Rettungseinsatz auf dem Mittelmeer vor wenigen Tagen. Das Schiff der Hilfsorganisation SOS Méditerranée hat ein gekentertes Boot entdeckt. Videoaufnahmen zeigen dramatische Szenen.
"Als wir am Schlauchboot ankamen, trieben die Flüchtlinge schon im Wasser", erzählt eine Helferin. "Die Menschen schrieen und kämpften um ihr Leben, es war furchtbar. Sechs Kinder und eine Frau konnten wir reanimieren. Aber zwei Frauen sind gestorben."
Verfeindete Schleuserbanden kooperieren offenbar inzwischen
Zahlen der Internationalen Organisation für Migration, IOM, belegen: Immer mehr Flüchtlinge versuchen wieder, mit wackligen Booten über das Mittelmeer Europa zu erreichen. Allein in den vergangenen Tagen seit Ende Januar kamen mehr als 6.600 Migranten über den Seeweg nach Europa - das sind mehr als im Vorjahreszeitraum. Und das trotz aller Bemühungen Italiens, in Kooperation mit der libyschen Küstenwache die Arbeit der Schleuser zu verhindern.
"Die Zahlen steigen im Vergleich zum alten Jahr", sagt IOM-Sprecher Joel Millman. "Gerade im zweiten Halbjahr 2017 gab es kaum Flüchtlings-Bewegungen - aber jetzt geht es wieder los. Wir wissen nicht genau, warum. Es gibt Gerüchte, dass sich verfeindete Schleuserbanden zusammengetan haben und wieder durchkommen. Wir hatten nie Zweifel, dass zehntausende Migranten in Libyen nur auf die erste Gelegenheit warten, zu fliehen. Ich war bei der Rettung der Menschen aus einem der furchtbaren illegalen Auffanglager dabei, die Leute wollen nur weg aus Libyen, deshalb steigen die Zahlen wieder."
Berichten von Menschenrechtsorganisationen zufolge arbeiten sogar einige Mitglieder der libyschen Küstenwache mit den Schmugglern Hand in Hand - und verdienen mit an dem grausamen Geschäft mit der Not.
Schleuser profitieren vom Elend
In Libyen herrscht seit dem Sturz von Machthaber Gaddafi Chaos, die international anerkannte Regierung ist schwach, unterschiedliche Milizen ringen um die Macht im Land, immer wieder kommt es zu blutigen Kämpfen. Das Chaos im Land machen sich die Schmuggler zu Nutze: Massenhaft bringen sie Migranten ins Land und schleusen sie zur Küste. Und zu den Flüchtlingen aus afrikanischen Ländern kommt nun auch noch eine andere Gruppe: Auffällig viele Pakistaner sitzen derzeit in den Booten - als dritthäufigste Nationalität. Bei dem jüngsten Bootsunglück mit mehr als 90 Toten stammte eine Mehrheit der Opfer aus Pakistan.
"Für viele Jahre waren die Pakistaner eine sehr große Gruppe von Arbeitskräften in der Region, vor allem in der Ölproduktion", erklärt Joel Millman. "Libyen war für die muslimischen Pakistaner ein attraktiver Arbeitsplatz. Viele von ihnen wohnten wirklich schon sehr lange in Libyen. Aber angesichts der schlechten Sicherheitslage haben auch sie sich entschieden, jetzt das Land zu verlassen."
Im Klartext: Es verlassen nun auch die das Land, die durch ihre Kenntnisse in den Ölraffinerien eigentlich beim Wiederaufbau Libyens helfen könnten. Dazu kommen Migranten aus der ganzen Welt: international operierende Menschenschmuggler schleusen selbst Menschen aus Asien nach Libyen und weiter nach Europa - so beispielsweise aus Bangladesch.
"Die Todesrate ist wesentlich höher als vorher"
"Wir haben ermittelt, dass allein in der ersten Hälfte des vergangenen Jahres 8.000 Menschen aus Bangladesch nach Italien gekommen sind", so Millman. "Viele von ihnen waren nur ganz kurz in Libyen - sie kamen über eine Schmugglerroute von Bangladesch nach Istanbul oder Abu Dhabi direkt nach Tripolis."
Und von dort mit dem Schiff weiter nach Europa. Viele bezahlen die Überfahrt mit dem Leben: Seit Mitte vergangenen Jahres gab es kaum einen so tödlichen Monat für Flüchtlinge wie diesen Januar - rund 250 Menschen starben allein in den ersten Tages des neuen Jahres. Die Wahrscheinlichkeit, die Überfahrt nicht zu überleben, sei gestiegen, sagt Julia Black von Missing Migrants - ein Projekt der IOM, das sich um die Todesopfer kümmert.
"Die Wahrscheinlichkeit zu sterben, die Todesrate ist wesentlich höher als vorher. Es könnte daran liegen, dass Schmuggler immer mehr Migranten gleichzeitig auf See schicken - was die Rettung deutlich erschwert."
"So viele Leichen versinken einfach im Meer"
Julia und ihre Kollegen versuchen zu dokumentieren, wie viele Menschen bereits im Mittelmeer gestorben sind - sie befragen Insassen, zählen Leichen, machen Schätzungen. Die Dunkelziffer dürfte hoch sein, sagt sie.
"So viele Leichen versinken einfach im Meer, die Menschen gehen einfach verloren, verschwinden - es ist eine riesige humanitäre Katastrophe. Wenn man bedenkt, wie viele Familien niemals erfahren werden, was mit ihren Angehörigen passiert ist."
Mehr als 15.000 Menschen sind bislang auf dem Mittelmeer gestorben - bei ihrem verzweifelten Versuch, nach Europa zu kommen. Und Beobachter sind sich einig: Es werden wohl noch mehr.