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Lisa Kreißler: "Schreie und Flüstern"

Lisa Kreißlers dritter Roman erzählt von Dichotomien. Stadt und Land, Kultur und Natur, Freundschaft und Mutterschaft sind Gegensätze, die der Heldin von „Schreie & Flüstern“ zu schaffen machen. Erst im Übergang von einer in die andere Sphäre finden die Figuren endlich zu sich selbst.

Von Katharina Teutsch | 23.12.2021
Lisa Kreißler: "Schreie & Flüstern"
Lisa Kreißler: "Schreie & Flüstern" (Ute Kreißler / Mairisch Verlag)
Berlin und inzwischen auch Leipzig, wo der neue Roman von Lisa Kreißler teilweise spielt, haben als Opfer der Gentrifizierung längst abgewirtschaftet. Die jungen urbanen Künstlermenschen, die in ihren Freiräumen wuchsen, sind mit dieser Entwicklung älter geworden. Das heißt, sie fragen sich nicht nur, wie sie ihre Mieten bezahle sollen, sondern auch wo und mit wem sie den Rest ihres Lebens verbringen möchten. Die Frage stellt sich umso dringender, wenn Erbschaften ins Spiel kommen. Die Arbeit am Wurzelwerk der Familiengeschichte kann beginnen.

Morgentau und Betonmischer

Der Maler Claus, der illegal auf einem Leipziger Dachboden gelebt hatte, erhält von seinem Unternehmer-Vater ein stattliches Vorerbe. Ein Widerspruch, der im Roman nicht problematisiert wird. Schließlich kauft sich Claus ja auch nur einen Hof in der westdeutschen Provinz davon. Eine Ruine, die er voller Enthusiasmus zur Lebensbaustelle umwidmet. Seine Gefährtin Vera und das Söhnchen Siggi begleiten den frisch erblühten Heimwerker. Sie müssen sich fortan zwischen Morgentauromantik und neuer Betonmischmaschinen-Sachlichkeit die Zukunft ausmalen.
Das große Konfliktfeld des Romans ist hierbei der Übergang. Sinnbild dafür ist die Baustelle, auf der ein Jahr lang nichts voranzugehen scheint und die dennoch immer in Bewegung bleibt. Für den, der werkelt, mag das toll sein. Für den, der seine Freunde im wilden Leipzig vermisst und den ewigen Dreck verflucht, wird es zum Alptraum. Da wo früher Party in städtischen Abbruchhäusern war, wird man im neuen Landleben nur noch auf so etwas eingeladen:
„30.8. / 20:00 Uhr
Mega Zelt Fete
6 Euro Eintritt
DJ Mike,
"Born for Korn!“

Wenn der Postbote klingelt

So ist es nicht verwunderlich, dass Vera bald der Kragen platzt. Und dass es auch in Veras Beziehung zu Claus ordentlich kracht. Da muss der flinke Postbote, ganz genrekonform, bald für eine kleine Freiheitsphantasie herhalten: „Lieber Postmann“, heißt es im Roman,
„ ... noch hat dich kein Regisseur entdeckt. Und die Chancen stehen nicht schlecht, dass dich hier auch niemand findet. Du bist ein Held, der nicht erdichtet werden kann. Dein Glamour liegt in dem, was du tust, ohne angesehen zu werden. All dein Handeln, deine Mimik sind frei von dem Zwang, etwas festhalten zu wollen – und gerade dadurch erzählst du meisterhaft natürlich das Epos vom Glühen und Verschwinden, nach dem das Auge der Kamera so gierig sucht.“
Das ist nicht nur ziemlich cheesy. Es klingt auch nach Käse. Denn dort, wo Lisa Kreißler in ihrem Stadt-Land-Roman die Ironiesense an die eigene Phantasie vom Idyll hätte ansetzen können, so wie Lola Randl in ihrer witzigen Brandenburg-Chronik, wuchern bei Kreißler die Stilblüten. „Jede Minute fügte mir einen Riss unter der Haut zu“, heißt es einmal schwer empfindsam. Und von den Menschen an einem niedersächsischen Bahnhof wird behauptet, ihre abgewandten Mienen seien „umflackert von der Aura der Angst“. Bevor man sich das Bild vergegenwärtigen kann, wird man schon vom nächsten bedrängt: „In ihren Augen thront der Fatalismus einer betrogenen Ehefrau.“

Geburt im Tipizelt

Was auch immer in den Augen von wem auch immer thronen mag: Lisa Kreißler biegt nicht nur stilistisch in eine Welt jenseits des Rationalitätsprinzips ab. Eine erneute Schwangerschaft gibt der Beziehung ihrer Heldin neuen Elan, und vor allem kann sie jetzt „Ja!“ zum Landleben sagen. Nun wird allerdings die in den ersten zwei Roman-Dritteln unzufriedene Vera nicht nur plötzlich zufrieden. Nein, sie wird auch zur Naturmystikerin. Die Geburt ihres zweiten Sohns findet entsprechend in einem Tipizelt unter der sanften Regie einer Schamanin statt.
„Das Feuer brennt. Es ist wunderbar warm. Maria hat eine Decke über uns gelegt. Valentin ist beim Trinken an meiner Brust wieder eingeschlafen. Sein Gesicht ist so neu. Ich bin nur damit beschäftigt, es zu erkennen.“
Es ist keine wirkliche Pointe, wenn am Ende herauskommt, dass die Schamanin nur eine Einbildung der Gebärenden gewesen ist.

Befremdlich Erbaulich

Was bleibt von dieser Lektüre? Ein Buch, das angetreten ist, das Erwachsenwerden einer Generation abzubilden, deren prägende Jahre in den Freiräumen der Nachwendestädte anzusiedeln sind. Einer Generation, die inzwischen selbst Kinder in die Welt gesetzt hat und nun zu ihren provinziellen Wurzeln zurückfindet. Das alles gerät bei Lisa Kreißler ins befremdlich Erbauliche. Ohne doppelten Boden. Ohne jedes Gespür für die sprachlichen Fallstricke der programmatischen Ergriffenheit.
„So heilig wird es nie wieder. Wir liegen zu dritt im Bett. Ich habe den Kopf in die Hand gestützt und beobachte meine Gefährten: den, der so klein ist, dass er im Bettzeug zu versinken droht, und den, der so erschöpft danebenliegt, mit den schönen Lippen und dem Zweifel hinter den Lidern.“
Lisa Kreißler: „Schreie & Flüstern“.
Mairisch Verlag, Hamburg 2021
217 Seiten, 20 Euro