Der Campus der "Lebanese American University" in Beirut. Bei strahlendem Sonnenschein sitzen viele Studenten zusammen auf dem Rasen. Es wird gelacht und geredet. Ein Gesprächsthema ist immer wieder die Parlamentswahl im vergangenen Mai.
"Hier sind Wahlen bedeutungslos", sagt der Politikwissenschaftler Hilal Kishan. "Nichts ändert sich dadurch. Unsere Politik wird von den muslimischen und christlichen Glaubensgemeinschaften bestimmt. Im Libanon kennt man das Wahlergebnis schon vor der Abstimmung."
Die 128 Sitze des Parlaments sind zur einen Hälfte für Abgeordnete christlicher Parteien reserviert, die andere Hälfte ist für muslimische Volksvertreter vorgesehen. Dies wurde 1989 festgelegt und beendete den 15 Jahre währenden Bürgerkrieg.
Außerdem ist geregelt, wer die höchsten Ämter im Staat inne hat: Der Regierungschef muss immer ein Sunnit sein, der Parlamentspräsident ein Schiit und das Amt des Staatsoberhaupts hat ein maronitischer Christ inne.
Im Libanon gibt es 18 offiziell anerkannte Religionen. Buddhisten, Hindus und die Anhänger der Bahai-Religion gehören nicht dazu. Diese Gläubigen können zwar ihre Religion ausüben, aber für sie ist kein Sitz im Parlament vorgesehen.
Der Frust der Jungen
Nicht nur das politische System im Libanon ist ein immer wieder kehrendes Gesprächsthema, sondern die Studenten beschäftigt mit Sorge die Frage, wie es nach dem Studium weiter gehen soll. Die junge Studentin Aisha:
"Ich bin mir noch im unklaren. Bis zu meinem Abschluss bleibe ich auf jeden Fall hier. Vielleicht versuche ich danach, eine Arbeit in Schottland zu bekommen. Dass viele junge Leute ins Ausland abwandern, ist wirklich ein großes Problem im Libanon."
Dr. Walid Marrouch, Wirtschaftswissenschaftler an der Lebanese American University in Beirut:
"Alle Religionen im Libanon sind von der Emigration betroffen. Die Jugendlichen der verschiedenen Religionsgemeinschaften haben alle das gleiche Ziel: Sie wollen woanders ein angenehmeres Leben führen und Karriere machen. Und genug verdienen, um ihre Familien in der Heimat unterstützen zu können. Die Jugendlichen haben die gleichen Sorgen, egal welcher Religion sie angehören."
Seit Jahren verlassen vor allem junge Libanesen das Land, um im Ausland eine Arbeitsstelle zu finden.
"Dies hat mit Frustration zu tun, vor allem unter den Jugendlichen", sagt Walid Marrouch. "Sie sind unzufrieden mit ihrem Leben, manche mit ihrer Wohnsituation auf dem Land und andere mit den beengten Wohnverhältnissen in der Stadt. Und sie beklagen sich über Korruption und die fehlenden Arbeitsplätze im Land. Junge Leute, die besonders viel Kritik üben, wollen am ehesten das Land verlassen."
Destination Golf
Der Wirtschaftswissenschaftler Marrouch hat zusammen mit seinem Kollegen Ali Fakih untersucht, warum so viele junge Libanesen das Land verlassen.
"Die jetzige Ausreisewelle hat nichts mit der Krise in Syrien zu tun, meint Walid Marrouch. "Sie begann bereits 1990 nach dem Ende des Bürgerkriegs im Libanon. Bei früheren Ausreisewellen verließen die Leute den Libanon meistens aus politischen Gründen, jetzt stehen wirtschaftliche Aspekte im Vordergrund."
Die erste Ausreisewelle fand Mitte des 19. Jahrhunderts statt. Zu dieser Zeit verließen viele Christen das Gebiet, auf dem sich heute der Libanon erstreckt. Damals war das bevorzugte Ziel der Auswanderer die Vereinigten Staaten. Später suchten Menschen aus dem Libanon bessere Lebensbedingungen in Westafrika, Europa und Nord-Amerika.
Walid Marrouch:"Die frühen Ausreisewellen gingen vorwiegend nach Amerika und Afrika. Das änderte sich aber im Laufe der Zeit, denn es gab jetzt mehr freie Arbeitsstellen in den Golfstaaten, in Dubai, Saudi-Arabien und Bahrain etwa. In der Golfregion arbeiten nun ein halbe Million Libanesen."
Im Libanon vergibt man freie Arbeitsplätze bevorzugt an Familienangehörige oder Verwandte. Sollte dies nicht möglich sein, wird für die Stelle jemand aus der eigenen Glaubensgemeinschaft gesucht. An andere freie Arbeitsplätze kommt man fast nur durch Beziehungen. Ein Arbeitssuchender kann sich besonders glücklich schätzen, wenn sich der Führer seiner Glaubensgemeinschaft für ihn einsetzt. Die Religionsführer besetzen auch die Spitzenpositionen der Politik und sie haben daher entsprechende Beziehungen.
Kritik am Einfluss der Religionen
Der Politikwissenschaftler Hilal Kishan sagt: "Wenn man Hilfe braucht, muss man sich an den Führer seiner Glaubensgemeinschaft wenden. Man kann nicht eine einflussreiche Person einer anderen Religion um Unterstützung bitten. Hilfe bekommt man aber nur, wenn man sich dem Religionsführer gegenüber absolut loyal verhält: Dienstleistung gegen Loyalität. So ist das in unserem System."
Den Politikern im Libanon wird vorgeworfen, ihre Ämter nur zum eigenen Vorteil zu nutzen und sich durch Korruption und öffentliche Gelder zu bereichern.
Professor Makram Rabah von der American University in Beirut:
"Unsere politische Elite, das sind auch gleichzeitig die Religionsführer, trifft wichtige Entscheidungen außerhalb des Parlaments. Und die Politiker bereichern sich an öffentlichen Geldern, bezahlen keine Steuern und nutzen staatliches Land, ohne dafür zu bezahlen. Diese Vergehen der Politiker werden nicht untersucht und bestraft, da es keine unabhängige Gerichtsbarkeit gibt. Die Politiker ernennen die Richter und diese treffen deshalb auch keine freien Entscheidungen. Und die Justiz unternimmt überhaupt nichts gegen korrupte Politiker."
Für Paare unterschiedlichen Glaubens ist es nicht möglich, im Libanon zu heiraten. Diese Paare schließen die Ehe im Ausland, oft in Malta. Die Verbindung wird im Libanon anerkannt. Nach der Hochzeit wandern viele junge Paare in die Golfstaaten ab, um dort zu arbeiten. Denn eine Stelle im eigenen Land zu finden, ist nicht nur äußerst schwierig, sondern für Universitätsabsolventen auch finanziell wenig attraktiv. 90% der Jugendlichen sind der festen Überzeugung, dass Korruption und Vetternwirtschaft im Libanon an der Tagesordnung sind. Dass dies endlich ein Ende haben muss, fordern vor allem die Jugendlichen. Und sie wollen sich auch nicht mehr mit dem starken Einfluss der Religion auf Politik und Wirtschaft im Land abfinden.