Freitag, 19. April 2024

Bildungskosten und Chancengerechtigkeit
Warum die Lernmittelfreiheit ihren Namen nicht verdient

Armut und die Chance auf Bildung hängen oft zusammen. Dennoch gibt es in den meisten Bundesländern keine Lernmittelfreiheit mehr: Hier müssen Eltern die Kosten für Schul- und Lehrbücher teilweise selbst tragen.

10.08.2022
    Die Bücher für das Deutsch-Abitur liegen an der Singbergschule am ersten Tag der schriftlichen Abiturprüfungen 2022 in Hessen neben einer Schülerin auf der Fensterbank.
    Schulbücher und Übungshefte sind nicht mehr in jedem Bundesland kostenlos (picture alliance/dpa)
    In Deutschland wurde Mitte des 19. Jahrhunderts im Zuge der Bürgerrechtsbewegung der freie Zugang zur Bildung gefordert und schließlich in der Weimarer Verfassung festgelegt, dass Unterricht und Lernmittel in den Volksschulen unentgeltlich sein sollen. Diese flächendeckende Lernmittelfreiheit besteht heute nicht mehr.

    Was sind Lernmittel und was bedeutet Lernmittelfreiheit?

    Lernmittel sind laut Definition der Kultusministerkonferenz Arbeitsmaterialien, die Schülerinnen und Schüler "zur erfolgreichen Teilnahme am Unterricht" benötigen. Dazu zählen Schulbücher, aber auch Lernmaterialien wie zum Beispiel Taschenrechner, Zirkel, Zeichengeräte. Lehrmittel sind laut Definition "Unterrichtsmittel, die zur Ausstattung der Schule gehören" - wie zum Beispiel geographische Karten.
    Durch die Lernmittelfreiheit soll gewährleistet werden, dass alle Kinder kostenlos Zugang zu Übungsheften und Schulbüchern haben. Diese werden durch öffentliche Mittel (Steuermittel) finanziert.

    Wo gibt es noch Lernmittelfreiheit und wie ist das geregelt?

    Weil Deutschland ein föderales System hat und Bildung Ländersache ist, legt jedes Bundesland selbst fest, ob und wie es Lernmittelfreiheit gewährt. Nur noch fünf der 16 Bundesländer stellen die im Unterricht genutzten Bücher kostenlos zur Verfügung, in sieben gibt es eine eingeschränkte Lernmittelfreiheit, in vier Bundesländern gar keine mehr:
    Lernmittelfreiheit (Bücher sind in den meisten Fällen kostenlos):
    • Thüringen
    • Baden-Württemberg
    • Hessen
    • Sachsen
    • Mecklenburg-Vorpommern
    Eingeschränkte Lernmittelfreiheit (Eltern zahlen Eigenanteil):
    • Berlin
    • Bayern
    • Bremen
    • Brandenburg
    • Hamburg
    • Nordrhein-Westfalen
    • Schleswig-Holstein
    Abgeschaffte Lernmittelfreiheit (Eltern zahlen Komplettpreis oder entleihen gegen Gebühr):
    • Sachsen-Anhalt
    • Niedersachsen
    • Rheinland-Pfalz
    • Saarland

    Wieviel Kosten entstehen für die Eltern pro Kind?

    Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft nennt Beispiele: Seit Beginn des Schuljahres 2005/2006 müssen Eltern pro Kind auch in Bayern bis zu 40 Euro und in Hamburg sogar bis zu 100 Euro jährlich als Leihgebühr für Schulbücher bezahlen. Das kann sich bis zum Ende der gesamten Schulzeit, also zum Beispiel bis zum Abitur, auf bis zu 1.500 Euro summieren.
    Hinzu kommen weitere Kosten: Zur Einschulung fallen vor allem Schulranzen und die Grundausstattung finanziell ins Gewicht. Zu Beginn jedes Schuljahres kommen dann noch Zuzahlungen für Ausflüge oder Klassenfahrten, Kopiergeld und eine Liste mit Materialien dazu, die beschafft werden müssen: Diese reicht von besonderen Heften und Stiften bis hin zu Atlanten oder Taschenrechnern. Nachmittagsbetreuung und Mittagessen kosten ebenfalls extra, dazu kommen die Ausgaben für Schulveranstaltungen. Pro Schuljahr können damit weitere Kosten von mehreren Hundert Euro entstehen.

    Was bedeutet die Abschaffung der Lernmittelfreiheit für die Chancengleichheit?

    Bestimmte sozio-ökonomische Verhältnisse zu Hause können dazu führen, dass Kinder keinen langfristigen Zugang zu Bildung haben und somit seltener höherqualifizierende Bildungswege einschlagen. Laut GEW hängen Bildungschancen fast nirgendwo so sehr von der sozialen Herkunft der Eltern ab wie in Deutschland. Die Gewerkschaft stützt sich dabei auf die Ergebnisse der PISA-Studie. Laut Schätzungen lebt mindestens ein Viertel der knapp elf Millionen Schülerinnen und Schüler in Deutschland in prekären Verhältnissen.
    Das schlägt sich auch in der Statistik nieder: Laut dem Hochschul-Bildungs-Report 2020 schaffen es nur rund 21 Prozent der Grundschulkinder aus Arbeiterfamilien auf eine Hochschule. Kinder aus Akademikerhaushalten erreichen dagegen eine mehr als dreimal so hohe Quote: 74 Prozent.
    Die Abschaffung der Lernmittelfreiheit sei skandalös, sagte Lehrer und Kolumnist Bob Blume am 25. Juli 2022 im Dlf. "Das läuft komplett zuwider der Behauptung, die ja in den Bildungsplänen steht, dass man Chancengleichheit gewährleisten möchte." Denn das erschaffe weitere Hürden und zusätzliche Arbeit - für Eltern und auch für die Lehrer. "Das heißt, die Abschaffung der Lernmittelfreiheit konterkariert an dieser Stelle den Koalitionsvertrag fundamental." Der soziale Druck werde auf die Kinder übertragen, die eine Stigmatisierung erführen.
    Ähnlich argumentiert der GEW-Vorsitzende Ulrich Thöne: "Wir bewegen uns immer weiter auf eine Zweiklassengesellschaft zu, in der der Geldbeutel der Eltern über die Bildungschancen der Kinder entscheidet." Die GEW setzt sich gemeinsam mit Elternverbänden und einem gesellschaftlichen Bündnis für eine flächendeckende Lernmittelfreiheit ein.

    Welche Hilfen gibt es für einkommensschwache Familien?

    Finanzielle Hilfe können Fördervereine an den Schulen bieten, einkommensschwache Eltern können zudem unter bestimmten Umständen durch das Bildungs- und Teilhabepaket der Bundesregierung unterstützt werden. Pro Kind und pro Schuljahr gibt es dort für den persönlichen Schulbedarf 156 Euro, dazu gibt es finanzielle Hilfe bei Ausflügen, Fahrtkosten, Nachhilfe oder den Kosten für das Mittagessen.
    Quellen: Armin Himmelrath, Sonja Meschkat, BMFSFJ, Kultusministerkonferenz, GEW, INA, og