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Lenz goes Rütli

In der "Freistunde", einer Art Kiez-Kulturanimation mit Schülern der Rütlischule und Anwohnern der Panierstraße, nimmt das Berliner Gorki-Theater sein Publikum mit auf die Straßen Neuköllns. Es ist der erste Akt des Lenzschen "Hofmeisters".

Von Eberhard Spreng |
    "Wir sind auf die Idee gekommen, fünf Leute hier aus dem Kiez zu nehmen, denen eine Kamera in die Hand zu drücken und zu sagen: Porträtiert doch mal euren Kiez. Das haben die Leute gemacht, bei allen haben wir sechs Fotos ausgewählt, die liegen hier auf dem Tisch."

    Rings um einen großen rechteckigen Tisch hat sich eine kleine Publikumsgruppe gesetzt, vor ihnen liegen 30 große Karten. Memory soll gespielt werden mit Fotos aus dem Reuterkiez in Berlin-Neukölln. Man sitzt im Eckzimmer einer Wohngemeinschaft mit Blick auf die Kreuzung Panier/Ecke Weserstraße. An einer Seite der Kreuzung hat das Gorki-Theater eine Kulisse aufgebaut: Der Blick in den leeren Saal des Theaters.

    Mit der "Freistunde", einer Art Kiez-Kulturanimation mit Schülern der Rütlischule und Anwohnern der Panierstraße, macht das Theater vor den Aufführungen im Saal eine Exkursion in einen der sozialen Brennpunkte der Hauptstadt, genauer dahin, wo es sich den Stoff für Geschichten geholt hat, die mit dem Lenzschen "Hofmeister" allerdings wenig zu tun haben.

    Nachdem sich das Publikum in kleine Gruppen geteilt hat, beginnen an verschiedenen eng beieinander liegenden Lokalitäten der Panierstraße knapp 15-minütige Aufführungen: Schüler der Rütlischule referieren in einem kleinen Ladenlokal eine fiktive Geschichte Neuköllns und flechten darin kurze biografische Elemente ein: Erste Liebe, palästinensische Flüchtlingsgeschichte, Geschichte der Reformschule in wilder Mischung. Die Texte der kurzen Raps, die die Berichte über individuelle Erfahrungen unterbrechen, werden mit einem Overheadfolienprojektor auf eine Wand geworfen. Die sogenannte "Geschichtsdisko" entlässt das Publikum zurück auf das Trottoir, wo Straßentheatersketche die Pausen verkürzen. Die "Lehrerkonferenz" tagt in einem Spätkauf wenige Meter weiter und diskutiert den typischen Fall eines Schülers, der das Machtsystem Schule bedroht:

    "In seiner Klasse hier hat er sich eigentlich, was die Schule angeht, ganz gut integriert. Das Problem ist dabei, dass er für die Jungs eine Art Meinungsführerschaft übernommen hat, das heißt: Er ist für die Jungs ein negatives Vorbild geworden."
    Ein Mädchen mit Kopftuch verkörpert den Lehrer, sie und ihre Mitschülerinnen haben sich kleine Kopfhörer aufgesetzt, durch die ihnen der Text eingeflüstert wird. Der mit Overheadfolien-Projektor improvisierte Teleprompter im ersten Stücklein, die Kopfhörerunterstützung nunmehr hier, zeigen Grenzen des sozialpädagogischen Theaterprojekts, das zusammen mit seinem Projektpartner "Campus Rütli" die Bildung von Parallelgesellschaften nicht als Fatalität moderner Stadtentwicklung hinnehmen will.

    Neukölln und Berlin haben auf den bundesweit wahrgenommenen Brandbrief der Schule vor fünf Jahren mit einem Pilotprojekt reagiert und für die Bildungslandschaft "Campus Rütli" erhebliche Mittel freigemacht. Das ändert aber vorerst nichts daran, dass Migrantenkinder ihre Erfahrungswelten einfach nicht in Hochdeutsch fassen. Nicht jedenfalls in dieses Theaterhochdeutsch, mit dem man Neuköllner Geschichten theaterkompatibel machen will.

    Am Ende des Parcours warten die "Pet Shop Girls" in einem kleinen Haustierbedarfsladen auf ihre Publikumsgruppe. In Fabeln preisen sie das Leben in Freiheit. Außerdem locken Ein-Euro-Sonderangebote für Tiernahrung oder andere Gimmicks für die Lieblinge daheim. Draußen gibt's Getränke und Brezeln. Straßenfeste sehen in Berlin ähnlich aus. Alle machen mit, der türkische Kioskbetreiber, die WG an der Ecke, Jeanny und ihr Tierbedarf. Auch sie hat früher einmal an der Rütli-Schule gelernt.

    Neukölln sei im Aufschwung, sagt sie, die Tristesse sei überwunden. Ein paar Straßenzüge entfernt bereitet sich eine regelrechte Gentrifizierung vor, also die Parallelgesellschaft der Reichen im alten Arbeiter- und Migrantenkiez. Wie sich das Theater da politisch positioniert und was das mit der tragischen Komödie um den Lenzschen "Hofmeister" zu tun hat, weiß man nach dem ansonsten sympathischen bunten Abend in Neukölln aber immer noch nicht.