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Lethen: "Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug"
Die gefährlichen Verhaltenslehren eines ehemaligen Maoisten

Mit den „Verhaltenslehren der Kälte“ hat der Kulturwissenschaftler Helmut Lethen einen Klassiker geschaffen: Jetzt erinnert er an seinen Werdegang vom maoistischen Parteikader bis zur späten Berühmtheit - auch als gesellschaftliche Figur.

Von Katharina Teutsch | 17.01.2021
Helmut Lethen bei der Buchvorstellung von "Die Staatsräte, Elite im Dritten Reich" auf der Buchmesse Leipzig 2018
Helmut Lethen bei der Buchvorstellung von "Die Staatsräte, Elite im Dritten Reich" auf der Buchmesse Leipzig 2018 (imago images / Gerhard Leber)
Als Rowohlt Berlin im Sommer "Erinnerungen" des Kulturwissenschaftlers Helmut Lethen in seiner Verlagsvorschau ankündigte, war das Interesse sofort groß. Helmut Lethen, Autor bedeutender Studien zum intellektuellen Feld der Zwanziger Jahre, war zuletzt in den Fokus der Öffentlichkeit geraten durch eine politische Privatangelegenheit. Seine Ehefrau Caroline Sommerfeld ist in kurzer Zeit zu einer der führenden Persönlichkeiten der neurechten Bewegung in Österreich aufgestiegen. Sogar die New York Times war bei Lethens zuhause und hatte die politisch gespaltenen Eheleute vor dem gemeinsamen Bücherregal fotografiert. Der ehemalige Kader einer kommunistischen Kleinpartei unter einem Dach mit einer Propagandistin des Völkischen! Das klang wie ein schlecht erfundener Roman. Nun hat Helmut Lethen seine intellektuelle Biografie veröffentlicht. Vermutlich um selbst wieder zum Autor einer aus dem Ruder gelaufenen Konstellation zu werden.
Der Titel "Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug" stammt von Brecht. Vor dem Hintergrund des Ehedramas der Lethens transportiert er die Resignation des Verfassers gleich aufs Cover. Soviel sei nämlich vorweggenommen: Auch die minutiöse Rekonstruktion eines aus der "Stickluft" der Nachkriegszeit entstandenen Denkens – dieser wackere Rechenschaftsbericht – kann nichts erklären. Ist es doch jeder Ideologie eigen, dass sie jenseits des Vernunftprinzips ganz zur Intuition des Ideologen wird. Was hatte Sommerfeld ihrem Mann zu sagen?
"Zu ihrem Leitthema wurde die Frage, wie sich Geschichte ohne Intervention moralischer Kategorien denken ließ. Mohler, ein Idol der Neuen Rechten, wurde ihr Kronzeuge in der Beurteilung der Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik, und aus dieser Ecke erfolgte dann auch der Bannfluch, der direkt gegen mich gerichtet war: Das Denken der Achtundsechziger Generation und ihrer ‚Schuldkultur’, so hielt sie mir entgegen, sei nichts als das 'Ergebnis der amerikanischen Gehirnwäsche 1945’' Das war ein Satz von Caroline, der mir den Atem nahm."

Der Kälteschock der Geburt

Lethens Erinnerungen sind der rührende Versuch, der Frau und ihrer Entourage eine Antwort zu geben. In den ersten Kapiteln beschreibt das Kriegskind seine Kindheit in und um Mönchengladbach. Seine ersten Erinnerungen hat es daran, in kalten Winternächten aus dem Schlaf gerissen in den Luftschutzkeller getragen zu werden. Kälte ist bereits hier das einschneidende Erlebnis. Später sollte Helmut Lethen mit seiner Studie "Verhaltenslehren der Kälte" berühmt werden. Dort hatte er beschrieben, wie sich die Männer der Zwischenkriegsgeneration gegen die Gewalterfahrungen der Epoche abpanzerten. Schalkhaft schreibt Lethen über sein frühes Kälteerlebnis:
"Später las ich bei dem ungarischen Psychoanalytiker Sándor Ferenczi, der 'Kälteschock' der Geburt fördere den Wirklichkeitssinn."
Und der wird bei Helmut Lethen erst im Jahr 1957 geweckt. Und zwar beim Besuch eines Kinos, wo der inzwischen Achtzehnjährige durch die Initiative eines Lehrers den Film "Nacht und Nebel" von Alain Renais zu sehen bekommt. Auschwitz wird also erst zwölf Jahre nach dem Krieg zu einem Nachbild des Schreckens:
"Was für eine Geschichtsvergessenheit, heute davon zu reden, wir deutschen Kinder seien 1945 durch die Besatzungsmächte einer ‚Gehirnwäsche’ unterzogen worden, die uns die Scham über die Verbrechen der NS-Diktatur eingeimpft hätte. Haar- und Brillensammlungen, Stapel leerer Koffer der Getöteten, Leichenberge, die mit Bulldozern weggeschaufelt wurden – davon hatte ich bis 1957 keinen blassen Schimmer. Woher und auf welchem Wege hätten die Schreckensgeschichten zu uns durchdringen können, solange die verbliebene Funktionselite des NS-Staats die Akten der Verbrechen unter Verschluss hielt?"
Begeben wir uns mit dem Autor also auf eine intellektuelle Abenteuerreise, die gespeist ist vom Erkenntnismoment des Jahres 1957. Und von einem gespaltenen Verhältnis zur beschädigten Vätergeneration. Vater Lethen, von der Mutter mehr toleriert als respektiert, ist ein degradierter Westfrontsoldat, der sich früh zur NSDAP verirrte, später in englische Kriegsgefangenschaft gerät und sich nach 45 in den neutralen Raum der Wirtschaftspartei FDP flüchtet. Von seiner Mutter, so der Autor, habe er gelernt, "ironisch mit Autorität umzugehen". Der schwache Vater, in der eigenen Truppe zum Überbringer von Todesnachrichten herabgestuft: Daran konnte man sich kein Beispiel nehmen.
Zwei Jahre nach dem erwähnten Kinobesuch tritt Helmut Lethen dennoch seinen Wehrdienst an. Warum, wo es damals so einfach gewesen wäre, sich der Aufgabe zu entziehen? Die müden Helden aus Bölls Erzählungen können ihn nicht gereizt haben, überlegt Lethen. Schon eher die schmucken GIs. Dennoch: Es wird der nicht einzige Widerspruch in seinem Leben bleiben. Beim Militärdienst erlebt Lethen zwar die üblichen Erniedrigungsrituale bei der Rekrutenausbildung.
"Trotz allem mochte ich das Militär; ich liebte die Proleten meiner Kompanie und genoss, dass wir uns alle in der Anstrengung heimisch fühlen mussten."
Die Erinnerungen von Helmut Lethen: „Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug“
Die Erinnerungen von Helmut Lethen: „Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug“ (Buchcover: Rowohlt Berlin, Hintergrund: Gerda Bergs)

Der revolutionäre Alltag

Erste Anzeichen einer Identitätssuche, die Lethens spätere Forschungsarbeit nicht nur motivieren, sondern auch überwölben würde! Vorläufige Heimat wird dem jungen Mann das internationale Proletariat. Helmut Lethen berichtet mit Selbstironie vom revolutionären Alltag im Umfeld der Studentenproteste. Adornos Aphorismen öffnen dem Berliner Germanisten nicht nur "tausend kleine Fenster in die soziale Umwelt des Exils", sondern machen auch deutlich, dass man mit der hermetischen Sprache Heideggers "vor einer Mauer" steht.
"In verschlossene Archive einzudringen, Antiquariate zu durchkämmen, Schulbücher zu säubern, bei französischen, chilenischen und amerikanischen Studentinnen und Studenten unterzuhaken und im gleichen Zeitraum eine wissenschaftliche Arbeit zu verfassen, die Neuland erschloss, das war reines, das heißt arbeitsames Glück."
Ganz früh, mit einer Dissertation zur Neuen Sachlichkeit, beginnt also die Auseinandersetzung des Kulturwissenschaftlers mit seinem Lebensthema: das geistige Klima der zwischen Revolution und Reaktion vibrierenden Zwanziger Jahre. Hinzu kommt die eigene Zeitgeschichte, das eigene Jungsein. Mit Walter Benjamin lässt sich die teilweise spaßbefreite Frankfurter Schule leichter verdauen. Benjamins Anti-Aura-Aufsatz über "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" etwa ...
"... befreite uns von dem Fluch, den Adorno und Horkheimer in ihrer "Dialektik der Aufklärung" über die "Kulturindustrie" ausgesprochen hatten, und erlaubte uns die Lust am Trivialen der Massenkultur. Theoretische Texte las ich als Erschließungsmedien von Handlungsräumen. Es gab, so schien mir, einen Grad an Komplexität, der zur Lähmung jeder Motorik führte. Wer handeln wollte, musste das allzu Komplizierte vergessen."
So erlebt der inzwischen mit einer Niederländerin verheiratete Helmut Lethen mit Benjamin und Adorno nicht nur das Glück wilder Forschung. Zu Twist & Shout von den Beatles gesellten sich die Ekstasen der Agitation. Als Kader der KPD-Aufbauorganisation waren Lethen & Friends angetreten, "Probleme, die von Psychoanalyse, empirischer Sozialforschung und Kritischer Theorie nicht zu lösen waren, zu lösen". Auf der Frankfurter Buchmesse von 1966 gehörten die Plakate der Russischen Revolution 1917 – 1929 zu den meistgestohlenen Objekten.

Lust auf Welt

"Es begannen glückliche Jahr in der Studentenbewegung. Sie verband drei Komponenten: erstens das erwähnte Aufbrechen der Archive der Väter. Zweitens die Körpermotorik verschiedener Arten der Besetzung von Instituten oder militanter Demonstrationen. Drittens die "Lust auf Welt" (Heinz Bude), die uns aus dem teutonischen Trichter der Herkunft löste, unseren Horizont in der Popmusik angelsächsisch erweiterte und in der Identifikation mit antikolonialen Befreiungsbewegungen vom Zwang zur eigenen Identität befreite."
Vom Zwang zur eigenen Identität befreit, muss der revolutionäre Alltag aber auch verwaltet werden. Das Graubrot der Parteiarbeit wird neben dem heroischen Protest nicht verschwiegen in diesem Buch: Lethen hatte das Phänomen vor ein paar Jahren auf die knackige Formel gebracht hatte, die marxistisch-maoistischen Apparate der sechziger Jahre hätten weniger als Durchlauferhitzer revolutionärer Energien denn als Kühlaggregate gewirkt. Kurz gesagt: Nur ein kleiner Teil der Gewalttheoretiker ging zur RAF. Der überwiegende Rest wurde in den verbissenen Diskussionen verstrittener K-Gruppen frustriert. Ein Beispiel:
Im Juni 1968 hatten die Mitglieder der Ad-hoc-Gruppe Germanistik, als Protest gegen die Notstandsgesetzgebung das Institut für Germanistik an der FU Berlin besetzt. Das war einerseits spektakulär. An seine Eltern hatte Lethen damals andererseits geschrieben:
"Das bedeutete für uns viel Arbeit: Wir mussten die Missstände in unserem Institut analysieren, Pressekonferenzen abhalten und 700 Germanisten davon überzeugen, dass wir recht hatten."
Es war also alles ziemlich Ernst. Bis die Kommune I Einzug hielt:
"Die Kommunarden kamen ungebeten und schleppten riesige Lautsprecheranlagen in die Bolzmannstraße, um aus den Fenstern den Campus mit Popmusik zu beschallen. Ulrich Enzensberger, der jüngste der vier Brüder, trug eine Mönchskutte und verlangte Eintritt. Kopfzerbrechen bereiteten uns Rainer Langhans und Fritz Teufel. Während einer Vollversammlung in der Bibliothek schmiss Langhans ein Buch, das er blindlings auch dem Regal gezogen hatte, in meine Richtung. Ich war empört und schrie ihn an – es war ein Band der Wieland-Ausgabe, ein Aufklärer wurde weggeworfen. Unvergesslich seine Reaktion: "Ihr Analerotiker!" Das sollte wohl heißen, ohne Papier bringt ihr nichts zustande."
Helmut Lethen (ganz rechts im Bild) diskutiert mit (vlnr) Hans Werner Richter, Jean Paul Picaper und Günter Wallraff, über das Thema "Literatur im politischen Auftrag" in der ZDF-Sendung Literarisches Colloquium im März 1972
Helmut Lethen (ganz rechts im Bild) diskutiert mit (vlnr) Hans Werner Richter, Jean Paul Picaper und Günter Wallraff, über das Thema "Literatur im politischen Auftrag" in der ZDF-Sendung Literarisches Colloquium im März 1972 (imago images / United Archives/ KPA)

Revolutionäre Papiertiger

Tatsächlich, räumt Lethen ein. Die Gewaltphantasien der politisch engagierten Studenten wurden mehrheitlich in der literarischen Phantasie kanalisiert. Von Jacob Burckhardt bis Hans-Magnus Enzensberger, wie es heißt. Im Privatleben bleibt man indes realitätsnah. Man meidet das allzu Komplexe der Theorie. Nur wenige Tage nach der Institutsbesetzung schreibt Lethen nachhause:
"Liebe Familie, für uns hat jetzt die Krumme-Lanke-Zeit angefangen; Loesje setzt ihren eigenhändig genähten Bikini (aus franz. Baumwollstoff, hellblau mit dunkelblauen Blumenmustern) der Sonne aus und ist richtig schön."
Die Besetzung des Bonner Rathauses anlässlich des Breschnew-Besuchs von 1973 wird Helmut Lethen später die Professur in Bremen kosten und jede weitere Berufung in Deutschland vorerst verhindern. Zwei Jahre später folgt dann der Ausschluss von der anderen Fraktion. Lethen wird wegen "Versöhnlertums" aus seiner Partei ausgeschlossen. Wegen seiner Kompromisshaltung bei der geforderten Umgestaltung des Kreuzberger Bethanienkrankenhauses in eine Kinderpoliklinik.
"Ich hätte, so der Vorwurf, in der Kampagne für das Kinderkrankenhaus die Elemente des Klassenkampfes vernachlässigt und diese auf das Niveau einer Bürgerbewegung niedergedrückt."
Für Lethen beginnt nach dem Ausschluss aus der KPD-AO eine Zeit aufregender Zeitschriftengründungen wie zum Beispiel die "Berliner Hefte". Und eine Professur im niederländischen Utrecht winkt. Nach den Grabenkämpfen in Deutschland erlebt Lethen hier zum ersten Mal die aktiv betriebene "Aufwertung der Oberfläche". Als Familie Lethen wegen ihres stotternden Sohns in Deutschland eine Familientherapie verschrieben bekommt, winken die Holländer bloß ab:
"Als wir der Logopädin vom Berliner Therapievorschlag berichteten, brach sie mit den Worten ‚Diese Deutschen!’ in lautes Lachen aus. ‚Immer müssen die an die Wurzeln gehen.’ Anstelle der Tiefenanalyse riet sie uns zu etwas, das ‚die Deutschen’ wahrscheinlich als ‚Symptomkuriererei’ verachtet hätten: Zungengymnastik."

Niederländischer Oberflächenkult

Dem Sohn geht es bald besser. Und Lethen richtet sich im akademischen Utrecht ein. Auch wenn privat bald eine Trennung ins Haus steht. Nicht ohne Stolz berichtet der frisch gebackene Single von belebenden Beziehungen zu diversen Damen in den nächsten Jahren. Darunter keine berühmten Protagonistinnen des akademischen Milieus. Überhaupt, das akademische Milieu:
"Mit der deutschen Zunft der Germanisten hatte ich kaum noch Verbindung, mich interessierten ohnehin mehr der deutsche Buchmarkt und das Feuilleton."
Man kann sagen, dass Lethen den richtigen Instinkt hatte. Sein mit Abstand berühmtestes Buch erschien 1994. Ein Jahr bevor Lethen dann doch noch in Deutschland Professor wurde. Die "Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen" waren die Konsequenz einer jahrelangen Beschäftigung mit dem sozialen Kältekult der Neuen Sachlichkeit. Das "Orakel der Weltklugheit" mit dreihundert Sinnsprüchen des spanischen Jesuiten Baltasar Gracián aus dem Jahr 1647 war ihr Auslöser gewesen. Denn eine Maxime darin galt Helmut Lethen von da an als Leitfaden seines Forschungsinteresses: "Nichts setzt den Menschen mehr herab, als wenn er sehen lässt, dass er ein Mensch sei."
"Die ‚Verhaltenslehren der Kälte’ stachen 1994, wie es später hieß, in eine Blase der ‚Betroffenheitskultur’. Das Buch folgte darin Richard Sennetts Invektiven gegen die ‚Tyrannei der Intimität" und berührte sich mit Lionel Trillings Buch über das ‚Ende der Aufrichtigkeit’."

Die Kunst der Verstellung als Kampfkunst

Helmut Lethen hatte in seinen "Verhaltenslehren" auch Helmuth Plessners Buch "Grenzen der Gemeinschaft" aus dem Jahr 1924 berücksichtigt. Der Philosoph hatte darin das Ausbalancieren der richtigen Distanz zu anderen Menschen als die wahre Lebenskunst besungen. Der Mensch müsse die soziale Maske auf dem gesellschaftlichen Kampfplatz nutzen. Die Kunst der Verstellung ist also eine Kampfkunst. Nackte Ehrlichkeit sei hingegen "Spielverderberei".

Es würde nun zu weit führen, hier ins Detail dieser Anthropologie zu gehen. Doch eine Schwachstelle, die Lethen selbst einräumt, sei doch erwähnt. Sie lässt tief in Lethens eigenen Ideenkosmos blicken. Plessners Grundsatz "Der Mensch ist von Natur aus künstlich" bezieht sich nämlich nur auf den männlichen Teil der Gesellschaft. Der weibliche wird auf der Seite der Naivität verbucht. Frauen sind Plessner zufolge ganz im Sinne der Romantiker "bei sich selbst bleibende Natur".
Auch wenn Lethen sich als warmherziger Denker und als Freund der Frauen gibt, bleiben seine Verhaltensidole genuin männlich konnotiert: Selbstkontrolle, Kampfhaltung, Gewinnenwollen. Lethens Faszination für kalte Denker wie Carl Schmitt, Ernst Jünger oder Helmuth Plessner gewährt Einblicke in die Seele einer verunsicherten Generation, aber auch in eine verunsicherte Männerseele. Mag die gelebte Realität des fünffachen Familienvaters Lethen eine andere gewesen sein: Seine lebenslange Beschäftigung mit der Vermeidung des Kontrollverlustes lässt eine Sehnsucht nach Dominanz erkennen. Frei nach der Achtzigerjahre-Band Ideal, die da sang: "Da bleib ich kühl – kein Gefühl!"

Chercher la femme

Jüngere Leserinnen können sich da nur verwundert die Augen reiben. Denn unterm Strich folgen auch die Ereignisse rund um den Lethenschen Ehezwist einem Programm, dass bei Plessner und Co. schon zu finden ist. Zur Flüchtlingspolitik fällt Caroline Sommerfeld ein: "Wer Geschichte denkt, denkt nicht in individuellen Geschichten." Angesichts der Merkelschen Willkommenskultur rät sie ihrem Mann entsprechend zu entschiedener Distanznahme vom Einzelschicksal. Der lesenden Paartherapeutin scheint es fast, als würde hier der Spezialist der kalten persona mit seinem Lieblingsspielzeug – den Kühlpads der Seele – kaltgestellt.
Das, was Caroline Sommerfeld dann allerdings mit ihrem auf Flüchtlinge gemünzten Kältepostulat macht, ist warme Ursuppe. Wenn sie von der Einheit des Volkes phantasiert oder von einer "Entmischung des Volkes", bei der sie sich bewusst unkonkret gibt. Hatte Plessner also doch Recht? Die Frau taugt nicht im Feld der Emotionskontrolle? Natürlich ist das die rhetorische Frage einer weiblichen Rezensentin, die sich am Ende dieser Lektüre mehr denn je die Geschlechterfrage stellt. Selbst Helmut Lethen wirkt verunsichert. Soll er seine Frau ernst nehmen?
"Das Kältebad der Entzauberung mythischer Erzählungen ist zwar kein Lebenselixier. Aber ich habe unter dem Einfluss von Sándor Ferenczi, Bertholt Brecht, Ernst Jünger, Arnold Gehlen und Helmuth Plessner diesen Kälteschock als Voraussetzung für die Entwicklung des Wirklichkeitssinns begriffen, während ich bei Max Weber gelernt habe, dass die Entzauberung die Wiederkehr der Götter nicht verhindern kann. Nicht einzusehen, warum ich jetzt noch in das mythische Wärmebad des Ursprungsdenkens eintauchen sollte, das so desaströse Spuren in der deutschen Geschichte hinterlassen hat."

Eine Botschaft an Rechts außen

Die Aversion gegen kuschelige Identitätsangebote erklärt Lethen also durchaus mit einer Generationenerfahrung, die Caroline Sommerfeld, Jahrgang 1975, nicht mit ihm teilt. Zum Schluss soll Helmut Lethen deshalb noch einmal das Wort bekommen:
"Ich stelle mir, wenn ich mir die Formel von der leeren Mitte des Behälters unseres Lebens praktisch vergegenwärtige, einen Trichter vor: Auf dessen Grund lagert das Kindheitserlebnis der Vibration in Luftschutzkellern während der Bombenangriffe 1944, das Phantom der V2 am Himmel über Jünkerath in der Schneeeifel; die Tränen meiner Mutter, als sie vor dem Volksempfänger im Keller eines Hotels in Oberwesel vom ‚heldenhaften’ Tod des Führers hörte, während sie meinen vier Jahre älteren Bruder versteckte, um ihn vor dem Einsatz mit der Panzerfaust zu bewahren. ... Die lange Abwesenheit des Vaters, der 1947 gut genährt aus der englischen Kriegsgefangenschaft zurückkehrte und, von der Mutter nicht ernst genommen, sondern toleriert, unter dem Balkon der Rubensstraße 39 in Mönchengladbach die Restbestände von Filzstumpen zu Herrenhüten presste und appretierte, um mühselig seine Existenz als kleiner Huthändler wiederaufzubauen. Der Hass auf Freimaurer und Bolschewiken, der von der Kanzel der St.-Barbara-Pfarrei gepredigt wurde, 1957 der Schock des Films "Nacht und Nebel", die Irritation durch Bilder des Ungarnaufstands, die nächtlichen Trainingsläufe, bei denen der jugendliche Sportler meditieren lernte. Zwei exzentrische Kunstlehrer, die einen Spalt zur modernen Kunst öffneten. Die Ausdünstungen einer Funktionselite, die eine Kontinuität des Machtkomplexes verbürgte.... Von diesem Grund aus konnte sich ein Ich-Gefühl, aber keines der nationalen Identität entwickeln."
Nicht nur für Ideenhistoriker, auch für politische Köpfe, also aufmüpfige Frauen und wache Männer sind die vorliegenden Erinnerungen von großem Gewinn. Obwohl sie von eisiger Kälte handeln, sollen sie hier warm empfohlen werden.
Helmut Lethen: "Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug.
Erinnerungen"

Rowohlt Berlin Verlag, Berlin. 380 Seiten, 24 Euro.