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Literatur als Medizin
Romane auf Rezept

Wer liest, taucht oft in die Geschichte ein. Das ist ein Umstand, den sich auch die Medizin zu Nutzen macht. So in der Bibliotherapie oder beim Thema Lesen als Depressionstherapie. Mit diesen und anderen Facetten der Literatur als Heilmittel hat sich die Journalistin Andrea Gerk in ihrem Buch "Literatur als Medizin. Die wundersame Wirkung der Literatur" auseinandergesetzt.

Von Michaela Schmitz |
    Ein Vater liest in Frankfurt am Main ein Buch in einer Hängematte im Günthersburgpark. Vor ihm spielt seine kleine Tochter im Schatten der Bäume.
    Mittels Bibliotherapie wird Literatur als Heilmittel eingesetzt (picture alliance / dpa / Frank Rumpenhorst)
    "Aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund".
    Ob Bibel, Koran oder Talmud: Das Heilige Wort als Medizin für die Seele ist fester Bestandteil im Glauben sämtlicher "Buchreligionen". Aber auch "profane" Literatur kann als Heilmittel seelischer Leiden erstaunliche Wirkmacht entfalten. Diesem Phänomen geht die Publizistin Andrea Gerk in ihrem neuen Buch nach. "Literatur als Medizin. Die wundersame Wirkung der Literatur" ist das Ergebnis ihrer breiten journalistischen Recherchen: in Literatur und Bibliotheken, Experteninterviews und Patientenbefragungen, eigenen Leseerfahrungen und ungewöhnlichen Selbstversuchen. In einem dieser Experimente legt sich die Autorin selbst unters MRT: Neurowissenschaftler messen ihre Gehirnströme und körperlichen Reaktionen, während ihr Eichendorff-Gedichte vorgelesen werden. Das Ergebnis: viele rote Punkte. Was die bedeuten könnten, hat Andrea Gerk die Experten gefragt:
    "Die beschäftigen sich ja seit einigen Jahren sehr stark auch gerade mit den emotionalen Qualitäten von Literatur und untersuchen zum Beispiel, warum wirkt Harry Potter so stark bei uns – oder wie funktioniert überhaupt Sprache. Und da gibt es verschiedene interessante Hypothesen. Zum Beispiel ist eine, es gibt ja die Erkenntnis, dass Gesprächstherapien bestimmte Regionen im Gehirn ansprechen, die Angst herunterregulieren. Und das könnte auch etwas sein, was eben auch bei Literatur passiert, dass so eine Art Placebo-Effekt eintritt. Oder ein Moment ist sicher die Klangqualität von Dichtung, von Sprache."
    Die Publizistin Andrea Gerk wurde 1967 in Essen geboren. Nach einem Studium der Angewandten Theaterwissenschaften in Gießen absolvierte sie ein Volontariat beim Hessischen Rundfunk. Seit 1995 ist sie als Literatur- und Theaterkritikerin sowie als Moderatorin für öffentlich-rechtliche Radiosender tätig. Sie lebt in Berlin. Gerk ist außerdem seit einigen Jahren Kleinstverlegerin eines Hörbuch-Labels. Jetzt hat Andrea Gerk einen Essayband über "Literatur als Medizin. Die wundersame Wirkung der Literatur" herausgegeben.
    Leser vollzieht Handlungen und Emotionen nach
    Doch wie funktioniert dieser Placebo-Effekt? Indem die Leser Handlungen und Emotionen der Figuren selbst nachvollziehen. Neurowissenschaftler können belegen, dass beim Lesen handlungsbezogener Worte im Gehirn genau die Netzwerke aktiviert werden, die teilweise auch dann aktiv sind, wenn wir die Handlung tatsächlich ausführen. Im Kopf findet also eine buchstäbliche "Verkörperung" abstrakter Begriffe statt. Zentrum dieses neuronalen Resonanzsystems sind sogenannte "Spiegelneuronen". Doch reicht das, um zu verstehen, was passiert, wenn wir in komplexe literarische Erlebniswelten von Romanen regelrecht "eintauchen"? Reflektorische Erklärungsmodelle können diese komplizierten neurologischen Vorgänge kaum erschöpfend abbilden. Denn um uns fremde Welten zu eigen machen zu können, müssen wir uns völlig in sie hineinversetzen und in unserem Kopfkino quasi noch einmal neu erfinden. Und genau das macht das kreative Potenzial der Literatur aus, meint Autorin Andrea Gerk:
    "Und ich finde, das kann sehr kraftvoll sein und eine sehr produktive Energie entwickeln, dass man sich selbst als jemand anderen erleben kann und fantasieren kann in der Literatur."
    Seit es das Erzählen gibt, setzen Menschen die schöpferische Kraft der Literatur ein, um Seelenleiden zu heilen. Nicht zufällig ist Apollon der antike Gott der Heilung und Dichtung. Was Dichter, Ärzte und Seelsorger seit Menschengedenken anwenden, nennt sich heutzutage Bibliotherapie. Autorin Andrea Gerk hat sich selbst als Patientin und auf Seminaren verschiedenen Formen der Bibliotherapie unterzogen:
    Bibliotherapie bei Depressionen
    "Ja, also es gibt sehr verschiedene Formen, aber dieses gezielt therapeutische ist tatsächlich so wie Mal- oder Tanztherapie eine Form der Kreativtherapie, die begleitend angeboten wird. In den USA kann man das sogar an Universitäten studieren und in Großbritannien und Skandinavien ist das auch sehr verbreitet. Und das reicht eben von Lesegruppen in Altersheimen, in der Psychiatrie, in Krankenhäusern, im Gefängnissen bis hin zu einer hochwertigen Leseberatung: Ich hab zum Beispiel mal eine Londoner Bibliotherapeutin per Skype konsultiert und hab gesagt, mein Leben, und so ein bisschen Midlife-Krise, und was sie mir denn so empfiehlt. Und dann haben wir ungefähr eine Stunde gesprochen, sie wollte sehr genau über meine Lesevorlieben was wissen, und hat mir dann fünf Romane auf Rezept verschrieben mit kleinen Fünf-Satz-Anweisungen, warum sie mir genau diese Bücher empfiehlt. Also auch das kann Bibliotherapie sein, dass man einfach über die Bücher ins Gespräch kommt. Es kann aber tatsächlich auch mehr ins Therapeutische, um die Texte als Anlass zum Schreiben zum Beispiel zu nehmen."
    Der heilende Solidaritätseffekt
    Literatur auf Rezept: Das gibt es bereits seit einigen Jahren in England. Dort kann man sich gegen Depressionen Bücher vom Arzt verschreiben lassen. Und diese dann in der Stadtbibliothek einlösen. Literatur ist aber nicht nur als Medizin gegen seelische Leiden oder zur Linderung körperlicher Beschwerden in der Psychologie und in Krankenhäusern mit Erfolg im Einsatz. Auch im Strafvollzug haben Versuche zur moralischen Besserung der Häftlinge durch gezielte Lektüre jahrhundertelange Tradition. In einem aktuellen Projekt der Dresdner Jugendgerichtshilfe werden jugendliche Straftäter statt zu Sozialstunden zum Lesen verurteilt. Die Initiative ist ein Erfolg. "Haftverkürzung durch Lesen" ist das Motto eines Buch-Projekts in einem brasilianischen Hochsicherheitsgefängnis. Ein Buch bringt vier Tage. Überraschenderweise rangiert in Gefängnissen häufig Lesen als Freizeitbeschäftigung noch vor Fernsehen. Was das Lesen besonders in geschlossenen Institutionen so attraktiv macht? Es ist wohl die Freiheit, in andere Räume ausbrechen und die seelische Entlastung, in fremde Rollen schlüpfen zu können. Und schließlich, das eigene Leiden in den Romanfiguren wiederzuerkennen, meint Autorin Andrea Gerk:
    "Ja, da bin ich ja mittendrin in dieser Geschichte. Und das nennen Therapeuten zum Beispiel Solidaritätseffekt. Das man erfährt, das ist zwar nicht meine Geschichte, aber ich bin trotzdem nicht allein, es gibt andere, die haben das schon erlebt. Und man kann dann eben seine Selbstheilungskräfte sozusagen aktivieren, und es ist nicht wie bei einem Ratgeber, der einem sagt "Ich weiß besser, was für Dich gut ist". Literatur zeigt einem Möglichkeiten, wie man das selbst für sich rausfinden kann. Und das ist, glaube ich, der große Trost der Literatur."
    Der Trost der Literatur. Es ist ein weites Feld, das Andrea Gerk in ihrem neuen Buch "Literatur als Medizin. Die wundersame Wirkung der Literatur" zu vermessen versucht. Gelegentlich hat man als Leser das Gefühl, ein zu weites Feld. Das liegt wohl an dem sehr weit gefassten thematischen Rahmen. Die Fülle der recherchierten Fakten ist beeindruckend. Jedes Detail für sich ist interessant und die Texte sind durchweg fundiert und zugleich locker und spannend geschrieben. Im radiojournalistisch geschulten essayistischen Stil, wo man beim Plaudern gerne auch mal zu Abschweifungen neigt. Das macht den Charme ihres unterhaltsamen Buchs aus, der es auch für ein breites Lesepublikum interessant macht. Das ist aber auch das Manko von Andrea Gerks "Literatur als Medizin. Die wundersame Wirkung der Literatur". Denn die Faszination von der Heilkraft der Literatur kann bei so viel Beredsamkeit irgendwann leicht einmal verloren gehen.
    Andrea Gerk: "Literatur als Medizin. Die wundersame Wirkung der Literatur"
    Rogner & Bernard Verlag 2015, 342 Seiten, 22,95 EUR.