Montag, 25. März 2024

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Linguistik und Gender-Debatte
Kann Sprache Wirklichkeit schaffen?

Debatten um die deutsche Sprache werden mit großen Emotionen geführt. Das gilt auch für das Gendern. Heftig umstritten ist dabei die These, dass Sprache Wirklichkeit schafft. Stimmt das? Schafft Sprache tatsächlich Wirklichkeit - oder ist das nur eine ebenso griffige wie leere Floskel?

Von Mirko Smiljanic | 30.09.2021
Standesamtliche Hochzeit: Der Bräutigam unterschreibt Heiratsurkunde, daneben die Braut mit Blumengebinde
Bei "performativen Äußerungen" ist das Aussprechen zugleich eine Handlung. Das Ja-Wort bei einer Trauung zum Beispiel macht zwei Ledige zu Eheleuten. (imago/imagebroker)
Auf den ersten Blick ist die Sache einfach. Natürlich schafft Sprache Wirklichkeit. Ein Beispiel: "Wollen Sie, Frau X, mit dem hier anwesenden Herrn Y die Ehe eingehen?" – fragen etwa Standesbeamte während der Trauung – "dann antworten Sie bitte mit ‚Ja‘." Die gleiche Frage stellen sie natürlich auch Herrn Y; und wenn gleichgeschlechtliche Paare vor ihnen sitzen, antworten eben zwei Männer oder zwei Frauen.
Lautet die Antworten "Ja", dann hat das weitreichende Konsequenzen, von denen die Paare üblicherweise aber nichts mitbekommen, weil sie auf einer rosaroten Wolke schweben. Sie sind gegenseitig erbberechtigt, das Sorgerecht gemeinsamer Kinder unterliegt anderen Regeln, Eheleute müssen imstande sein, sich bei Meinungsverschiedenheiten selbst zu einigen – der Gesetzgeber hat an alles gedacht. Nur das Aussprechen des Wortes "Ja" reicht, und das Paar findet sich in einer neuen Wirklichkeit wieder.

"Performative Äußerungen": Beichte, Trauung, Richtersprüche

Linguisten sprechen in diesem Zusammenhang von performativen Äußerungen – und von denen wimmelt es in der deutschen Sprache – so Ingo Warnke, Professor für Deutsche Sprachwissenschaft an der Universität Bremen: "Verwaltungsakte, Rechtsakte zeigen das in einer ganz, ganz deutlichen Art und Weise, aber es gibt noch viele andere Beispiele. Denken Sie an sowas wie Beichte oder Sühnerituale, wo Sprechen über etwas Wirklichkeit verändert."
Performanz – so der linguistische Fachbegriff – beschreibt aber nur einen Aspekt der Frage, ob Sprache neue Wirklichkeiten schafft. Zum Verständnis weiterer Aspekte müsse aber zunächst klar sein, welcher Teil der deutschen Sprache überhaupt gemeint ist, erläutert Heidrun Deborah Kämper, Professorin für Germanistik an der Universität Mannheim und Mitglied des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache:
"In der Linguistik wird ganz grundsätzlich unterschieden, reden wir über das Sprachsystem, also reden wir darüber, wie Sprache in Grammatiken oder Wörterbüchern beschrieben wird? Das ist das System, die Formeln, die Formulierungen, die in solchen Regelwerken festgehalten sind. Oder reden wir über Sprachgebrauch, also die Art und Weise, wie wir Sprache verwenden in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen?"
Ein Verkehrsschild mit der Aufschrift "Bewohner mit Parkausweis frei" wurde mit einem Aufkleber gegendert.
Streit ums Gendern - Was sich aus früheren Sprachdebatten lernen lässt
Zwei Drittel der Deutschen lehnen eine gendergerechte Sprache ab. "Zuhörende" statt "Zuhörer"? "Wähler*innen"? Lieber nicht! So hitzig die Diskussion auch geführt wird, neu sind solche Debatten nicht. Ob und wie sich Neuerungen am Ende durchsetzen, ist eine langwierige Abstimmung mit den Mündern.

Sprache schafft ausschließlich soziale Wirklichkeit

Ausschließlich das Sprechen und Schreiben einer Sprache ist gemeint, wenn es um mögliche Veränderungen der Wirklichkeit geht – und nicht das Sprachsystem. Aber was genau verstehen Linguisten unter Wirklichkeit? In der wissenschaftlichen Literatur tauchen ja noch weitere Begriffe auf. Ingo Warnke:
"Wirklichkeit, Wahrheit, Tatsachen, Realität – und wie man sich denken kann, haben sich viele Gedanken darüber gemacht, wie man sowas abgrenzen kann. Ich würde einen grundsätzlichen Unterschied sehen zwischen Realität, was eher mit Dinglichkeit, Materialität zu tun hat und auch eine gewisse Unabhängigkeit von unseren Wahrnehmungsweisen hat. Und Wirklichkeit ist für mich etwas, was auch sehr stark perspektiviert ist, gestaltet ist."
Der Satz "Sprache schafft Wirklichkeit" meint immer "soziale Wirklichkeit", nicht die materielle Umwelt, die ja einfach da ist - schön in Szene gesetzt übrigens von Gabriel García Márquez in seinem Roman "Hundert Jahre Einsamkeit". Auf der ersten Seite beschreibt er ein Flussbett mit weißen geschliffenen Steinen, die wie riesige prähistorische Eier aussehen und in der damals noch jungen Welt keine Namen hatten. Wer sie benennen wollte, musste mit dem Finger auf sie zeigen.
Aber kehren wir zurück. Sprache - sagt Ingo Warnke - gestaltet und bearbeitet soziale Wirklichkeit. Radikaler formuliert es Heidrun Deborah Kämper: "Umgekehrt können wir auch sagen, wenn nie über etwas gesprochen wird, dann existiert es nicht in der sozialen Welt."

Wer nicht genannt wird, steht auch gesellschaftlich im Abseits

Womit wir uns mitten in der Genderdebatte befinden. Wenn weibliche Sprachformen wegen des generischen Maskulinums im Deutschen seltener vorkommen, sind Frauen gesellschaftlich unterrepräsentiert. Und dass sie sprachlich seltener in Erscheinung treten, steht außer Frage. Ein Beispiel: Der Satz "Nächste Woche streiken alle Grundschullehrer" schließt nach den Regeln des generischen Maskulinums auch Lehrerinnen ein – was allerdings schon deshalb pikant ist, weil an Grundschulen rund 90 Prozent Frauen arbeiten. Hier wäre ein generisches Femininum angebracht.
Ein Papier hinter einem Fenster, auf dem steht: "Paketbot*Innen Bitte Klingeln!"
Gendergerechter Online-Duden - Wie männlich ist der Lehrer?
Mieter, Lehrer, Apotheker – sie gelten bislang als generisches Maskulinum, das alle Geschlechter umfasst. Damit will die Duden-Online-Redaktion nun aufräumen – und 12.000 Artikeln über Personen- und Berufsbezeichnungen jeweils einen zweiten, weiblichen hinzufügen. Dagegen regt sich Widerstand.
Unabhängig davon hat Sprache aber auch einen prägenden Einfluss auf die soziale Wirklichkeit. Heidrun Deborah Kämper: "Wir prägen durch die Art und Weise, wie wir sprachlich Bezug nehmen auf die Wirklichkeit eben diese Wirklichkeit. Es ist ein Unterschied, ob ich von Flüchtlingstsunami oder von Flüchtlingszuwanderung spreche."
Soziale Wirklichkeit, wie Menschen sie wahrnehmen, ist abhängig von sprachlicher Bewertung. Wirklich ist das, was wir sprachlich als wirklich definieren. An dieser Stelle bewegt sich die Debatte teilweise weg von rein sozialen Phänomenen hin zu umstrittenen naturwissenschaftlichen Fragen. Kämper:
"Kleines Beispiel: Der Klimawandel ist menschengemacht; der Klimawandel ist nicht menschengemacht. Im Diskurs dominiert, der Klimawandel ist menschengemacht. Es gibt genügend Expertise, es gibt genügend Studien, die das nachweisen, aber wir wissen, es gibt auch Menschen, die den Klimawandel leugnen und sagen, er ist nicht menschengemacht. In unserer Gesellschaft dominant ist die Vorstellung, er ist menschengemacht."

Soziale Wirklichkeit zu formen zählt zu den wichtigsten Aufgaben von Sprache

Was sich allerdings auch ändern könnte. Entscheidend ist, wie viele Anhänger Klimaleugner mobilisieren. Ein stärkeres Beispiel sind Kreationisten, eine vor allem in den USA tiefverwurzelte religiöse Bewegung, deren Anhänger die Entwicklung des Universums, des Lebens und des Menschen wörtlich aus der Bibel ableiten. Für Kreationisten hat die Sprache der Bibel eine ganz eigene Wirklichkeit geformt. Ingo Warnke:
"Oder sowas wie ‚Es bleibt immer etwas hängen – Semper aliquid haeret‘, üble Nachrede, Verleumdung, völlig unabhängig davon, ob etwas real eigentlich stimmt, ist das bloße Reden oder Nachsagen etwas, was etwas macht. Oder in der Psychologie die sich selbst erfüllende Prophezeiung; wenn ich mir so lange etwas einrede, dass mein Nachbar mich nicht mag, werde ich mich bald so verhalten, dass er mich wirklich nicht mag."
Die Ausgangsfrage hieß: Kann Sprache Wirklichkeit schaffen? Die Antwort lautet: Ganz eindeutig ja; Sprache formt und bearbeitet, ändert und schafft Wirklichkeit! Auch in der Debatte um gesellschaftliche Teilhabe lässt sich das zeigen: Menschen, die sprachlich unterrepräsentiert sind, rücken gesellschaftlich in den Hintergrund. Änderungen an diesem Zustand sind letztlich das Ergebnis gesellschaftlicher Debatten.
Wenn man jetzt auf das große Ganze schaut: Bei der grundsätzlichen Frage, ob Sprache Wirklichkeit schafft, spielt das Gendern nur eine untergeordnete Rolle. Sprache formt ständig und auf vielen Ebenen Wirklichkeit. Ohne diese Fähigkeit von Sprache wäre gesellschaftliche Entwicklung undenkbar.