Freitag, 19. April 2024

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Literatin über Juden in Algerien
"Sie wollten unbedingt integraler Teil des französischen Volks sein"

Juden aus Algerien auf französischer Seite im Krieg gegen Deutschland: Dieses historische Kapitel habe "viele Jahre lang Schriftsteller nicht interessiert", sagte die Autorin Valérie Zenatti im Dlf. Ihr Buch "Jacob, Jacob" erzählt von Menschen, die "von der Geschichte erfasst werden, ohne dass sie es mitbekommen".

Valérie Zenatti im Gespräch mit Dina Netz | 25.10.2017
Buchcover von Jacob, Jacob vor einem Bilder der Stadt Constantine in Algerien, die auch auf dem Cover abgebildet ist.
Valérie Zenattis Roman "Jacob, Jacob" erzählt von einer Juden in Algerien und den Ausgrenzungsversuchen aus der französischen Nation, denen sie ausgesetzt waren (Verlag Schöffling / imago / Imagebroker)
Das französische Original-Interview mit Valérie Zenatti hören Sie hier.
Dina Netz: Sie werfen Ihre Leser mit Ihrem Roman "Jacob, Jacob" mitten hinein in ein ziemlich unbekanntes Milieu: das Milieu der französischen Juden in Algerien während des Zweiten Weltkriegs. Wie würden Sie dieses Milieu beschreiben?
Valérie Zenatti: Ich wollte keine Soziologie betreiben, sondern bin von meiner Familiengeschichte ausgegangen. Es ist eine sehr arme Familie, die den Traditionen und auch dem Aberglauben sehr verbunden ist und erst vor zwei Generationen französisch geworden ist. Und durch diesen Kontakt mit Frankreich wird die Familie in Kontakt mit der Weltgeschichte treten, denn die Juden in Algerien haben sich 1944 zur französischen Armee gemeldet.
Netz: Bevor wir tiefer in diese historische Dimension einsteigen, erzählen Sie uns vom titelgebenden Jacob. Was erlebt er?
Zenatti: Jacob ist zu Beginn des Romans 19 Jahre alt. Er ist schön, intelligent, ein Sonnenschein in einer Familie, in der manche Männer durch das harte Leben grausam und gewalttätig geworden sind. Jacob ist sehr sanft. Er hat ein Bewusstsein davon, dass das Leben auch aus etwas anderem als aus Elend und physischer Gewalt bestehen kann. Er hat Bedürfnisse, die er noch nicht sehr gut kennt, die aber eher auf der Seite des Lebens sind, des Entdeckungsdrangs, der Liebe. Er ist vom Vichy-Regime der Schule verwiesen worden, weil er Jude ist. Und dann meldet er sich zur französischen Armee, um Europa zu befreien, weil er denkt, dass das seine Aufgabe ist. Er landet 1944 in der Provence.
Für Schulbesuch nicht französisch genug, aber fürs Kämpfen
Netz: Die Juden in Algerien waren also nicht französisch genug, um die französische Schule zu besuchen, aber sie waren französisch genug, um auf den Schlachtfeldern zu sterben – kann man das so sagen?
Zenatti: Darin liegt die Ironie der Geschichte. Man muss wissen, dass die Juden seit Jahrhunderten in Algerien gelebt hatten, manche seit 2000 Jahren. Sie sind französisch geworden, als Frankreich Algerien Ende des 19. Jahrhunderts erobert hat. Aber Frankreichs Verhältnis zu ihnen war immer zwiespältig. Die Kolonisatoren waren häufig antisemitisch. Und unter dem Vichy-Regime wurden die Juden ihrer Bürgerrechte beraubt. Die Ironie der Geschichte liegt darin, dass sie die manchmal französisch waren, manchmal nicht, manchmal integraler Bestandteil der Nation, manchmal abzulehnende Elemente. Das zeigt eine Auffassung von Nationalismus, die häufig dumm und unbegründet ist, die sich außerdem im Laufe der Geschichte verändert hat und nichts über die wahre Natur der Menschen aussagt.
Netz: Da sind wir schon bei der Interpretation Ihres Buches. "Jacob, Jacob" ist ganz klar ein Roman über das Schicksal der Juden in Algerien. Aber ich habe das Buch auch als Anti-Kriegsroman gelesen und als ein Buch über Minderheiten allgemein und darüber, dass Minderheiten immer in Gefahr sind, wenn die politischen Spannungen zunehmen. War das Ihre Intention?
Zenatti: Ich versuche, beim Schreiben keine Absicht zu verfolgen, vor allem keine politische oder moralische. Für mich bedeutet Schreiben den Versuch, etwas vom Leben einzufangen. Danach kommt die Interpretation. Für mich war der Antriebsmotor beim Schreiben dieses Buches, diesen jungen Mann Jacob dem Vergessen zu entreißen. Es hat ihn tatsächlich gegeben, er war der jüngere Bruder meines Großvaters. Als ich klein war, habe ich ihn auf den Familienfotos entdeckt. Ich habe mir viele Fragen über das tragische Schicksal dieses jungen Mannes gestellt, der keine Zeit zum Leben hatte und der in einem so brutalen Moment der Geschichte gestorben ist, dass sein Name ausradiert wurde. Denn Jacob hat nicht in den Verlauf der Geschichte eingegriffen, sondern er ist Teil von ihr geworden. Für mich war das sentimentale Motiv für diesen Roman die Liebe: Ich wollte diesen jungen Mann lieben, den seit mehr als 70 Jahren niemand mehr lieben kann, weil er nicht mehr da ist. Die Interpretation, die Sie gerade gemacht haben, war also nicht meine Absicht.
Netz: Ich entschuldige mich!
Zenatti: Oh nein, das müssen Sie nicht! Ich schätze die Interpretationen meiner Bücher sehr, auch wenn sie nicht meiner Intention entsprechen. Das heißt ja nicht, dass die Interpretation falsch ist. Ich bin ganz im Gegenteil sehr glücklich zu sehen, dass ein Buch Dinge enthalten kann jenseits derer, die ich hineingelegt habe.
Ausgrenzung schwere Verletzung für Algeriens Juden
Netz: Wir müssen noch erwähnen, dass Sie auch die Geschichte von Gabriel erzählen, von Jacobs Neffen. Gabriel musste während des Algerienkriegs die algerischen Moslems bekämpfen, also seine Nachbarn. Warum haben Sie Gabriels Geschichte dem Buch noch hinzugefügt?
Zenatti: Mir ging es darum, die letzten Monate in Jacobs Leben zu erzählen. Und mir ist ziemlich schnell klar geworden, dass, wenn ich das Buch mit seinem Tod enden ließe, das wie eine zweite Beerdigung wäre. Dann wäre das Ende seines Lebens auch das Ende seiner Geschichte gewesen. Es erschien mir deshalb reizvoller, die Echos von Jacobs Existenz einzufangen, die Erinnerungen, die Träume seiner Mutter und auch das Vorbild, das er für seinen Neffen Gabriel darstellt. In der Familie wird Jacob als Held betrachtet, der an der Befreiung Frankreichs beteiligt war. Gabriel wird dann in einen anderen Krieg verwickelt, der vielleicht – und das sage ich mit aller Vorsicht – weniger gerecht ist als der davor. Der Krieg, den die Franzosen in den 50er- und 60er-Jahren gegen die Algerier, die ihre Unabhängigkeit forderten, geführt haben, war jedenfalls eher ein Bürgerkrieg und auch ein Unterwerfungskrieg. Und mir ging es darum zu zeigen, wie Gabriel sich geirrt hat: Er wollte dem Beispiel seines Onkels nacheifern, indem auch er einen gerechten Krieg führte. Aber dieser Krieg wurde nicht gegen eine andere Armee, sondern gegen algerische Unabhängigkeitskämpfer und gegen die Zivilbevölkerung geführt. Innerhalb weniger Jahre wurde diese Familie also mehrfach vom Atem der Geschichte gestreift, obwohl sie absolut kein historisches Bewusstsein hatten. Und es interessiert mich sehr, genau hinzuschauen, wenn Menschen von der Geschichte erfasst werden, ohne dass sie es mitbekommen.
Netz: Sie sprechen davon, dass die Juden in Algerien von der Geschichte gestreift wurden, den Atem der Geschichte gespürt haben. Man könnte ja auch sagen, dass der französische Staat die jüdisch-algerischen Mitbürger benutzt hat. Wären Sie damit einverstanden?
Zenatti: Die Sache ist komplexer. Die Juden in Algerien haben den Ausschluss aus der Nation als schwere Verletzung erlebt. Sie waren gerade zwei Generationen zuvor französisch geworden. Als die amerikanischen und französischen Truppen in Europa gelandet sind, waren die Juden nicht nachtragend, sie wollten um jeden Preis wieder in die Nation integriert werden. Und die wirksamste Art, ihre Zugehörigkeit zu demonstrieren, war, sich zur Armee zu melden. Sie wollten unbedingt integraler Bestandteil des französischen Volkes sein. Ich kenne das aus eigener Anschauung: Die Juden aus Algerien waren lange Zeit sehr stolz, in der französischen Verwaltung zu arbeiten, im Rathaus, der Präfektur oder als Lehrer.
Ich weiß deshalb nicht, ob man sagen kann, dass Frankreich sie benutzt hat. In gewisser Weise benutzt jeder Staat die jungen Leute, die für ihn kämpfen. Wenn jemand ausgenutzt worden ist, waren es eher die Moslems, die keine Franzosen waren und trotzdem im Ersten und Zweiten Weltkrieg für Frankreich gekämpft haben. Und natürlich ist diese Ausbeutung die Quelle einer großen Frustration, denn sie sind für Frankreich gestorben, aber es hat bis zum Präsidenten Chirac keine Anerkennung für dieses Opfer gegeben. Das war eine himmelschreiende Ungerechtigkeit. Das Schicksal der Juden in Algerien ist dagegen komplizierter. Ich habe mit meinem Buch ein sehr komplexes Kapitel in der Geschichte der französischen Juden berührt.
Algerischstämmige lange eher karikiert als porträtiert
Netz: Ein komplexes Kapitel der jüdischen Geschichte in Algerien, aber auch ein selten erzähltes. Auf Deutsch fällt einem eigentlich nur Albert Camus mit seinem autobiographischen Roman "Der erste Mensch" ein. Es gibt jedenfalls wenig Zeugnisse dieses jüdischen Lebens in Algerien. Frau Zenatti, haben Sie eine Ahnung warum?
Zenatti: Ich glaube, dass diese Geschichte in der Tat viele Jahre lang Schriftsteller nicht interessiert hat. Vor allem wurden die Franzosen, die in Algerien lebten, als sie in den 60er-Jahren nach Frankreich kamen, im Mutterland nicht gerade herzlich empfangen. Das galt nicht nur für die Juden, sondern auch für die pieds noirs, die 100 Jahre vorher als Kolonisatoren nach Algerien gegangen waren. Ihr Akzent, ihre Ausdrucksweise, ihre Essgewohnheiten wurden oft karikiert. Und es hat gedauert, bis ich begriffen habe, dass das ein Thema für die Literatur sein könnte. Mein Anliegen war es, denen, die schon in Algerien nicht viel besaßen und bei ihrer Ankunft in Frankreich überhaupt nichts mehr hatten, eine literarische Stimme zu verleihen. Meine Familie hatte gerade noch eine Nähmaschine und ein Fotoalbum. Es gab keine Spur ihrer Jahrhunderte langen Geschichte mehr. In meiner Familie sagte man: Wir haben alles dort gelassen inklusive unserer Toten.
Ich habe also ein Buch über die Abwesenheit und die Auslöschung geschrieben. Und wie Camus, den ich als meinen Meister betrachte, wollte ich Menschen zum Thema von Literatur machen, die keine Sprache beherrschten, die nicht schreiben konnten. Die meisten Figuren des Romans hätten ihn gar nicht lesen können. Mit der Sprache gebe ich ihnen ihre Existenz und ihre Würde zurück. Und dann kam dazu, dass ich realisiert habe, dass diese Menschen in der Tat fast überhaupt nicht in der Literatur vorkommen. Das ist bisher ein Tabu, aber ich glaube, das ändert sich gerade.
Valérie Zenatti: "Jacob, Jacob"
Aus dem Französischen von Patricia Klobusiczky
Verlag Schöffling & Co., Frankfurt 2017
196 Seiten, 20 Euro