Zwar gibt es keine exakten Zahlen, aber nach Schätzungen hadern bis zu einem Prozent aller Menschen mit ihrem biologischen Geschlecht. Auch einige Jugendliche sind überzeugt, im falschen Körper geboren zu sein. Oft leiden sie erheblich darunter.
Wie aber können diese Minderjährigen medizinisch am besten beraten und womöglich behandelt werden?Sieben Jahre lang haben 27 Fachgesellschaften über diese Fragen diskutiert und sich auf verschiedene Empfehlungen für die medizinische Begleitung von transidenten Jugendlichen geeinigt.
Was ist Geschlechtsinkongruenz und was Geschlechtsdysphorie?
Nach der Erklärung des wissenschaftsjournalistischen Netzwerks „Science Media Center“ können Kinder und Jugendliche mit einer Geschlechtsinkongruenz (GI) sich nicht mit dem Geschlecht identifizieren, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde. Entsteht daraus für das Kind ein anhaltender, krankheitswertiger psychischer Leidenszustand, so spricht man von Geschlechtsdysphorie (GD).
Warum gibt es die neue Leitlinie?
Die neue Leitlinie zur Geschlechtsdysphorie bei Kindern und Jugendlichen löst eine Leitlinie aus dem Jahr 1999 ab, die zuletzt 2013 aktualisiert worden war. Einerseits wurden mit der neuen Fassung überholte Klassifikationen von geschlechts-nonkonformen Identitäten aktualisiert. Die Autorinnen und Autoren möchten aber auch die Akzeptanz von Menschen stärken, die sich nicht mit ihrem Geburtsgeschlecht identifizieren.
So gilt die reine Nicht-Identifizierung (Geschlechtsinkongruenz) nun nicht mehr als psychische Erkrankung sondern nur noch das dadurch ausgelöste subjektive Leiden (Geschlechtsdysphorie). Ziel ist also auch eine Entstigmatisierung. Ebenso gelten einige in der Vorgängerversion verwendeten Begriffe mittlerweile als überholt – z.B. „Geschlechtsidentitätsstörung“ oder „Transsexualismus“.
Claudia Wiesemann, Mitautorin der Leitlinie und Medizinethikerin, erläutert:
„Akzeptieren heißt erstmal, dass ich diese Person nicht pathologisiere. Wir dürfen nicht vergessen: Es gibt eine lange Geschichte der Pathologisierung von Menschen mit Transidentität – so wie auch die Homosexualität pathologisiert wurde, als Störung, als Krankheit behandelt wurde. Das haben wir zum Glück in unseren modernen Gesellschaften aufgegeben. Das neue Vorgehen soll akzeptierend sein.“
Was sind die wichtigsten Fragen, die in der Leitlinie diskutiert werden?
Die wichtigsten Fragen drehen sich einerseits um sogenannte Pubertätsblocker, aber auch um geschlechtsangleichende Maßnahmen.
Pubertätsblocker
Großen Raum nimmt die Frage ein, ob und in welchen Fällen der Einsatz sogenannter Pubertätsblocker sinnvoll ist. Dabei handelt es sich um Hormone, die die körperliche Entwicklung in Richtung männlicher oder weiblicher Merkmale für den Zeitraum der Einnahme aufhalten.
Hintergedanke: Das Aufschieben der Geschlechtsreife könnte transidenten Jugendlichen zu mehr Zeit verhelfen, um in Ruhe zu überlegen, welchen Weg sie gehen wollen.
Eine weitere Intention: Pubertätsblocker können verhindern, dass eigentlich nicht gewünschte Geschlechtsmerkmale sich weiter ausprägen. Durch die Medikamente würde womöglich Leidensdruck verringert.
Claudia Wiesemann schildert es so: „Es gibt Kinder, die wissen schon, seit sie über sich selbst nachdenken ganz klar, dass sie nicht die Geschlechtsidentität haben, die ihnen bei Geburt zugeordnet wurde aufgrund ihrer biologischen Körpermerkmale. Die leben schon seit Jahren in diesem klaren Wissen. Und jetzt geraten sie in die Pubertät und bei einem geburtsgeschlechtlichen Mädchen fängt dann an, die Brust zu wachsen (…) Das wird von diesem Menschen als Katastrophe erlebt.“
Geschlechtsangleichende Hormonbehandlung
Auch die tatsächliche Durchführung einer Geschlechtsangleichung (Transition) spielt in der Richtlinie eine Rolle. Jugendpsychiaterin und Mitautorin Dagmar Pauli betont: Studien zeigten, dass ungefähr 90 Prozent der Personen, die zuvor Medikamente zur Pubertätsblockade genommen haben, sich später auch für die Einnahme geschlechtsangleichender Hormone entschieden hätten. In der neuen Leitlinie wird darauf hingewiesen, dass auch Eltern über diesen möglichen Zusammenhang informiert werden sollten.
Ebenfalls empfiehlt die Leitlinie, die Möglichkeit einer Detransition offenzuhalten: Solch einen Abbruch von geschlechtsangleichenden Maßnahmen sieht das Konsortium dadurch gegeben, dass eine reine Pubertätsblockade durch Absetzen der Medikamente wieder beendet werden kann.
Sollten transidente Jugendliche überhaupt behandelt werden?
Das hängt der neuen Leitlinie zufolge von der individuellen Situation der Jugendlichen ab. Insgesamt zeigt sich die Leitlinie, die für Deutschland, Österreich und die Schweiz gelten soll, mit Blick auf Pubertätsblocker nach Einschätzung des Ärzteblattes weniger ablehnend als manche nationale Richtline.
Laut Ärzteblatt ist in der Leitlinie zur Vergabe von Pubertätsblockern zudem festgelegt, dass es nicht ausreicht, wenn ein Kind sich – noch vor der Pubertät – lediglich nicht mit seinem Geschlecht identifizieren kann. Die betreffende minderjährige Person müsse eine Pubertätsblockade zudem ausdrücklich wünschen und es müsse ein größerer Leidensdruck vorliegen.
Nach Ansicht von Kinder- und Jugendmediziner Achim Wüsthoff, ebenfalls Mitautor, sollte mit einer Pubertätsblockade nicht zu früh, aber auch nicht zu spät begonnen werden. Konkret: nicht vor Einsetzen der Pubertät, aber zugleich auch, bevor irreversible körperliche Veränderungen stattgefunden haben. „Wir wollen ja verhindern, dass diese Jugendlichen in den Stimmbruch kommen, dass die Transjungen eine große Brust entwickeln.“
Das Ziel dabei: vermeiden, dass die Betroffenen mit einer lebenslangen Stigmatisierung konfrontiert werden.
Wüsthoff: „Wenn man das nicht verhindert, dass man einen Stimmbruch bekommt, dann wird man das immer im späteren Leben erkennen können (…). Da wird immer unter vorgehaltener Hand getuschelt werden: ‚Ich glaube, das war mal ein Mann.‘ Das ist unglaublich belastend für diese jungen Menschen.“
Medizinethikerin Wiesemann betont einen weiteren Aspekt: die Selbstbestimmung von Minderjährigen.
„Natürlich haben die begleitenden Erwachsenen die Pflicht und Verantwortung, Minderjährige vor Schaden an ihrem Körper und an ihrer Seele zu bewahren. Aber – und das ist eine sehr wichtige Überlegung: Das Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper setzt ja nicht erst ab 18 ein. Sondern das gilt auch schon für Kinder und Jugendliche – und zwar in dem Maße, wie sie selbst die Reife erlangt haben, über sich selbst gute Entscheidungen zu treffen. Das ist mittlerweile juristischer Konsens.“
Welche Kritik gibt es an der neuen Leitlinie?
Kritik kommt unter anderem von Florian Zepf. Der Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am Uniklinikum Jena hat die Leitlinienkommission auf eigenen Wunsch verlassen.
„Natürlich geht es auch darum, dass das, was in einer Leitlinie steht, auch von (…) wissenschaftlichem Wissen gesichert ist. Und das sehe ich für die besonders kritischen medizinischen Interventionen bei Minderjährigen mit Transidentität eben nicht.“
Tatsächlich steht auch im Entwurf der Leitlinie, dass die wissenschaftliche Evidenz für den Nutzen von Pubertätsblockern schwach ist. Etwas mehr Evidenz gebe es dagegen für den Nutzen der geschlechtsangleichenden Hormonbehandlung.
Die neue Leitlinie befindet sich derzeit in der Kommentierungsphase durch die beteiligten Fachgesellschaften und soll voraussichtlich im Juni 2024 veröffentlicht werden.
jma