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Drei niederländische Kinderbücher
Die Liebe aus Kindersicht

Drei niederländische Kinderbücher, aufwendig gestaltet, beschäftigen sich mit Gefühlen rund um die Liebe: eine Erzählung von Sjoerd Kuijper, ein Gedichtband von Milja Praagman und eine lyrische Bilderreise von Bette Westera und Sylvia Weve.

Von Siggi Seuß | 17.09.2022
    Der Kosmos, der sich Liebe nennt, in aktuellen niederländischen Kinderbüchern: Sjoerd Kuyper „Robin ist verliebt“, Milja Praagman „Zusammen“, Bette Westera und Sylvia Weve  „Auseinander“
    Der Kosmos, der sich Liebe nennt, in aktuellen niederländischen Kinderbüchern: Sjoerd Kuyper „Robin ist verliebt“, Milja Praagman „Zusammen“, Bette Westera und Sylvia Weve „Auseinander“ (Milja Praagmann, Verlage Freies Geistesleben, Urachhaus, Susanna Rieder)

    Milja Praagman: "Zusammen"

    Ich habe einen Traum
    Papa atmet Wellen
    ein und aus, immerfort.
    Mein stiller Ozean -
    der schönste Ort.

    aus: Milja Praagman: "Zusammen"
    Einblicke in den Kosmos, der sich „Liebe“ nennt – aus der Sicht von Kindern, besonders von kleinen Kindern.

    Wenn ich die Augen schließe,
    sind wir eins,
    und schaukeln sachte
    hin und her.
    Bauch an Bauch,
    Dann wachs ich auch
    bis ich groß bin
    wie ein Weltenmeer.

    Blicke auf die Sonnenseite eines Universums, das auch in der Kinder- und Jugendliteratur tausendfach besungen und beklagt wird. In den hier vorgestellten Büchern geht es um allererste Liebe von Kindern zu Mama und Papa, um Urvertrauen, um die ersten flirrenden Gefühle im Bauch, um Fürsorge, um Zärtlichkeit, um Nähe und Geborgenheit. Aber auch um die Zerbrechlichkeit von Gefühlen und von Zuneigung.

    So sollte es sein

    Man könnte die Betrachtungen von zwei Autorinnen und einem Autor mit den Titeln versehen: „So könnte es anfangen“, „So könnte es weitergehen“ und „So sollte es sein“. Das Gedicht passt gut in die Abteilung „So sollte es sein“ und stammt aus dem lyrischen Bilderbuch „Zusammen“ der Dichterin und Illustratorin Milja Praagman. Sie gesellt jedem ihrer Gedichte – übersetzt von Eva Schweikart – ein Pärchen freundlich kolorierter tierischer Geschöpfe zu, als seien sie Lebewesen, zu denen man sofort Vertrauen fassen könnte.
    Bei „Ich habe einen Traum“ liegt ein Pinguinkind selig mit geschlossenen Augen auf dem Bauch seines schlafenden Pinguinpapas. Auf einem anderen kuscheln zwei hübsch gemusterte Eulen im Geäst eines Baumes. Oder zwei Nilpferde reiben ihre Nasen beim Tête-à-Tête in der Badewanne zärtlich aneinander. Milja Praagmans Büchlein könnte als Klammer dienen zwischen der überaus hoffnungsvollen Erzählung „Robin ist verliebt“ von Sjoerd Kuijper und der lust- und liebevoll provokanten lyrischen Betrachtung der Trennungserfahrungen von Kindern durch die Autorin Bette Westera, mit Illustrationen von Sylvia Weve.

    Sjoerd Kuyper: "Robin ist verliebt"

    „Robin wacht auf. Draußen ist es schon hell. Die Vögel singen, als würden sie gekitzelt. Heute ist etwas Feines. Was war es gleich wieder?“

    Schon nach den ersten Zeilen dieser Geschichte würde man als erwachsener Leser gerne schrumpfen – schrumpfen auf Gemüt, Verstand und Weltvertrauen des kleinen Helden Robin, fünf Jahre alt. Man möchte mit ihm aufwachen, an einem Frühlingssonntagmorgen, wenn die Vögel schon tirilieren und einen die ersten Sonnenstrahlen in der Nase kitzeln. Der Tag ist jung und verspricht tausend neue Abenteuer. Fast glaubt man, die frische Luft des Morgens zu atmen, in der Erzählung „Robin ist verliebt“ des Niederländers Sjoerd Kuyper.

    So könnte es anfangen

    Das, was auf den ersten Blick vielleicht wie eine naive, romantisierende Geschichte erscheint, ist etwas anderes: Eine Erzählung aus der Weltsicht eines kleinen Kindes – ebenfalls einfühlsam übersetzt von Eva Schweikart –, eines Kindes, das in einem fürsorglichen und liebevollen Milieu aufwächst, mit Mama, Papa und Baby Suse, die Robin immer in den Bauch piksen kann, "bis sie tausend Jahre alt ist, weil ich dann nämlich schon älter als tausend bin“.
    Natürlich verspricht der Junge, dass er das nur ganz sachte tun wird. Was Robins Universum bestimmt, machen Marije Tolmans Illustrationen kongenial sichtbar – voller Fantasie, voller Farbe und Freundlichkeit auf den Punkt gebrachte Szenen, die federleichten Karikaturen ähneln. Es wimmelt in den Bildern von Herzchen, denn Robin und die Liebe – das ist ein ganz besonderes Kapitel.
    Es gibt ja um ihn herum so viele liebenswerte Geschöpfe: Frau Tieneke, die Erzieherin, die Uroma, genannt „Öhmchen“, und selbstverständlich die Kindergartenfreundin Nellie. Jedenfalls, bis sie sagt, er sei ein Blödhammel, weil verliebte Leute sich heiraten wollen und Robin doch keine alte Oma heiraten könne.
    Aber da ist ja noch Sofie aus der ersten Klasse, die schon mal Schneewittchen gespielt hat. Sie lächelt Robin immer an, bis seine Beine weich werden.
    „Er fühlt sich schlabbrig, schlabbrig wie Joghurt, schlabbrig wie Milch. Noch schlabbriger: Wasser. Wie eine Pfütze Wasser auf dem Platz vor dem Rathaus – so kommt Robin sich vor. Und die warme Sonne scheint auf das Wasser, und das Wasser wird zu einer Wolke. - Die Wolke Robin steigt langsam auf und schwebt über dem Dorf dahin.“

    Ein Nest aus Geborgenheit

    Und schon kommt Sofie auf einer Wolke auf ihn zugeflogen, durch das Himmelsblau. Ja, Robin liebt Sofie. Und Wolken. Und Evi aus dem Kindergarten, deren Papa schon tot ist. Und natürlich liebt er die hundert und noch mehr Mädchen am Strand. Eines schöner als das andere! Robins Herz ist einfach riesengroß. Und seine Neugier aufs Leben genauso.
    Da die Tage ja nicht nur aus frühlingsfrischen Sonntagmorgen und heftigen Verliebungen bestehen, wird der kleine Mann auch mit traurigen Seiten des Lebens konfrontiert, zum Beispiel mit Öhmchens Tod. Aber die tröstlichen Worte und Gesten von Mama, Papa und Opa mindern den Schmerz und die Angst. Sie betten das Kind ein in ein Nest aus Geborgenheit, Vertrauen und Zuversicht.
    Autor und Illustratorin spinnen diesen Schutzraum wie eine Art luftigen Kokon um den kleinen Helden herum. Nicht verniedlichend oder pädagogisch überhöht, sondern mit unaufgeregt freundlichen und verständlichen Worten, die Kinder erfreuen und erwachsenen Menschen zwischen den Zeilen mitteilen: So soll es sein. So kann es sein. Aber natürlich ist das nur ein Teil der Wahrheit.

    Bette Westera, Sylvia Weve (Illustration): "Auseinander"

    Sehe ich dich, schlägt mein Herz plötzlich schneller.
    Sehe ich dich, trifft es mich wie ein Hieb.
    Sehe ich dich, hab ich zittrige Knie.
    Sehe ich dich, wird mein Hirn wie ein Sieb.

    So beginnt Bette Westeras und Sylvia Weves spektakuläres Bilderbuch „Auseinander“. Man könnte nach dem ersten Gedicht – mit dem Titel „ob ich mich traue“ - und dem quer über die Seiten fliegenden langen Pfeil, der durch die Herzen zweier junger Menschen schießt, man könnte glauben: zumindest der Anfang dürfte gut enden:

    Ob ich mich traue? Es tue zum Schluss?
    Ich geh auf dich zu / gebe dir einen Kuss!


    Das könnte so weitergehen: Söhnchen möchte Mama heiraten, Töchterchen den Opa – etwa wie bei Robin, in dessen riesengroßem Herz ja für viele liebe Menschen Platz ist. Aber es gibt eben auch all die Robins und Sofies, denen ein Nest aus Geborgenheit und Vertrauen fehlt und die sich über das Gebaren ihrer Eltern wundern, ärgern oder gar daran zu verzweifeln drohen.

    Mein Vater ist ein Lieber,
    meine Mutter ist ein Schatz,
    aber dass die zwei zusammen …
    ich sag's in einem Satz:
    Das kann ich nicht verstehen,
    es tut mir wirklich leid.
    Sie haben keinerlei Gemeinsamkeit
    außer – mir.

    So könnte es weitergehen

    In 44 Gedichten eröffnet sich ein ganzer Kosmos von Szenen aus gescheiterten Familienleben, betrachtet mit den staunenden, offenen Augen von Kindern, die kein Blatt vor den Mund nehmen. Die Bild-und-Wort-Spielereien wirken dabei fast wie zu Bildern geronnene Jazz-Collagen. So bunt und schräg und komisch, dass sie über die Seiten tanzen und fliegen und schweben – von Sylvia Weve gestrichelt, getuscht, gemalt und aus vielen Rahmen fallend. Zum Beispiel aus dem Rahmen der üblichen Seitenbindung.
    Fast immer läuft in dieser sogenannten „japanischen Bindung“ auf den rechten Seiten außen ein illustratives Element weiter. Der rechte Falz ist nicht beschnitten, so dass Bild und Schriften auf die nächste Seite durchlaufen. Die Buchgestalter Hans und Sabine Bockting wollten damit die Spannung zwischen Liebe, Trennung und Sich-Wiederfinden greifbar machen. In den Figurenkarikaturen erkennt man unschwer Geschöpfe aus dem wahren Leben, mit all ihren Macken, Tagträumen, Fantasien, Irrungen und Wirrungen. Und Rolf Erdorfs Übertragungen der Gedichte ins Deutsche tanzen im Reigen der Bilder mit:

    Oma eins hat rote Haare,
    Oma zwei, die tanzt Ballett,
    Oma drei raucht gern Zigarre,
    Oma vier liegt gern im Bett.

    Mal will ich gern
    bei Mama sein.
    Doch lass ich Papa dann allein…
    Nie freu ich mich,
    wo ich auch bin,
    verlass' ich doch
    mal sie, mal ihn.

    Poetische Komplementärfarben

    „Auseinander“ von Bette Westera und Sylvia Weve ist sozusagen die Komplementärfarbe zur fürsorglichen Welt des kleinen Robin und zu den poetischen Gefühlslandschaften in Milja Praagmans „Zusammen“:

    Schlaf schön, mein Schatz.
    Ich mummle dich warm ein.
    Sag Gute Nacht zum Mond,
    der schaut gerad' zum Fenster rein.
    Den Wecker
    müssen wir nicht stellen.
    Das kleine Licht schalt' ich dir ein,
    es soll dir leuchten durch die Nacht
    und Hüter deiner Träume sein.

    So brummelt Milja Praagmans Gepardenmama ihre Kleinen in den Schlaf und mummelt sich dabei gleich selbst mit ein. Wie schon bei Sjoerd Kujpers „Robin ist verliebt“ erscheinen auch hier – von außen betrachtet - die Botschaften manchem vielleicht zu naiv und zu romantisierend. Sie sind jedoch für das Wohl eines Kindes genauso bedeutsam wie die in den dunkleren Nischen des Familienlebens gesammelten Augenblicks-Eindrücke. Jedes der drei Bücher spendet Trost und leuchtet auf seine Weise einen wichtigen Teil des Kinderlebens in einer Familie aus. Wie es sein könnte, wie es sein sollte und wie es ist.
    Milja Praagman: "Zusammen"
    Aus dem Niederländischen von Eva Schweikart
    Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart. 44 Seiten, 16 Euro, ab 3 Jahren.

    Sjoerd Kuyper: "Robin ist verliebt"
    Mit Bildern von Marije Tolman
    Aus dem Niederländischen von Eva Schweikart
    Verlag Urachhaus, Stuttgart. 148 Seiten, 16 Euro, ab 5 Jahren.

    Bette Westera, Sylvia Weve (Ill.): "Auseinander"
    Aus dem Niederländischen von Rolf Erdorf
    Verlag Susanna Rieder, München. 136 Seiten, 28 Euro, ab 8 Jahren.