiter ab, sagt der ehemalige Zehnkämpfer im ARD-Morgenmagazin:
„Sport hat keine Wertigkeit mehr in Deutschland. In den USA ist das ganz anders, dort ist man als Sportler der Super-Hero und hier ist man der Nerd, der irgendwie seine Freizeit gestalten will.“
„Also ich glaube, die Wertschätzung des Spitzensports in der Gesellschaft ist grundsätzlich sehr, sehr hoch“, entgegnet Sportsoziologe Mutz aus Gießen: „Ich glaube, auch die Menschen lassen sich gerne begeistern, wenn sie die Sportgroßereignisse beispielsweise in den Medien verfolgen. Also ich glaube, da haben wir durchaus eine große Bereitschaft, auch den Spitzensport weiterhin zu fördern.“
„Wie aus Jugendstudien deutlich wird, ist es nicht so, dass sich unsere jungen Menschen heutzutage von älteren mit Blick auf Zielerreichungswillen oder Ähnlichem unterscheiden von älteren Generationen“, ergänzt auch Sportpsychologe Ralf Brand von der Universität Potsdam.

Sport in Konkurrenz zu anderen Freizeitbetätigungen

Was sich aber verändert habe, seien die Umweltbedingungen, unter denen sich Talente entwickeln. Jugendliche hätten heute eine sehr viel größere Auswahl an Freizeit- und Betätigungsmöglichkeiten. In dieser Konkurrenz müssten sich Sportvereine neu behaupten, so Brand:
„Da wäre mein Plädoyer ganz simpel: Wenn es darum geht, Talente für den Leistungssport zu gewinnen, dann muss die Trainingsqualität vor allem in der Breite, an der Wurzel und Basis verbessert werden. Und da ist aus meiner Sicht ein großes unausgeschöpftes Potential: Nämlich, was über das Mittel von einer zumindest anständigen Honorierung der Tätigkeit junge, qualifizierte Menschen, beispielsweise Sportstudierende, an der Basis leisten könnten.“

Erfolgsaussichten und Sicherheitsgarantien werden immer wichtiger

Leistung zu zeigen und Erfolg zu haben, ist auch mit positiven Emotionen verbunden – vor allem im Sport, erzählt die ehemalige Speerwerferin Steffi Nerius im WDR:
„Das sind Emotionen im Leistungssport, die man nie wieder im Job findet. Also ich habe so viel geweint vor Freude, weil es so toll ist, so einen Leistungssport zu machen. Aber das ist mittlerweile so eine Abwägung: Ja, was habe ich davon? - Ne, da verdiene ich nicht so viel Geld. Und dann wird‘s schwierig.“
Die Frage nach dem Verdienst hänge mit einer weiteren Veränderung in der Gesellschaft zusammen, so Sportpsychologe Ralf Brand:
„Wir wissen wiederum aus Jugendstudien, dass unter vielen Jugendlichen heute das Bedürfnis nach Sicherheit größer ausgeprägt ist als noch in Generationen vorher. Das heißt: Wie können Sicherheiten geschaffen werden, dass Sportler und Sportlerinnen mittelfristig tatsächlich auch eine Perspektive für sich im Leistungssport sehen - ganz alleine, was den Lebensunterhalt anbelangt?“
Das Bedürfnis nach Sicherheit und gute Erfolgsaussichten – zwei Parameter, an denen der deutsche Sport für neue Talente arbeiten könnte.