Donnerstag, 25. April 2024

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Lettlands Präsident Levits
"Russlands demokratisches Potenzial erwacht"

Moskau geht hart gegen Demonstranten vor, die für die Freilassung des Kreml-Kritikers Alexej Nawalny eintreten. Das zeige, dass Russland ein autokratisches und repressives Regime sei, sagte Lettlands Präsident Egils Levits im Dlf. Die Proteste zeigten aber auch das demokratische Potenzial Russlands.

Egils Levits im Gespräch mit Stefan Heinlein | 01.02.2021
Der lettische Staatspräsident Levits.
Lettlands Staatpräsident Egils Levits fordert, dass die Demokratiebewegung in Russland unterstützt werden müsse (Sputnik/Sergey Melkonov)
Bei Demonstrationen gegen Korruption und für die Freilassung des Kremlkritikers Alexej Nawalny sind am Sonntag (31. Januar 2021) in Russland Schätzungen zufolge mehr als 5.000 Menschen festgenommen worden. Landesweit haben sich Menschen in mehr als 100 Städten versammelt. Die Polizei ging teilweise mit Gewalt gegen Demonstranten vor.
Von Seiten der EU, der USA und Großbritanniens kam Kritik. Die EU erwägt weitere Schritte gegen Russland. Seit dem Anschlag auf Oppositionspolitiker Alexej Nawalny gelten bereits Sanktionen. Lettlands Staatspräsident Egils Levits sagte im Deutschlandfunk, neue EU-Sanktionen würden die Oppositionellen symbolisch stärken. Die EU sei dazu verpflichtet, Demokratiebewegungen oder Forderungen nach Demokratie in der ganzen Welt zu unterstützen.
Lettland und seine russischsprachige Minderheit
Etwa ein Viertel der lettischen Bevölkerung sind russische Muttersprachler. Das hängt mit der sowjetischen Okkupation nach dem Zweiten Weltkrieg zusammen - und führt bis heute zu Streit.
Egils Levits: Guten Morgen!
Stefan Heinlein: Von Deutschland aus ist Russland viele hundert Kilometer entfernt. Lettland dagegen hat eine gemeinsame Grenze mit Russland. Wie aufmerksam verfolgen die Letten die aktuelle Entwicklung im Nachbarland?
Egils Levits: Ja, wir verfolgen die Entwicklung in Russland sehr aufmerksam. Unsere Grenze ist zugleich auch die Außengrenze der Europäischen Union. Die letzten Proteste zeigen, dass erstens Russland ein autokratisches, repressives und expansionistisches Regime ist. Das ist die generelle Einschätzung. Zweitens – und das ist sehr wichtig auch -, dass Russland auch ein nicht unerhebliches demokratisches Potenzial hat. Ich kann daran erinnern: Vor 30 Jahren gab es mehrere Demonstrationen in Moskau mit einer Million Beteiligten, wo sie die Demokratie gefordert haben und die damaligen reaktionären Putschisten gestürzt haben. Es ist ein demokratisches Potenzial, das jetzt erwacht. Die Führungsfigur Nawalny ist ein Konsolidationspunkt für die demokratische Bewegung, der bisher fehlte, und wir sehen, dass auch die Forderungen nach Demokratie in Russland laut werden.
Heinlein: Sie sagen, es herrscht ein autokratisches Regime in Russland. Ist die Idee politischer Freiheit eine Bedrohung für das Herrschaftssystem von Präsident Putin?
Levits: Ja, genau. Es ist ein Regime, das nicht mehr totalitär ist wie zur Zeit der Sowjetunion. Zur Zeit der Sowjetunion waren solche Demonstrationen nicht möglich. Aber es ist ein autokratisches Regime, das gewisse Lockerungen zulässt, aber das darf nicht das Regime des Präsidenten gefährden, und genau das ist ja die Demokratie, dass die Regierung gewechselt werden kann, durch freie Wahlen, und genau das will man nicht. Genau das wollen die Demonstranten, will die demokratische Bewegung in Russland.

"Jetzt ist ganz Russland mit dabei"

Heinlein: Welche Erklärung haben Sie für dieses äußerst harte Vorgehen gegen die Demonstranten? Hat der Kreml Angst vor der Opposition?
Levits: Es scheint so, weil diesmal nach längerer Zeit wiederum Massenproteste jetzt sichtbar werden, organisiert werden, und es ist interessant, dass das nicht nur in Moskau, sondern in vielen Städten Russlands der Fall ist. Es hat alles begonnen im fernen Osten, in Wladivostok, der entferntesten Stadt von Moskau in Russland. Das ist eine neue Dimension. Die demokratische Opposition waren bisher meistens auf Moskau und Sankt Petersburg beschränkt, aber jetzt ist ganz Russland mit dabei.
Populismus und Nationalismus - Nawalnys politische Agenda
Alexej Nawalny ist Russlands bekanntester Oppositioneller, mit seinen Anti-Korruptionsvideos erreicht er ein Millionenpublikum. Aber seine politischen Positionen sind bis heute weitgehend unklar.
Heinlein: Ganz Russland. Warum sind so viele Menschen offenbar bereit, ihre Freiheit und Gesundheit für Alexej Nawalny zu riskieren? Oder geht es letztendlich den Menschen um mehr als um die Person des Kreml-Kritikers?
Levits: Nein. Ich glaube, Nawalny ist eine Führungsfigur, und es ist wichtig, dass eine solche Bewegung eine Koordinationsstelle, eine Führung hat. Aber es geht nicht um Nawalny, selbst wenn er freigelassen würde. Die Demokratiebewegung geht weiter. Sie will wirklich Demokratie in Russland. Das ist der Punkt und genau deshalb ist diese Bewegung in Russland für das Regime doch gefährlich.
Heinlein: In Russland gibt es ein breites demokratisches Potenzial, haben Sie gesagt, Herr Präsident Levits.
Levits: Ich habe nicht gesagt breites, aber ein demokratisches Potenzial.

"Wir müssen die Demokratiebewegung unterstützen"

Heinlein: Okay, ein demokratisches Potenzial. Wie sollte denn der Westen, wie sollten sich denn die EU verhalten, um diese Demokratiebewegung, dieses demokratische Potenzial in Russland zu stärken?
Levits: Erstens: Die Europäische Union ist eine Union der demokratischen Staaten. Das sind unsere Werte, unsere Grundwerte: Demokratie. Zweitens: Wir sagen, dass Demokratie nicht nur für uns selbst, für uns Europäer gut ist, sondern wir sagen, dass Demokratie und Menschenrechte universell sind, universelle Werte. Deshalb sind wir prinzipiell verpflichtet, zumindest politisch, Demokratiebewegungen oder Forderungen nach Demokratie in der ganzen Welt zu unterstützen. Das bedeutet erst mal eine symbolische Politik und dann kann man sehen, was man genau tun kann. Aber wir können nicht sagen, wir unterstützen nicht die Demokratiebewegung.
Dann würden wir gegen unsere eigenen Prinzipien verstoßen. Wir müssen die Demokratiebewegung unterstützen. Das machen wir auch. Und dann kann man überlegen, ob noch weitere Maßnahmen getroffen werden können. Sanktionen können verhängt werden und es gibt auch eine Reihe von Maßnahmen. Aber genauso wie in Belarus, das ist Sache des russischen Volkes, des eigenen Volkes, die Demokratie zu erkämpfen, und wir können unterstützen. Das ist unsere Rolle.
Historiker - "Es ist richtig zu versuchen, im Kontakt mit Russland zu bleiben"
Der Umgang mit dem russischen Oppositionellen Alexei Nawalny zeige, dass sich der Kreml nicht vom Westen beeinflussen lasse, sagte der Historiker Martin Hoffmann im Dlf. Die EU dürfe sich jetzt aber nicht abschotten.
Heinlein: Als Reaktion auf die Proteste letzte Woche haben die Außenminister der drei baltischen Länder, also auch der lettische Außenminister, einen harten Kurs der EU gegenüber der russischen Regierung gefordert. Sie haben jetzt auch das Stichwort Sanktionen genannt. Wie rasch sollten jetzt Sanktionen verhängt werden und wie könnten diese aussehen?
Levits: Ja! Die Europäische Union hat einen Sanktionsmechanismus und es ist nicht vor langer Zeit ein Regime beschlossen worden, welches die Union gegen flagrante Verletzungen der Menschenrechte gegen Drittstaaten verhängen kann. Ich glaube, wir müssen prüfen, ob dieses Regime in der Tat umgesetzt werden kann in diesem Falle. Wir haben hier auch ein Instrument als Europäische Union und ich glaube, das ist auch richtig jetzt, weil es ist für die Menschen dort oder für die demokratische Bewegung sehr wichtig die symbolische, die politische Unterstützung. Das ist äußerst wichtig. Das stärkt die Moral der Demokratiebewegung.
Ich kann das sagen aus lettischer Erfahrung vor 30 Jahren. Der Westen hat auch politisch unterstützt die Demokratiebewegung in den baltischen Staaten und damals war das für uns sehr wichtig. Wir sahen, dass wir nicht alleine sind, dass wir für die rechte Sache gekämpft haben, und genauso kann ich nachvollziehen, wie die Demokratiebewegung in Russland das sieht. Deshalb politische, prinzipielle Unterstützung der Europäischen Union ist wichtig – aus zwei Gründen: für die Russen und zweitens, um sich nicht schämen zu müssen als Demokraten, dass wir da gezweifelt haben an unseren eigenen Prinzipien.

Nord Stream 2 - "Da haben wir in der EU unterschiedliche Meinungen"

Heinlein: Müssen wir Deutschen uns schämen für die Geschäfte, für die guten Geschäfte mit Russland, unter anderem die Gas-Pipeline Nord Stream 2? Wäre, Herr Präsident Levits, die aktuelle Situation aus Sicht Lettlands jetzt ein Anlass, dieses Projekt, dieses umstrittene Projekt, diese Zusammenarbeit noch einmal zu überdenken?
Levits: Wir als Europäische Union handeln mit vielen, auch undemokratischen Staaten. Das ist eine Sache. Aber was Nord Stream 2 anbelangt, da haben wir in der Europäischen Union unterschiedliche Meinungen, und zwar relativ unabhängig jetzt von der aktuellen Situation in Russland. Wir meinen, auch Lettland meint, dass wir unsere Abhängigkeit vom russischen Gas nicht erhöhen sollen, sondern genau im Gegenteil verringern sollen, und diese Pipeline ist genau das Gegenteil. Aber ich sehe auch, dass in Deutschland selbst die Diskussionen darüber bestehen. Mal sehen, das ist von Deutschland zu entscheiden. Aber die Europäische Union ist auch kritisch darüber und übrigens die Vereinigten Staaten auch, die neue Administration Biden ebenfalls. Das muss man bedenken, ja.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.