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"Libyen liegt ganz weit von uns entfernt"

Trotz der Umbrüche in Libyen - die Entwicklungen in Ägypten seien für Israel das Entscheidende, sagt Avi Primor, früherer israelischer Diplomat. Wenn der Westen die Regierung in Kairo wirtschaftlich unterstützt, werde es keine Gefahr einer Übernahme der Fundamentalisten geben.

Avi Primor im Gespräch mit Peter Kapern | 23.08.2011
    Peter Kapern: Wo steckt Muammar al-Gaddafi? Wo möglich in jenem festungsartigen Areal namens Bab al-Aziziya in Tripolis, das NATO-Flugzeuge in der vergangenen Nacht bombardiert haben? Die Rebellentruppen belagern diese Festung, in der sich auch Hunderte afrikanischer Söldner verschanzt haben sollen. Würde Gaddafi dort gefasst werden, dann wäre das das Ende einer der schillerndsten politischen Karrieren der letzten Jahrzehnte.
    Dass der Arabische Frühling, der nun schon bis in den Sommer dauert, die Welt verändert, gehört zu den politischen Allgemeinplätzen in dieser Zeit. Ganz gewiss trifft das für die Menschen in Ägypten, in Tunesien und Libyen zu, aber in besonderer Weise auch für die in Israel. Das Koordinatensystem der außenpolitischen Beziehungen hat sich für Israel gravierend geändert. Ägyptens ehemaliger Staatschef Mubarak, früher eine verlässliche Größe für Israel, steht vor Gericht, Syriens Machthaber Assad, als Feind Israels immerhin berechenbar, steht auf der Kippe, und nun ist das Ende Gaddafis gekommen, der den Bombenanschlag auf die El-Al-Maschine über Lockerbie befohlen hat. Israels Außenpolitik – so viel steht fest – muss sich neu orientieren. – Bei uns am Telefon der ehemalige Botschafter Israels in Deutschland, Avi Primor. Guten Morgen!

    Avi Primor: Guten Morgen, Herr Kapern.

    Kapern: Herr Primor, wie schauen die Israelis auf das Ende Gaddafis?

    Primor: Na ja, Gaddafi hat keine großen Anhänger in Israel gehabt, wie er auch keine großen Anhänger weltweit gehabt hat. Abgesehen davon, dass er ein Diktator war und ab und zu auch sich sehr hassvoll gegen Israel geäußert hat, war er eine komische, eine merkwürdige Figur, und insofern hat man die gleiche Meinung über ihn so wie der Rest der Welt, nichts anderes. Aber eine unmittelbare Gefahr für Israel war er nicht, weil er weit und zu schwach von Israel war.

    Kapern: Möglicherweise ändert sich die Situation ja gravierend. Es gibt bereits ermahnende Stimmen hier in Deutschland, Peter Scholl-Latour beispielsweise wird in diesem Sinne zitiert, die sagen, Libyen könnte der neue Jemen werden, das neue Somalia beispielsweise, also zerfallen in einen anarchischen Staat, der ja dann in doch relativer Nähe zu Israel wäre.

    Primor: Na ja, zwischen uns und Libyen liegt ja Ägypten und Ägypten ist wirklich, was zählt, was wichtig ist, das große Land, das Land, das über 80 Millionen Einwohner hat, und das ist wirklich das Entscheidende. Libyen liegt ganz weit von uns entfernt. Aber was in Libyen passiert ist ein Stammeskampf. Das sind Machtkämpfe zwischen Stämmen. Gaddafi mit seinem Stamm hat die Macht von den Sannusis übernommen, nachdem er den König gestürzt hat, aber der König war nicht interessant als Monarch, sondern eher als Chef des anderen Stammes. Das sieht man in den arabischen Ländern sehr oft, nicht in Ägypten, aber in Syrien zum Beispiel, auch nicht in Tunesien, aber in Algerien zum Beispiel, und das ist der Fall in Libyen. Ich glaube, die beiden Stämme werden wieder vorübergehend zu einer Vereinbarung kommen und gemeinsam regieren, bis es wieder Erdbeben geben wird.

    Kapern: Herr Primor, Sie sagen, das liegt nahe, die Beziehungen Israels zu Ägypten seien viel wichtiger. Da haben wir in der vergangenen Woche gesehen, dass es einen Terroranschlag von Palästinensern gegeben hat im Süden Israels, die über die ägyptisch-israelische Grenze gekommen sind, und bei der Verfolgung der Täter haben israelische Truppen ägyptische Sicherheitskräfte getötet, was zu schweren Verstimmungen in Kairo geführt hat und auch zu anti-israelischen Demonstrationen. Was besagt das über die Situation zwischen Israel und Ägypten?

    Primor: Also dieser Vorfall war natürlich ein Fehler. Keiner wollte bei uns ägyptische Streitkräfte angreifen. Die Leute vor Ort haben es falsch verstanden und dachten, es wären palästinensische Terroristen gewesen, weil diese Terroristen ja aus Ägypten gekommen sind. Aber die Ägypter haben genau das gleiche Interesse wie Israel: Die wollen keinen Krieg, die wollen den Frieden aufrecht erhalten, weil das ein ägyptisches Interesse ist. Und nun haben sie erklärt, dass sie eine neue Behörde ins Leben rufen werden, um den Sinai, die Halbinsel Sinai, die zwischen Israel und Ägypten liegt, zu entwickeln, damit sie es besser beherrschen und kontrollieren können. Das heißt, sie gestehen, dass sie eigentlich dort ihre Macht nicht wirklich ausüben, und daher können die Terroristen frei herumlaufen. Also da gibt es gemeinsame Interessen, sowohl für Israel als auch für Ägypten, und ich sehe zwar die Entwicklung in Ägypten als gefährlich, weil man nicht weiß, in welche Richtung sie geht, aber solange die heutige Regierung, solange die Streitkräfte in Ägypten an der Macht sind, glaube ich nicht, dass irgendeine Wende in den Beziehungen zwischen Israel und Ägypten hervorkommt.

    Kapern: Sie scheinen da ziemlich sicher zu sein, dass die ägyptischen Behörden im Moment einfach nicht in der Lage sind, die israelisch-ägyptische Grenze zu kontrollieren. Es gibt aber Stimmen, die sagen, na ja, in Wirklichkeit wollen die das gar nicht.

    Primor: Ja das glaube ich eben nicht. Ich glaube, dass sie es sehr wollen, weil wenn sie das nicht tun, dann verlieren sie überhaupt die Macht über die Halbinsel Sinai, das können sie sich natürlich nicht erlauben. Das ist ein Teil Ägyptens und da liegen auch verschiedene Schätze und das ist für Tourismus unheimlich wichtig. Darauf werden sie bestimmt nicht verzichten, sie werden das Land nicht den Hamas-Terroristen oder anderen Fundamentalisten überlassen, auch nicht den Beduinen, die in Wirklichkeit dort leben. Das glaube ich nicht.

    Kapern: Sie sprechen von einer gefährlichen Entwicklung in Ägypten, bei der offen sei, in welche Richtung das Pendel ausschlage. Wovon hängt es ab, in welche Richtung es ausschlägt?

    Primor: Also gefährlich könnte es sein, sollten die Fundamentalisten die Macht dort übernehmen, wie das in Iran 1979 nach dem Sturz des Schahs geschah. Ich sehe das noch nicht so sehr, weil die Fundamentalisten in Ägypten nicht so gut organisiert sind und nicht so mächtig sind, wie sie damals im Iran waren. Aber alles wird von der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes abhängig sein. Das heißt, wenn der Westen, Amerika die heutige Regierung in Ägypten wirtschaftlich unterstützt, dann wird es keine Gefahr geben. Sonst werden die Massen der Leute so verbittert sein, dass sie nur an eines denken werden, diese Regierung, die heutige Macht abzuwählen, und dann gibt es keine Alternative als die der Fundamentalisten. Das ist die Gefahr, die kann man aber verhindern.

    Kapern: Nicht in Ihren Aufzählungen kam gerade vor die Möglichkeit, dass sich Ägypten einfach dauerhaft zu einer Militärdiktatur entwickelt. Halten Sie die Gefahr nicht für gegeben?

    Primor: Was heißt "eine Gefahr"? Das ist eine Realität, das ist eine Tatsache. In Ägypten herrscht das Militär seit 1952, seitdem sie König Faruk gestürzt haben, waren immer nur die Militärs an der Macht. Aber diese Militärs – na ja, das hat natürlich seine Nachteile – sind aber letzten Endes ziemlich vernünftig und verstehen, was das Interesse Ägyptens wirklich ist, nicht nur das Interesse des Militärs. Außerdem geht es nicht um eine Diktatur eines Mannes, sondern das ist eine ganze Schicht der Bevölkerung. Schauen Sie, Demokratie kann man nicht willkürlich erzwingen, das muss gedeihen, das muss wachsen. Ich glaube schon, dass die Generäle in Ägypten verstehen, dass die Regierung in Richtung von Liberalismus, aber schrittweise in Richtung von Liberalismus sich entwickeln muss, und wenn das so geht, wird es eigentlich nicht schlecht sein.

    Kapern: Avi Primor war das, der frühere Botschafter Israels in Deutschland. Herr Primor, danke für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Primor: Auf Wiederhören! Danke.

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