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Ley: Bahn wollte keine Stellung zum ICE-Unglück von Eschede beziehen

Der Filmregisseur Raymond Ley hat in seinem TV-Dokudrama "Eschede - Zug 884" die erste Stunde nach dem ICE-Unglück vor zehn Jahren nachgestellt. Bei der Realisierung des Filmes hätte er sich gewünscht, dass die Bahn zu den technischen Nachlässigkeiten, die zu dem Unglück führten, Stellung bezogen hätte. Auch die Bundespolitik hätte sich nicht geäußert, bedauerte Ley.

Moderation: Jochen Fischer | 03.06.2008
    Fischer: 101 Menschen sind heute vor genau zehn Jahren beim bislang schwersten Eisenbahnunfall in der Bundesrepublik ums Leben gekommen. Bei Eschede in Niedersachsen entgleiste ein schnell fahrender ICE, brachte dabei eine Brücke zum Einsturz und seit damals wurden viele Dokumentationen und Hintergründe über das Unglück geschrieben und gesendet. Raymond Ley hat einen Film fürs Fernsehen über die Ereignisse gedreht. "Eschede - Zug 884" lief bereits am Freitag in der ARD und heute Abend - genau am Jahrestag des Unglückes von Eschede - wird das Dokudrama im NDR noch einmal gezeigt. Ich habe mit dem Regisseur vor der Sendung gesprochen und ihn zunächst gefragt, ob es den Überlebenden geschadet habe, sich noch einmal mit den Ereignissen zu beschäftigen?

    Ley: Ich glaube das nicht. Wir haben das lange vorher abgeprüft, haben gesagt, wir würden gerne mit ihnen in einer kleinen dokumentarischen Sequenz im Originalzug drehen. Die waren sehr überrascht, dass es diesen letzten Wagen, den Wagen, unter dem dieser Radreifen riss, überhaupt noch gibt. Wir haben den per Zufall über die Recherche entdeckt. Polizeibeamte haben gesagt, der steht doch da irgendwo beim THW in Hoya, und dann haben wir dort auch gedreht. Ich finde das einen der berührendsten Momente, die wir erzeugen konnten, im ganz, ganz kleinen Team mit den Leuten noch mal durch diesen alten Wagen gehen.

    Fischer: Also alle, die Sie angesprochen haben, waren bereit mitzumachen?

    Ley: Nicht unbedingt. Wir hatten auch Feuerwehrleute, die gesagt haben, ich muss das jetzt nicht noch mal haben. Ich brauche das nun neun Jahre später nicht noch einmal. Das waren aber die wenigsten. Nachdem sich das Gros der Feuerwehrleute in Eschede überlegt hatte, daran teilzunehmen, hatten wir dann auch am Drehtag 80 bis 90 Leute, die bereit waren, die Ereignisse eine Stunde nach dem Unglück nachzustellen, nachzuspielen, nachzuinszenieren.

    Fischer: Was glauben Sie war der Anreiz für die Menschen, bei Ihnen mitzumachen, vor allen Dingen der Angehörigen der Opfer?

    Ley: Die Angehörigen der Opfer glaube ich wollten die Erinnerung an die Toten nicht verblassen lassen, auch über die Geschichte noch mal erzählen. Man kennt das ja auch, dass man über Dinge, von denen man begeistert ist, die man gut in Erinnerung hat, die man gut aufgehoben hat, gerne erzählt. Das war ein langer Prozess, bis die Zeitzeugen bereit waren, in der Länge dann ins Interview zu gehen. Die dauern ja bei den Dokudramen so um die drei bis vier Stunden und manche haben sich ein halbes Jahr oder acht Monate Zeit gelassen, bis sie zugesagt haben.

    Fischer: Sie haben davon gesprochen, es seien berührende Szenen gewesen. Wenn Sie uns einmal einen Einblick geben, welche Szene hat Sie denn besonders berührt, um jetzt mal ein kleines Beispiel aus dem Film zu nehmen, den ja noch nicht alle gesehen haben?

    Ley: Wir haben ja mit den Feuerwehrleuten diese Stunde nach dem Unglück nachgestellt. In dem Moment, wo die praktisch die Toten oben abgelegt haben - das haben sie so gemacht, wie sie es damals auch gemacht haben, vielleicht mit dem einen oder anderen Handgriff -, da merkte man: Das ist sehr, sehr nahe an dem, was damals wirklich stattgefunden hat, und an dem, was wir jetzt dokumentarisch inszeniert haben und erzeugen. Im Augenblick habe ich das einfach beobachtet, wie sich jemand zu den Leichen setzt und das irgendwie bewacht hat. Das machen wohl Feuerleute, dass da jemand noch ein Auge drauf hat. Das fand ich sehr, sehr berührend.

    Fischer: Vom Fernsehzuschauer aus betrachtet, ist der nicht eigentlich verwirrt, wenn er im Spielfilm Schauspieler erwartet und in Dokumentationen erwartet er Laien? Hier aber bekommt er beides gemischt angeboten.

    Ley: Ich glaube der Zuschauer kann inzwischen mehr, als wir ihm manchmal zutrauen, und er ist an die Form dieses Dokudramas ein bisschen gewöhnt über Breloer und Königstein, die dort ja viel Boden wett gemacht haben. Ich glaube wir achten immer sehr, sehr darauf, dass die Führung durch den Zeitzeugen nicht verloren geht und dass der Schauspieler immer im Bann oder sehr stark auch von dem Zeitzeugen geführt wird.

    Fischer: Was ist denn der Vorteil dieses eher gefühlsmäßigen Zugangs zu den Ereignissen?

    Ley: Ich glaube nur so haben wir die Möglichkeit, zum Beispiel die Geschichten der drei Männer, die ja ihre Familien dort verloren haben, auch von Anbeginn zu erzählen. Wir haben ja bei dem Film mithin das Problem, dass das dokumentarische Material seine Geburtsstunde ab 12 Uhr Mittags hat. Dann sind die ersten Kameras dort gewesen. Dann kann man auf das eine oder andere Archivbild zurückgreifen. In der Summe waren doch relativ wenige Bilder vorhanden, um vielleicht auch den Anbeginn der Geschichte zu erzählen.

    Fischer: Es gibt ja ganz schnelle, ganz fließende Übergänge zwischen Spielszenen und Szenen mit den Überlebenden, mit den Reisenden. Die Übergänge sind manchmal gar unmerklich. Schauspieler gleichen den Beteiligten. Wie haben denn diese darauf reagiert, ihr Alter Ego im Film zu sehen?

    Ley: Sehr verhalten. Ich würde nicht sagen reserviert, aber sie haben wenig darüber gesprochen. Ich glaube die drei entscheidenden Zeitzeugen, die den Film sozusagen prägen, die haben alle den Film vorher in Einzelvorführungen gesehen und ich glaube es ging mehr um die Botschaft des Filmes oder wie dieser Film gemacht wird, in welche kritische Situation er sich hineinstellt, oder ob Herr Löhn sich jetzt in Jockel Tschirsch, der ihn spielt, wiederfindet. Es war überhaupt gar keine Diskussion.

    Fischer: Es gibt andere nachgestellte Szenen, in denen ausschließlich Schauspieler vorkommen, deren Rollenvorbilder dann nicht zu sehen sind. Das sind die Mitarbeiter von Bahnbetriebswerken, also Bahntechniker, die dort offenbar von der Polizei verhört werden. Wollte von denen niemand, oder durfte von denen niemand vor die Kamera?

    Ley: Das waren alles Zeugenaussagen, die die Soko Eschede eingefahren hatte, und wir wollten uns genau an diese Vorlagen halten. Wir wollten nicht noch mal Originalzitate neu erzeugen. Ich glaube auch all diesen Mitarbeitern wäre das Auskunftsrecht uns gegenüber von der Bahn versagt worden. Wir wollten uns auf diese Aktenlage der Soko Eschede beziehen und sozusagen deren Aussagen dokumentieren. Diese Aussagen dokumentieren ja in hohem Maße, dass sie A nichts davon gewusst haben, wie sie dann technisch hätten mit diesem Radreifen umgehen müssen, und dass sie auch in großem Maße überfordert waren und auch von ihrer Betriebsleitung nicht richtig eingewiesen. Es ist nicht letztlich der Disponent in München oder der Schlosser an diesem Unfall Schuld, sondern die technische Leitung des Werkes.

    Fischer: Ist das Ihre These und können Sie die im Film belegen?

    Ley: Man merkt zum Beispiel, dass sie nicht gewusst haben, dass sie eigentlich jeden Radreifen von innen überprüfen müssen. Auch die Soko Eschede sagt am Ende des Films, die hätten woanders hingucken müssen, um diese Risse zu sehen, und auch die Wartung der Ultraschall-Anlage, die sie gehabt haben, hat nicht richtig funktioniert. Die hat solche irrsinnigen Werte angezeigt, dass sie zum Teil einfach gesagt haben, die können nicht stimmen. Wir können das so nicht akzeptieren, das kann gar nicht so sein. Es kann diesen unrunden Wert nicht geben. Das ist das ganz wichtige an der Auseinandersetzung mit diesen Radreifen. Wenn es eine Unrundheit gegeben hat wie bei dem Radreifen, der ja unfallursächlich war, wurde das interpretiert als Komfort-Mängel, nicht als Sicherheitsmangel. Auch wenn die gesagt haben, wir werden den jetzt mal austauschen, ist das immer nur unter dem Dekret ausgetauscht worden, es kann den Komfort-Schaden geben, nie die Sicherheit. Das heißt die waren auch nicht richtig vorgewarnt.

    Fischer: Die Bahn hat Ihren Film ja nicht unterstützt. Sie haben es eben bereits gesagt. Welchen Einfluss hätte denn das auf die Konstruktion Ihres Films gehabt, hätte die Bahn sich geäußert?

    Ley: Das ist jetzt eine Mutmaßung, was dabei herausgekommen wäre, in welchem Maße.

    Fischer: An Objektivierung!

    Ley: Auf jeden Fall! Ich hätte mir das sehr gewünscht. Ich finde auch nach zehn Jahren auf so einem Sendeplatz in der ARD oder im NDR fehlt die Bahn. Da fehlt Herr Ludewig, der damals im Vorstand war. Da fehlt Herr Mehdorn. Aber man konnte sich nicht durchringen, auch Stellung dazu zu beziehen. Sogar auch die Bundespolitik bezieht keine Stellung dazu. Ich sehe nichts von Tiefensee. Ich weiß nicht, ob die das Thema einfach jetzt, wo sie an die Börse wollen, zur Seite legen.

    Fischer: Was sagen Sie denn demjenigen Zuschauer, der den Film sieht, gesehen hat und hinterher meint, die Bahn sei Schuld an dem Unfall von Eschede?

    Ley: Was ich dem sage?

    Fischer: Ja.

    Ley: Der Film in seiner Summe hat ja eine Kernaussage und die heißt, dass es eine technische Nachlässigkeit gab und dass man einen Radreifen ohne ausreichende Tests eingeführt hat. Und vor allen Dingen hat man diese Tests, als die Radreifen unter den ICEs liefen - das sagen zum Beispiel die Gutachter vom Fraunhofer-Institut -, auch nicht nachgeholt. Das wäre das leichteste gewesen.

    Fischer: Der Filmregisseur Raymond Ley über sein TV-Dokudrama "Eschede - Zug 884".