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Lorenzo Marsili / Niccolò Milanese
"Wir heimatlosen Weltbürger"

"Wie Europa vor sich selbst gerettet werden kann" – So lautet übersetzt der Original-Untertitel des Buches der Aktivisten Lorenzo Marsili und Niccolò Milanese. Es geht ihnen um das neoliberale Wesen der Europäischen Union, das ihrer Ansicht nach umgewandelt werden muss – in ein transnationales, soziales Europa.

Von Barbara Eisenmann | 20.05.2019
Hintergrund: Eine Landkarte der EU-Mitgliedsländer auf einer Wand aus Bausteinen, umrahmt von der EU-Flagge. Vordergrund: Buchcover
Den Autoren geht es um eine neue Form, Politik zu begreifen und zu praktizieren - jenseits, zwischen und in den existierenden Institutionen. (picture alliance / dpa / epa belga EC/ Suhrkamp Verlag)
Im ersten Kapitel ihres Buches "Wir heimatlosen Weltbürger" rekonstruieren die beiden jungen Autoren und Aktivisten Marsili und Milanese noch einmal die Urszene des Kriseneuropas, die es ihnen erlaubt, die zwei Europas, von denen das Buch handelt, anschaulich zu beschreiben. Es geht dabei um den Wahlsieg der griechischen Syriza, ein Zusammenschluss radikaler linker Parteien, im Jahr 2015 einerseits und die Reaktionen der Europäischen Union unter Führung seines mächtigsten Mitgliedslands, der Bundesrepublik Deutschland, andererseits.
"Europas Eliten beschlossen, der Glaube an politische Alternativen stelle ein potenziell ansteckendes Risiko dar, weshalb man ihn nicht tolerieren könne. [...] Jeder Erfolg Syrizas barg das Risiko, die Europäerinnen zu einen und die dominierende Strategie des Teilens und Herrschens zu zerstören."
Wer diese Interpretation für verschwörungstheoretisch hält, der sei an Wolfgang Schäubles Worte erinnert, damals deutscher Finanzminister:
"Man kann nicht zulassen, dass Wahlen die Wirtschaftspolitik beeinflussen."
Oder an die Worte des Präsidenten des Europäischen Rats, Donald Tusk, kurz nachdem man Griechenland qua Austrittsdrohung gezwungen hatte, die EU-Beschlüsse zu akzeptieren:
"Ich habe wirklich Angst vor der Ansteckungsgefahr, die von der griechischen Krise ausgeht, weniger in finanzieller als vielmehr in ideologischer und politischer Hinsicht. Es gibt eine Art ökonomische und ideologische Illusion, wir hätten die Chance, eine Alternative zum traditionellen europäischen Wirtschaftssystem zu entwickeln. Das ist nicht allein ein griechisches Phänomen."
Neoliberales Regieren in der EU
Nun zeigt der Fall Griechenland einen ganz zentralen Punkt, nämlich dass dem Staat, in diesem Fall dem europäischen Staatsapparat, im Neoliberalismus eine sehr spezifische Rolle zukommt und alle Darstellungen, die Staat und Märkte einander gegenüberstellen, an der neoliberalen Wirklichkeit vorbeigehen.
"Entgegen der allgemeinen Auffassung sind Staaten niemals so aktiv gewesen wie in den letzten 30 Jahren der neoliberalen Hegemonie."
Schon einer der Gründerväter der neoliberalen Ideologie, der Österreicher Friedrich von Hayek, so die beiden Autoren, hatte in einem Aufsatz, geschrieben während des Zweiten Weltkriegs, für eine Föderation von Staaten geworben. Weil, wie Hayek schreibt, der "Wegfall von Zollmauern und die freie Beweglichkeit von Menschen und Kapital zwischen den Staaten des Bundes" den "Spielraum der Wirtschaftspolitik der einzelnen Staaten in sehr beträchtlichem Ausmaß" beschränken würde. Die EU sei nun genau ein solcher Hayekscher Staatenverbund zugunsten der Märkte. Ein Land wie Griechenland, gebunden an die Währungsunion, kann nicht mehr auf die Abwertung der Währung setzen, um seine Schulden zu bewältigen, da es keine eigene Währung mehr hat, so die Autoren. Gleichzeitig hätten Schäuble und die anderen Finanzminister in der Eurokrise alles daran gesetzt, die Interessen der Mitgliedsstaaten im Hayekschen Sinne gegeneinander auszuspielen.
"Anstelle ernsthafter Verhandlungen, anstelle einer öffentlichen Auseinandersetzung, in der Meinungen zum Gemeinwohl der Europäerinnen und Europäer hätten geformt werden können, wurden die europäischen Institutionen zu Instrumenten, die Menschen trennen, indem man den Bevölkerungen erzählte, sie stünden mit nicht vertrauenswürdigen Konkurrenten in einem Wettbewerb."
Dabei müsste deutlich gemacht werden, dass es weder um Konflikte zwischen den Mitgliedsstaaten untereinander noch um einen Konflikt zwischen der EU und den Mitgliedsländern geht, sondern um einen Konflikt zwischen zwei verschiedenen Gesellschaftsmodellen: einem neoliberalen und einem sozialen.
Ein transnationales Europa der Bürger*innen
Damit kommen wir zum zweiten Teil des Buches, der Transformation der jetzigen neoliberalen EU hin zu einem transnationalen, sozialen Europa. Die Autoren selber arbeiten mit ihrer zivilgesellschaftlichen Organisation "European Alternatives" nun bereits seit mehr als zehn Jahren am Aufbau einer europäischen Bewegung für die Demokratie. Wobei ihnen für die Zukunft die Gründung einer progressiven transnationalen Partei vorschwebt, in der soziale Bewegungen, Initiativen, Organisationen, Gewerkschaften, Parteien usw. aufgehen sollen - in Europa und idealtypischer Weise auf der ganzen Welt.
"Es geht nicht darum einen (ohnehin unmöglichen) globalen Monsterstaat zu errichten; wir müssen uns vielmehr an einer Vielzahl von Orten für Gleichberechtigung und Fortschritt engagieren und die Vielfalt der Institutionen auf vorteilhafte Weise als System der Gegenmächte und Gleichgewichte nutzen."
Den Autoren geht es vor allem um eine neue Form, Politik zu begreifen und zu praktizieren, und zwar jenseits, zwischen und in den existierenden Institutionen. Eine transnationale Bewegungspartei, die in Parlamente einziehen, aber gleichzeitig weiterhin den Bewegungen außerhalb dienen soll, wäre der dafür geeignete Akteur. Hier bleiben die Autoren dann allerdings in der Theorie stecken, denn das Verhältnis von Parteien und sozialen Bewegungen ist ein schwieriges.
Das Buch ist stark und überzeugend auf der analytischen Ebene, in die reichhaltiges Material aus politisch-theoretischen, politisch-ökonomischen und historischen Untersuchungen eingeflossen ist. Es ist außerdem leidenschaftlich gedacht und geschrieben, und diese Begeisterung hat durchaus etwas Ansteckendes, auch weil sie keineswegs blauäugig ist, sondern auf einer fundierten Analyse aufsitzt. Auf der Ebene der Umsetzung fällt das Buch jedoch zurück. Und über die Strategien von "European Alternatives" im Hinblick auf die anstehenden Europawahlen erfährt man so gut wie nichts.
Lorenzo Marsili / Niccolò Milanese: "Wir heimatlosen Weltbürger",
Suhrkamp, 280 Seiten, 18 Euro.