Donnerstag, 28. März 2024

Archiv

Lisa Krusche: "Unsere anarchistischen Herzen"
Gegenwart, zuckersüß und apokalyptisch

Im Jahr 2020 gehörte Lisa Krusche bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur zu den Preisträgerinnen. Nun ist ihr Debütroman erschienen: In "Unsere anarchistischen Herzen" erzählt die 1990 geborene Autorin von sozialer Verwahrlosung und vom Schutzraum einer Freundschaft.

Von Christoph Schröder | 21.05.2021
Ein Portrait der Autorin Lisa Krusche und das Cover ihres Romandebüts „Unsere anarchistischen Herzen“ vor einen Hintergrund mit Herzen
Die 1990 in Hildesheim geborene Schriftstellerin Lisa Krusche hat bereits vor der Veröffentlichung ihres Debütromans für Aufmerksamkeit im Literaturbetrieb gesorgt. (Cover S. Fischer Verlag / Portrait (c) Charlotte Krusche / Hintergrund Canva)
Exakt in der Mitte des Romans, auf Seite 222, treffen die beiden Protagonistinnen von Lisa Krusches Roman erstmals aufeinander. Bis zu diesem Zeitpunkt sind sie aneinander vorbei- oder aufeinander zugetrieben, ohne voneinander zu wissen.
Gwen ist Stammkundin an Sinans Kiosk. Regelmäßig kauft sie dort Softdrinks oder Süßigkeiten. Manchmal nutzt sie das Hinterzimmer auch, um sich umzuziehen, sich in eine andere zu verwandeln; in das Abziehbild eines Ghetto-Kids, das nächtliche Kämpfe und Schlägereien anzettelt, um sich selbst zu spüren. An einem heißen Sommernachmittag ist vor Sinans Kiosk ein Pferd angebunden. Es gehört der jungen Charles, der zweiten Hauptfigur des Romans. Sie sitzt in einem von Sinans Plastikstühlen, als Gwen den Verkaufsraum betritt.
"Ein Mädchen in meinem Alter kommt rein. Sie sieht mythisch aus. Sie könnte eins dieser High-End-Pferdemädchen sein. Labels dezent, aber all over her body. Wie direkt aus Mitte hierher gebeamt. Nur ihre Haare. Zwar so seidig, als seien Shampoowerbungen doch keine Lüge, aber komplett weirder Schnitt. Richtig Punk."

Reichtum verstärkt Weltschmerz

Von seiner Anlage her ist "Unsere anarchistischen Herzen" ein konventionelles Buch. Es ist durchgehend aus zwei Perspektiven erzählt, die sich kapitelweise abwechseln: Gwen und Charles sind etwa siebzehn Jahre alt. Beide leiden, wenn auch auf unterschiedliche Weise, unter ihren Eltern. Charles wird gegen ihren Willen nach dem psychischen Zusammenbruch ihres Vaters, eines Künstlers, mitsamt ihrem Bruder von Berlin in eine außerhalb von Hildesheim gelegene Hippie-Kommune verfrachtet und vermisst ihr altes Leben. Gwen wiederum ist gepeinigt von dem kalten Klima der Ignoranz, das in ihrem Elternhaus herrscht. Der finanzielle Reichtum, der dort demonstrativ zur Schau getragen wird, verstärkt ihren Weltschmerz.
Zwei privilegierte, unglückliche junge Frauen also, die Freundinnen werden. Das ist eine zeitlose Konstellation für ein Jugendbuch. Ungewöhnlich daran ist die Collage aus unterschiedlichen Sprach- und Textebenen, mit der Lisa Krusche die Gedankenwelten ihrer beiden Erzählerinnen abbildet. Der Jargon des Romans, vor allem in den Passagen, in denen Gwen spricht, ist eine Mischung aus aphoristischen Sentenzen, wie man sie von Twitter kennt, hochtönenden und nicht selten verschraubten Reflexionen, die stellenweise von Infantilismus befallen sind, und einer artifiziell imitierten Jugendsprache.

Mitten ins Herz

Literatur, so hat Lisa Krusche es kürzlich in einem Gespräch formuliert, solle sich anfühlen wie Knisterkaugummis. Also süßlich tröstend und, um in der Romansprache zu bleiben, vielleicht auch cosy, aber in seiner Verzweiflung straight to the heart gehend: "Jeder bleibt allein mit nichts als sich selbst. Das ist die schlimmste Einsamkeit, denn es ist die größte. Mein Kopf ist der Wald, nur ganz anders, denn ich finde mich nicht zurecht darin."
Das ist der Trick des Romans: Wer dazu bereit ist, kann in Krusches mal puderzuckerbestäubter, mal apokalyptisch angepinselter Walt-Disney-Literatur eine tiefere Bedeutung erkennen, die von der Autorin selbst auch insinuiert wird. Ein Beispiel: Charles pflegt eine innige Verbindung zu einem Stoff-Oktopus, zu einer Bananenpalme und zu besagtem Pony namens Gerd. Eine Referenz an die feministische Kulturwissenschaftlerin Donna Haraway und deren Konzept der aufgelösten Grenzen zwischen Menschen- und Dingwelt. Außer einigen aparten Effekten folgt daraus bei Lisa Krusche allerdings nichts; kein Perspektivgewinn, kein erzählerischer Funken.

Gegenwartsimpule und Klischees

"Unsere anarchistischen Herzen" ist ein Sammelsurium aus Gegenwartsimpulsen, breit ausgewalzten Klischees und ausgesprochen banalen Dialogen. Parallel dazu flutet die Sprache der sozialen Netzwerke die Zeilen, bildet das aus diesem Code resultierende Bewusstsein wie auch das damit verbundene Grauen ab und reproduziert es dabei. Die Selbstgefälligkeit der satten, degenerierten Elterngeneration spiegelt sich unfreiwillig in der gnadenlosen Selbstgenügsamkeit, mit der die beiden Protagonistinnen das eigene Empfinden absolut setzen. Auch das ist nicht neu, lässt sich aber als Generationensymptom lesen.
Fairerweise muss man zugestehen, dass die zweite Hälfte dieses insgesamt viel zu langen Romans wesentlich stärker ist als die erste, weil Lisa Krusche in der Entwicklung der Freundschaft zwischen Gwen und Charles und deren Bedeutung als eine Art von Schutzraum gegen eine feindselige Umgebung einige zarte und gut formulierte Passagen gelingen: "so stelle ich mir erwachsenwerden vor: arme die mich halten & mein mädchen als komplizin für die rituellen operationen manchmal fließt ein bisschen blut aber in den lücken die bleiben kann die hoffnung wachsen".

Enttäuschend und Mühsam

In erster Linie aber ist "Unsere anarchistischen Herzen" eine Enttäuschung. Die Raffinesse beispielsweise, mit der Lisa Krusche in ihrem Klagenfurter Wettbewerbstext virtuelle und reale Welten miteinander verband, geht dem Roman vollkommen ab. Zudem nährt Krusches Sprache den Verdacht, dass es im Peinlichkeitsgrad keinen großen Unterschied macht, ob eine 30-jährige oder eine 60-jährige Autorin den Versuch unternimmt, Jugendsprache zu imitieren.
Krusche wird seit dem Sammelband "Mind State Malibu" einer neuen Generation von Autorinnen und Autoren zugerechnet, zu der beispielsweise auch Joshua Groß oder Leif Randt gehören. Deren ästhetisches Prinzip besteht darin, die Gegenwart vermeintlich affirmativ zu umkreisen, in Wahrheit aber auf eben diese Weise sprachlich zu untergraben, bis sie irgendwann zusammenbricht. Das ist ein untergründig politisches Unternehmen. Und im Hinblick auf "Unsere anarchistischen Herzen" ein ausgesprochen mühsames.
Lisa Krusche: "Unsere anarchistischen Herzen"
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 445 Seiten, 23 Euro