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Liberalismus
Unsere Freiheit, von außen gesehen

Die Freiheit gehört zu den Grundwerten des Westens - doch diese politisch-gesellschaftliche Idee ist zunehmend schweren Anfechtungen ausgesetzt: von religiösen Fundamentalisten und autoritären Regimes. Wie bestimmen in dieser Situation nicht-westliche Intellektuelle den Begriff der Freiheit?

Von Stefan Weidner | 20.01.2019
    Stefan Weidner
    Islamwissenschaftler, Autor und Übersetzer aus dem Arabischen: Stefan Weidner (Deutschlandradio / Manfred Hilling)
    Die seit 1989 dominierende Leitvorstellung Freiheit ist inzwischen auf allen Ebenen schweren Anfechtungen ausgesetzt: wirtschaftlich, kulturell, politisch. Schien es nach 2001 vorerst nur der radikale Islam, der unsere Wertvorstellungen bedrohte, sind die illiberalen Strömungen inzwischen weltweit auf dem Vormarsch. Als Antwort darauf verschanzen sich weite Teile des liberalen Meinungsspektrums im Westen hinter einem dogmatischen Begriff von Freiheit, der für die anstehenden Auseinandersetzungen mit dem Autoritarismus keine neuen Perspektiven eröffnet.
    Hilfreiche Perspektive von außen
    Eine differenzierte Sicht auf unsere Vorstellungen von Freiheit wird hingegen derzeit von zahlreichen nicht-westlichen Intellektuellen formuliert. Sie ist geschult ebenso in der Auseinandersetzung mit einem hegemonialen Westen wie mit autochthonen autoritären Regimen und Gesellschaftsstrukturen. Stefan Weidner skizziert in seinem Essay, wie der Freiheitsbegriff außerhalb des Westens während der letzten Jahre gedacht worden ist und ob diese Überlegungen den unter Druck geratenen Liberalismus erneuern und um hilfreiche Perspektiven ergänzen können.
    Stefan Weidner, geboren 1967, ist Islamwissenschaftler, Autor und Übersetzer, und lebt in Köln. Zuletzt erschien von ihm im Hanser Verlag "Jenseits des Westens. Für einen neuen Kosmopolitismus" und die Übersetzung der Gedichte des mittelalterlichen arabischen Mystikers Ibn Arabi: "Der Übersetzer der Sehnsüchte" (Verlag Jung und Jung).

    1873 fantasierte der französische Schriftsteller Jules Verne in seinem gleichnamigen Roman von einer "Reise um die Welt in achtzig Tagen". Was damals noch gar nicht möglich war, gelingt heute in 48 Stunden, also 40 Mal so schnell. Die Welt, so könnten wir daraus schließen, ist um den Faktor 40 geschrumpft; oder wenn man den Effekt der elektronischen Kommunikationsmedien hinzurechnet, womöglich noch viel stärker.
    Der Hauptsatz des klassischen Liberalismus
    Wenn der Hauptsatz des klassischen Liberalismus lautet, dass die Freiheit des einzelnen Menschen ihre Grenze erst an der Freiheit der anderen finden soll, so bedeutet dies mehr als 200 Jahre nach der Entwicklung dieser Idee, dass proportional zur Welt zwangsläufig auch die Freiheit kleiner wird. Je enger die Welt mit Hilfe der Technik zusammenrückt, desto schneller stößt man an die Freiheiten der anderen - auch wenn wir es oft gar nicht merken, weil etwa vom Klimawandel vor allem andere Weltgegenden betroffen sind. Der alte Grundsatz des Liberalismus läuft heute auf die Einsicht hinaus, dass es die Freiheit, wie sie die Aufklärer meinten, bald kaum noch geben dürfte, und zwar nicht, weil die Menschen sie nicht mehr wollen, sondern weil die Welt ein anderer Ort geworden ist.
    Intellektuelle nicht-westlicher Herkunft sind für diese Einsicht besonders sensibilisiert, denn außerhalb des Westens sind die Menschen seit jeher viel stärker mit den negativen Folgen und den Kosten unserer Freiheit konfrontiert gewesen als wir.
    Ihre Überlegungen zu diesem Thema werden viel zu selten gehört. Das wundert nicht, denn das Triumphgeschrei des Liberalismus nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Ostblocks hallt immer noch nach, allen Krisen zum Trotz:
    "Es sind gute Nachrichten zu vermelden. (…) die liberale Demokratie bleibt das einzige klar umrissene politische Ziel, das den unterschiedlichen Regionen und Kulturen rund um die Welt gemeinsam vor Augen steht. Außerdem haben sich liberale wirtschaftliche Prinzipien - der 'freie Markt' - ausgebreitet, und das hat sowohl in den industriell entwickelten Ländern als auch in Ländern, die vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs noch zur verarmten Dritten Welt gehörten, zu nie da gewesenem materiellem Wohlstand geführt."
    So lautete 1992 die optimistische Voraussage des amerikanischen Politikwissenschaftlers Francis Fukuyama. Sie enthielt das Versprechen, dass es auch den anderen Ländern so gut gehen würde wie denen des Westens - unter der Voraussetzung freilich, dass sie die Systemüberlegenheit des Westens anerkennen, sich anschließen, seinen Vorgaben folgen und mitspielen würden.
    25 Jahre später hat der Glaube an den Liberalismus einige schwere Kratzer bekommen. Für den harten Kern seiner Anhänger gilt er indessen nach wie vor als alternativlos. Der israelische Militärhistoriker Yuval Noah Harari, der in seinen populären Sachbüchern regelmäßig für den Liberalismus wirbt, schreibt in seinem Buch "Homo Deus":
    "2016 gibt es keine Alternative zum liberalen Paket aus Individualismus, Menschenrechten, Demokratie und freiem Markt. (…) Selbst diejenigen, die Börsen und Parlamente mit heftigster Kritik überziehen, verfügen über kein brauchbares Alternativmodell, wie man die Welt regieren könnte. Zwar gehört es zum beliebtesten Zeitvertreib westlicher Akademiker, am liberalen Paket herumzunörgeln, aber bislang haben sie nichts besseres im Angebot."
    Und in seinem 2018 erschienenen "21 Lektionen für das 21. Jahrhundert" wiederholt er:
    "Jeder Liberale, den die Ereignisse der letzten Jahre zur Verzweiflung getrieben haben, sollte sich daran erinnern, um wieviel schlimmer die Lage 1918, 1938 und 1968 aussah. Letzten Endes wird die Menschheit das liberale Narrativ nicht aufgeben, einfach weil sie gar keine andere Wahl hat."
    Ist jedoch die Alternativlosigkeit, die Harari konstatiert, wirklich ein gutes Argument für den Liberalismus? Rechtfertigt sie nicht vielleicht sogar den von Harari kritisierten "beliebten Zeitvertreib westlicher Akademiker", nämlich nach besseren Lösungen zu suchen?
    Der vorherrschende politische Diskurs in Nord- und Westeuropa
    Nicht zuletzt die These von der angeblichen Alternativlosigkeit des Liberalismus dient seinen Kritikern als Ansporn, nach genau diesen Alternativen zu suchen und ihrer von Harari verspotteten Lieblingsbeschäftigung nachzugehen. Eine der von Harari kritisierten AkademikerInnen dürfte die in Australien lehrende Philosophin Toula Nicolacopoulos sein. Sie stellt fest:
    "Die politische Philosophie im englischsprachigen Raum geht heutzutage von der Annahme aus, dass der Liberalismus obsiegt hat. Das heißt, sie geht davon aus, dass es unvernünftig, wenn nicht pathologisch und irrational ist, sich dem Liberalismus zu widersetzen, gleich ob dem Liberalismus als Denkweise oder als soziale Ordnung."
    In dieselbe Kerbe schlägt der aus Jordanien stammende Historiker Joseph Massad, der heute an der New Yorker Columbia University lehrt. Unter Berufung auf Toula Nicolacopoulos ergänzt er:
    "Diese Haltung ist freilich kaum auf die englischsprachige politische Philosophie beschränkt. Vielmehr ist sie der vorherrschende politische Diskurs in Nord- und Westeuropa und darüber hinaus. Die Vorherrschaft des Liberalismus ist derart, dass Einspruch dagegen zu erheben bedeuten würde, unsinnigerweise die moralische und politische Überlegenheit derjenigen Werte abzuleugnen, welche die liberalen Gesellschaften im Vergleich zu ihren historischen oder gegenwärtigen Alternativen bestimmen."
    Als einzige Alternative zum Liberalismus werde von liberalen Theoretikern nun ausgerechnet der Islam dargestellt, schreibt Joseph Massad. Aus dieser Gegenüberstellung folgt, dass es angeblich nur die Wahl zwischen Liberalismus oder Islam gebe, das heißt,
    "Liberalismus oder Islamofaschismus, islamischer Totalitarismus, Despotismus und so weiter."
    In dieser Sichtweise erscheint der Islam zugleich als die einzige ernsthafte Bedrohung des Liberalismus. Daher müssten die Muslime zum Liberalismus bekehrt werden, stellt Massad kritisch fest, der sicher nicht im Verdacht steht, ein islamischer Fundamentalist zu sein.
    "Wir werden sehen, wie amerikanische und europäische Missionare des Liberalismus, das heißt diejenigen, die sich einbilden, die globale Gemeinschaft werde in Zukunft von einem säkularen Kleriker geführt, versuchen, alle Muslime zu ihrem Wertesystem und ihrer sozialen und politischen Ordnung zu bekehren, um sie so vor ihrem despotischen Herrschaftssystem zu retten."
    Eine derartige Kritik am Liberalismus aus der Feder von säkularen arabischen Denkern ist keineswegs selbstverständlich. Noch vor wenigen Jahren schien es, dass auch die arabische Welt ihr revolutionäres "1989" erleben würde. Die jungen Eliten der arabischen Welt, von denen 2011 der Anstoß zu den arabischen Revolten ausging, identifizierten sich zu weiten Teilen mit liberalen, westlichen Wertvorstellungen, allerdings häufig mit denen des eher linken, sozialdemokratischen oder sozialistischen Spektrums.
    Kritik am Liberalismus von säkularen arabischen und indischen Denkern
    Die Weigerung der arabischen Revolutionäre, den Liberalismus mit dem Neoliberalismus und einem entfesselten Kapitalismus westlicher Couleur gleichzusetzen, dürfte einer der Gründe gewesen sein, warum die Unterstützung aus dem Westen halbherzig blieb. Eine Wiederauferstehung des Sozialismus oder eines dezidierten Linksliberalismus wollte man nicht riskieren. Und konnte man mit den autoritären Regimen nicht ohnehin viel leichter ins Geschäft kommen als mit Demokraten, Umweltschützern und Revolutionären? Als schließlich illiberale und radikalislamische Akteure massiv in die Revolutionen eingriffen, besonders Saudi-Arabien, Qatar, Iran, Russland und die Türkei, war es mit den Hoffnungen auf eine neue Morgenröte des Liberalismus bald vorbei.
    Der ägyptisch-englische Schriftsteller Omar Robert Hamilton, der die Revolution in Kairo selbst als Medienaktivist begleitet hat, zeichnet in seinem tagebuchartigen Roman "Stadt der Rebellion" von 2017 eine bittere Abrechnung mit der Weltlage. Es ist ein Stimmungsbild der revolutionären Jugend, die für die liberalen Werte gekämpft hat, aber von der westlichen Praxis des Liberalismus zutiefst desillusioniert ist und nun verzweifelt einen Ausweg sucht:
    "Wie können wir je anders sein? Du hast eine friedliche Revolution, um einen Diktator zu stürzen, aber um einen friedlichen Übergang zu bewerkstelligen, brauchst du Wahlen, und die Einzigen, die die Ressourcen und die Netzwerke haben, um die Wahlen zu gewinnen, sind Ex- und Möchtegern- Diktatoren. Wir sitzen in einem Gemälde von Escher fest. (...) Wo sollen wir hin in dieser Welt, in der das Einzige, was sich frei bewegt, der treibende Müll fiktiver Kredite ist? Wo gehen wir hin, wenn jeder Zentimeter der Erde bereits jemandem gehört, umfassend bewertet ist und bald von Monsanto aufgekauft wird, wenn jeder ausgegebene Cent ein anderes menschliches Wesen in Knechtschaft hält, bevor er zu einer Patronenhülse umgeschmolzen wird? (…) Gab es einen Moment, in dem wir unser Schicksal tatsächlich selbst in der Hand hatten, oder war das alles nur eine Illusion, Kino, das wir für Wirklichkeit hielten? Wie siegt man? Wie kann man je siegen? Ohne Waffen und Hubschrauber und Kämpferbataillone und Radiosender? Wie kann irgendwer von uns je siegen?"
    Es fällt schwer, diese Gedankengänge als Ausgeburt von Spinnern, Verrückten oder religiösen Radikalen abzutun, wie Fukuyama und Harari es suggerieren. Die arabischen Revolutionen sind wesentlich von Aktivisten wie Omar Robert Hamilton und den von ihm beschriebenen Kreisen getragen worden. Wenn sie sich - ohne deswegen zum Islam oder zu den Despoten überzulaufen - vom Liberalismus und vom Westen abwenden, kann dies nicht einfach abgetan werden, sondern deutet auf ein schwerwiegendes Versagen liberaler Politik hin.
    Es stellt sich die Frage, ob dieses Versagen als ein dem Liberalismus äußerlicher Fehler anzusehen ist, wie wenn man eine Maschine falsch bedient; dies scheint die Deutung der Apologeten des Liberalismus wie Yuval Noah Harari oder Francis Fukuyama zu sein. Oder ob es sich um einen Systemfehler handelt, der auf das Scheitern des Liberalismus insgesamt hindeutet. Dies scheint jedenfalls die Auffassung vieler nicht‑westlicher Beobachter zu sein. Sie können sich dabei auf ihre Erfahrung mit den Kolonialmächten berufen, die - allen voran die Briten - daheim den Liberalismus predigten, während sie die Kolonien unterjochten und ausbeuteten.
    Dies jedenfalls gibt der England promovierte indische Historiker Rudrangshu Mukherjee in seinem 2018 veröffentlichten Buch unter dem Titel "Liberalismus im Zwielicht" zu bedenken. Der Liberalismus habe zwar die Ideale von Freiheit und Gleichheit in die Welt getragen, diese aber zugleich den kolonisierten Völkern vorenthalten. Aus der Überzeugung, die besseren Wertvorstellungen zu haben, wurde die Anmaßung, sie den anderen aufzudrängen, um nicht zu sagen, aufzuzwingen. Rassismus und kulturelles Überlegenheitsgefühl verschmolzen miteinander und spielten einander wechselseitig die Argumente zu. Gegenüber diesem zwiespältigen Erbe und damit gegenüber seiner allzu leichten Vereinbarkeit mit rechtem oder kulturrassistischem Gedankengut sei der Liberalismus jedoch bis heute blind.
    "Man ging von der Annahme aus, eine Gruppe erlesener, aufgeklärter Menschen könnte das Leben für Millionen von Menschen organisieren, die erst noch aufgeklärt werden müssten. Derartige Vorhaben verwickelten den Liberalismus mit der imperialen Herrschaft und anderen Versuchen, eine bessere Gesellschaft zu errichten. (…) Der Liberalismus zeigt sich gleichgültig gegenüber der Widersprüchlichkeit seines eigenen Erbes, wenn er Erscheinungen wie die koloniale Gewalt und die totalitären Regime als Verirrungen sieht, nicht als etwas, das aus einem Reformeifer entsprungen ist, der auf einer (allzu großen) Überzeugung von universellen Prinzipien und Werten beruht."
    Die Zwielichtigkeit, die Mukherjee im Liberalismus erkennt, sieht er bereits bei einem seiner wichtigsten Theoretiker angelegt, bei John Stuart Mill. Mukherjee zitiert eine Stelle aus Mills berühmtem Buch "Über die Freiheit" von 1859, aus der hervorgeht, dass die Freiheit keineswegs für alle gilt, sondern nur für die, die im Sinn des liberalen Menschenbildes bereits frei sind.
    Mill schreibt an der Stelle, auf die sich Mukherjee bezieht:
    "Der Despotismus ist eine legitime Herrschaftsform, wenn es man mit Barbaren zu tun hat, vorausgesetzt, sie dient ihrer Besserung und die Mittel, die sie dafür einsetzt, sind durch den Zweck, dem sie dienen, gerechtfertigt. Die Freiheit, verstanden als Prinzip, lässt sich nicht auf solche Verhältnisse anwenden, die vor der Zeit liegen, in welcher die Menschheit fähig geworden ist, ihre Lage durch Diskussion unter freien und gleichen zu verbessern."
    Die Behauptung des westlichen Liberalismus, dass bestimmte, vor allem nicht europäische Menschen oder Kulturen für die Freiheit noch nicht reif seien, ist laut Mukherjee der zentrale Grund für die Glaubwürdigkeitskrise des Liberalismus außerhalb des Westens. Das Versprechen von Gleichheit und Fortschritt für alle, mit dem der Liberalismus angetreten war, konnte sich deswegen außerhalb des Westens nur für diejenigen erfüllen, die ohnehin schon zur Elite der kolonisierten Gesellschaften gehörten.
    Der Liberalismus sieht die Schuld dafür aber nicht bei sich, sondern in der mangelnden Bereitschaft, sich dem Liberalismus anzupassen, und begründet damit Ausgrenzungen und Zwangsmaßnahmen. Damit rückt der Liberalismus in gefährliche Nähe zu den neuen rechten Bewegungen im Westen und liefert ihnen die Argumente zu. Nach Mukherjee sind Fehler des Liberalismus also systemisch und lassen sich bereits in den Schriften der Gründerväter der liberalen Theorie nachweisen.
    Liberale Systemfehler
    Der Verdacht eines liberalen Systemfehlers wird inzwischen auch in liberalismuskritischen Kreisen im Westen formuliert. Die Diagnose des amerikanischen Politikwissenschaftlers Patrick Deneen in seinem in den USA viel beachteten Buch "Why liberalism failed" von 2018 dürfte den nicht-westlichen Kritikern vertraut erscheinen. Deneen schreibt:
    "Der Liberalismus ist gescheitert, nicht weil er seinem Anspruch nicht gerecht wurde, sondern weil er sich treu geblieben ist. Er ist gescheitert, weil er so erfolgreich war. (…) Eine politische Philosophie, die angetreten ist, größere Gleichheit durchzusetzen, einen bunten Flickenteppich aus verschiedenen Kulturen und Glaubenssystemen zu verteidigen, die Würde des Menschen zu schützen und natürlich die Freiheit auszuweiten hat de facto eine gigantische Ungleichheit hervorgebracht, Einheitlichkeit und Homogenität bewirkt, materiellen und geistigen Verfall befördert und die Freiheit unterminiert.(…) Die Krankheiten des Liberalismus kurieren zu wollen, indem man immer noch mehr liberale Mittel verschreibt, läuft auf dasselbe hinaus, wie Benzin in ein loderndes Feuer zu schütten. Es wird unsere politische, soziale, ökonomische und moralische Krise nur noch weiter verschlimmern."
    Ein Vierteljahrhundert nach der großen liberalen Aufbruchsstimmung, die vom Fall der Berliner Mauer eingeleitet wurde, ist vom Liberalismus wenig mehr übrig als ein spürbarer Mangel an Alternativen und die auf neoliberalen Prämissen aufgebaute globale Weltwirtschaft, die scheinbar unberührt von diesen Diskussionen immer weiterläuft.
    Wenn diejenigen, die mit der liberalen Weltordnung unzufrieden sind, aber weder einen radikalen Islam, noch Autokraten wie Trump, Putin, Erdoğan und ihresgleichen wollen, was wollen sie dann? Was schwebt den ernstzunehmenden Kritikern des Liberalismus aus der nicht-westlichen Hemisphäre als Alternative vor? Worauf wollen sie hinaus und auf welche Traditionen können sie sich dabei stützen? So nachvollziehbar die nicht‑westliche Liberalismuskritik in vieler Hinsicht scheint, sobald man versucht, die einschlägigen Autoren nach Alternativen zu befragen, wird die Luft dünn. Haben Fukuyama und Harari also womöglich doch recht?
    Befragen wir den bekannten indischen Publizisten Pankaj Mishra, der sich mit seinem neusten Buch "Zeitalter des Zorns" zunächst reibungslos in die Riege der außereuropäischen Liberalismuskritiker einreiht. Den Konflikt zwischen liberaler und anti-liberaler Weltsicht, dessen Zeuge wir gegenwärtig sind, sieht Mishra auf archetypische Weise im "Kampf zwischen Rousseau und Voltaire" aus dem 18. Jahrhundert vorgebildet.
    Individualistische Lösungen und innerer Widerstand
    Voltaire erscheint als der liberale Aufklärer, der sich bestens mit den Mächtigen versteht, sich in den Salons herumtreibt und die ökonomischen Vorteile seiner Position zu nutzen weiß, ganz wie Eliten der ehemaligen Kolonien, die sich dem westlichen Lebensstil angepasst haben. Rousseau hingegen war zwar volksnäher, für Mishra ist er jedoch ebenfalls diskreditiert. Denn von heute aus gesehen erscheint er vor allem als Vordenker des Populismus, also der neuen rechten und nationalistischen Bewegungen.
    Das grundlegende Dilemma bleibt angesichts dieses Befundes bestehen: Der Liberalismus hat seine Glaubwürdigkeit verloren; aber Autoritarismus und Populismus sind keine Alternativen. Mishra stellt fest:
    "Die Widersprüche und Kosten eines auf Minderheiten beschränkten Fortschritts - von einer revisionistischen Geschichtsschreibung vehement bestritten und durch aggressive Wortverdrehung lange geleugnet - sind inzwischen in globalem Maßstab sichtbar geworden. (...) Sie unterstreichen auch die Notwendigkeit eines wahrhaft verändernden Denkens über das Ich und die Welt."
    Dies ist der letzte Satz von Mishras Buch. Worin das Denken besteht, sagt er also nicht. Kennt man indessen seine anderen Bücher, besonders den autobiographisch-kulturgeschichtlichen Essay "Unterwegs zum Buddha", scheint er persönlich zu einer Antwort zu neigen, die viele Menschen im Westen mit ihm teilen: Nämlich angesichts der liberalen Entzauberung Trost, Orientierung und spirituellen Halt in neobuddhistischen Lehren zu suchen.
    Paradoxerweise steht diese Lösung der liberalen Problematik selber in einer dezidiert liberalen Tradition. Sie besagt, dass jeder dazu angehalten ist, sein Heil für sich selbst zu suchen, und sei es in der Religion. Der Anspruch des Liberalismus, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in seinem Sinn zu gestalten, wird von diesem Rückzug ins private natürlich nicht tangiert.
    Der Buddhismus eignet sich dafür besonders gut, weil er von Anfang an eine weltgewandte, asketische Seite aufwies und seine Lehre seit jeher die Abkehr von der schnöden Erscheinungswelt predigte.
    Der aus Iran stammende Philosoph Ramin Jahanbegloo, der lange an der Universität von Toronto lehrte, kommt aus einer anderen Tradition. In seinen 2018 erschienenen "Briefen an einen jungen Philosophen" wird der moderne, liberale Lebensstil zugunsten eines an der antiken Lebensweisheit orientierten Rückzugs aus der Gesellschaft verworfen.
    "Seit der Zeit, als ich ernsthaft angefangen habe, Philosophie zu studieren, war ich mit Epikur einer Meinung, dass es das Ziel der Philosophie ist, ein glückliches Leben zu erlangen, das durch Ataraxie, das heißt Seelenfrieden und Freiheit von Furcht, und von Aponia, das heißt Abwesenheit von Schmerz, charakterisiert ist.
    Heutzutage leben wir in der Illusion, dass Glück nichts als Konsum und ein Sich-Wohl-Fühlen ist. Je mehr wir kaufen und besitzen, desto glücklicher sind wir."
    Jahanbegloos Einstellung ist von der Erfahrung der blutigen iranischen Revolution geprägt. Dies führt bei ihm zu einer großen Skepsis gegenüber gesamtgesellschaftlichen, politischen Lösungen. Jahanbegloo fordert daher wie Mishra zunächst eine grundsätzliche Veränderung des Denkens, eine Rebellion gegen die vorherrschende, oberflächliche Weltsicht.
    "Wir müssen sehr viele Einstellungen überwinden - zu allererst das verlogene Bild, das wir uns von der Menschheit gemacht haben, als einer Spezies von gedankenlosen Tieren, denen es nur darum geht, Wohlstand und Genuss hinterher zu jagen. (...) Die zeitgenössische Gestalt wahrer Rebellion liegt in der Idee einer Zivilisation die auf Spiritualität und Gewaltlosigkeit gegründet ist."
    So ehrenwert und nachvollziehbar die Idee der spirituellen Revolte des Einzelnen gegen das System ist - an den konstatierten Problemen dürfte sich unter diesen Voraussetzungen in absehbarer Zeit nichts ändern. Den Kritikern des Liberalismus, die individualistische Lösungen und den inneren Widerstand predigen, könnte man in Abwandlung eines Zitates von Adorno vorwerfen, das richtige Leben im falschen zu suchen.
    Kämpferischer klingen die Stimmen aus der arabischen Welt.
    Grundlegend sind dabei die Arbeiten des arabisch-amerikanischen Anthropologen Talal Asad, der mit seinem im deutschsprachigen Raum kaum beachteten Buch "Formations of the Secular" von 2003 eine Art Fundamentalkritik liberal-säkularer Gesellschaften vorgelegt hat. Sie gipfelt in der Feststellung, dass die Gewalt und der Wille zur Macht dem Liberalismus unauslöschlich eingeschrieben sind, auch - oder gerade weil - sie sich auf Vernunft beruft.
    "Die liberale Gewalt, von der ich rede (im Unterschied zur durchsichtigen Gewalt illiberaler Regime), ist die Gewalt der sich als universell verstehenden Gewalt selbst. Um einen aufgeklärten Raum zu schaffen, muss der Liberale ständig die Finsternis der Außenwelt bekämpfen, die damit droht, diesen Raum zu erobern. (…) Liberalismus ist keineswegs nur eine Leidenschaft für zivilisierte Umgangsformen, sondern er beansprucht das Recht, in Gestalt von Drohungen und der Anwendung von Gewalt Macht auszuüben, wenn es darum geht, die Welt zu erlösen und die Widerspenstigen zu bestrafen."
    Religion, Tradition und Spiritualität politisch verstehen
    Auch Talal Asad bleibt damit im Negativmodus der Kritik. Mehr als bei vielen anderen schält sich in der Radikalität seiner Position jedoch eine gegenteilige Vision heraus, die dezidiert als nicht-säkular zu bezeichnen ist und damit die Möglichkeit ins Spiel bringt, Religion, Tradition und Spiritualität auch politisch zu verstehen. Es ist in diesem Zusammenhang erwähnenswert, dass Talal Asad der Sohn von Muhammad Asad, alias Leopold Weiss ist, einem ursprünglich aus Lemberg stammenden Juden, der in den zwanziger Jahren in Berlin zum Islam konvertierte, nach Saudi‑Arabien und Pakistan auswanderte und in den fünfziger Jahren der Vordenker eines progressiven, gleichwohl politisch selbstbewussten Islams wurde.
    Der arabisch-amerikanische Islamwissenschaftler Wael Hallaq, der an der Columbia University in New York lehrt, greift die Überlegungen von Talal Asad auf und entwickelt sie weiter. Hallaqs Denken nach muss die Kritik direkt an der neuzeitlichen Subjektivität selbst ansetzen und bereits diese in Frage stellen. Die Annahme eines autonomen Individuums werde selbst von Kritikern des Liberalismus, etwa auch denen, die vom Sozialismus geprägt sind, überhaupt nicht mehr hinterfragt. Somit lassen sich aber auch die Probleme, die damit einhergehen, nicht mehr lösen. In seinem 2018 erschienenen Buch "Restating Orientalism" schreibt Hallaq:
    "Das Subjekt des Liberalismus ist nie der Gegenstand oder Schwerpunkt einer grundlegenden Kritik, so sehr dieses Subjekt auch zu den Krisen der Moderne beigetragen hat und in sie verstrickt ist. Immer wird es so dargestellt, als lägen die Probleme anderswo und bedrohten und gefährdeten jenes Subjekt. Nie jedoch werden sie in ihrer unauslöschlichen strukturellen Verbindung zu der Verfassung dieses Subjekts gesehen. Eine der Hauptschwierigkeiten der Moderne ist die Unfähigkeit der in ihr vorherrschenden Diskurse, die eigenen Denkkategorien zu überwinden. Eben darin liegt die Herausforderung für uns."
    Hallaq plädiert dafür, dass Moral Vorrang gegenüber Freiheit oder gegenüber anderen, von der Moral entkoppelten Verfahren hat. Dies führt zwangsläufig dazu, dass der Bereich dessen, was als wertvoll und als Subjekt im moralischen Sinn zu gelten hat, über den menschlichen Bereich hinaus ausgedehnt wird und das ganze Sein umfasst. Wael Hallaq schließt damit an jene Denkströmung an, die auch im Westen derzeit im Zentrum des kritischen Denkens steht, nämlich der Posthumanismus. Die Fixierung auf den Menschen, der Anthropozentrismus, muss überwunden werden, lautet der Leitsatz dieser Kritik.
    "Das Versagen des westlichen Eurozentrismus und der westlichen Vernunft erfordern ein weiteres Nachdenken über die Quellen, die uns zur Verfügung stehen, um einen Ersatz für die hilflose Suche des Westens nach einem Ausweg aus der aktuellen ökologischen (und damit epistemologischen und politischen) Krise zu finden. Ein solcher Ausweg kann freilich nicht aus einer weiteren modernen Lösung für ein modernes Problem bestehen. (…) Vielmehr muss die Diagnose die Tiefenstruktur der Moderne und damit der Existenz überhaupt erfassen, denn es ist klar, dass ein ökonomisches Problem nie nur ökonomisch ist und ein politisches nie nur politisch."
    An welchen Werten, welcher Moral soll man sich aber dann konkret orientieren? Die Antwort von Hallaq lautet, dass im Prinzip zunächst jede in Frage kommt, die nicht von den genannten liberalen Dogmen ausgeht; jede also, die verantwortliches Handeln fordert, von einem ganzheitlichen Begriff des Seins ausgeht, welcher nicht nur den Menschen, sondern auch die Natur umfasst.
    Wael Hallaq legt dabei besonderen Wert darauf, dass seine Sichtweise gegenüber den weltweiten Umweltschutzbewegungen anschlussfähig ist. Auch wenn diese sich auf naturwissenschaftliche Ergebnisse und Vernunftgründe für die Bewahrung der Umwelt berufen, konvergiert ihre wissenschaftsorientierte Haltung mit der traditionellen, welche religiöse und spirituelle Gründe für den Umweltschutz geltend macht und die Wael Hallaq wieder aufwerten möchte.
    Ausgerechnet die ökologische Krise führt damit zu einer unverhofften Allianz traditioneller und modern-aufgeklärter Weltsichten. Es ist eine Allianz zunächst gegen diejenige Spielart des Liberalismus, die auf die entfesselte wirtschaftliche und individuelle Freiheit setzt und Verantwortung und Moral klein schreibt. Aus der Sicht der Liberalismuskritiker liegt diese Entfesselung freilich in der Natur des Liberalismus und ist nur zu korrigieren, wenn er als Leitbild abtritt.
    Wenngleich der Liberalismus sicher nicht von heute auf morgen verschwindet, die kritischen Stimmen und die welthistorischen Prozesse, in denen wir uns befinden, machen deutlich, dass wir uns in einem intellektuellen Prozess befinden, an dessen Ende wir anders denken werden, als wir es heute noch tun.