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Louise Erdrich: "Der Nachtwächter"
Die erzwungene Assimiliation der frühen amerikanischen Bevölkerung

Louise Erdrichs neuer Roman, ausgezeichnet mit dem Pulitzer Prize for Fiction 2021, erinnert an ein vergessenes Kapitel der US-amerikanischen Geschichte. Die Autorin mit Wurzeln im Volk der Chippewa erzählt hier auch vom politischen Kampf ihres Großvaters.

Von Yannic Han Biao Federer | 12.07.2021
Die Schriftstellerin Louise Erdrich und ihr Roman "Der Nachtwächter"
Louise Erdrichs neuer Roman erzählt vom Kampf des Großvaters (Foto: Paul Emmel, Buchcover: Aufbau Verlag)
Louise Erdrichs neuer Roman "Der Nachtwächter" beginnt mit einer Schreibszene, allerdings keiner literarischen. Denn Thomas Wazhashk, der titelgebende Nachtwächter, ist kein Schriftsteller. Nachts wandert er allein durch die verlassenen Gänge der Lagersteinfabrik am Rande der Turtle Mountain Indian Reservation, durch die Werkhallen, in denen tagsüber Turtle-Mountain-Frauen ihre Präzisionsarbeit verrichten, Löcher in winzige Edelsteine bohren für die Uhrenindustrie und das Verteidigungsministerium. Dann, zwischen den Kontrollgängen, setzt er sich an den Schreibtisch, kämpft mit dem Schlaf und beginnt seine übrigen Amtsgeschäfte.
"Auf seinen Tisch ergoss sich das Licht einer Lampe, die er defekt gefunden und instand gesetzt hatte, in deren Kegel er seitdem las, schrieb, nachdachte und sich ab und zu ohrfeigte, um wach zu bleiben."
Thomas ist Vorsitzender im Stammesrat, erst seit Kurzem steht diese Fabrik in der Nähe des Reservats, er hat sich für ihre Ansiedlung starkgemacht. Unermüdlich schreibt er dort nun Briefe an den Senator von North Dakota, an den County Commissioner. Anfangs geht es noch um die Elektrifizierung der ländlichen Region, um die Ausbesserung von Straßen, bald aber schon um viel mehr. Denn das Reservat ist in Gefahr, und mit ihm die Existenz des gesamten Stammes.
Erinnerung an die "Terminationspolitik"
Zu Beginn der 50er-Jahre nämlich setzt in den USA die so bezeichnete Terminationspolitik ein, die auf die Auflösung der Reservate abzielt und auf die erzwungene Assimilierung ihrer Bevölkerungen. In der House Concurrent Resolution 108, verabschiedet am 1. August 1953, werden die ersten Stämme benannt, die zur Terminierung vorgesehen sind. Zu ihnen zählt auch der Turtle Mountain Band of Chippewa.
"Das ist es dann also, dachte Thomas, als er die nüchternen Satzgirlanden der Gesetzesvorlage vor sich sah. Wir haben die Pocken überlebt, die Winchester-Repetierbüchse, die Hotchkiss-Kanone, die Tuberkulose. Wir haben die Grippeepidemie von 1918 überlebt und in vier oder fünf Kriegen für die USA gekämpft. Und jetzt vernichtet uns diese Ansammlung knochentrockener Wörter."
Ein mühsamer politischer Kampf beginnt für die Turtle Mountain Chippewa, sie organisieren sich im Stammesrat, sammeln Unterschriften im Reservat, entsenden eine Delegation in die nächstgelegene Vertretung des Bureau of Indian Affairs, wo man wenig Verständnis für sie hat. Schließlich können sie eine Anhörung im Kongress erreichen, vor dem zuständigen Unterausschuss. Dort sollen sie auch vor den Mann treten, der die Terminationspolitik maßgeblich vorantreibt: Senator Arthur V. Watkins. Er kommt aus Utah, ist streng gläubiger Mormone, und sein religiöser Eifer, erfährt Thomas, ist von seinen politischen Ansichten nicht zu trennen.
"Jetzt, wo Thomas so viel im Buch Mormon gelesen hatte, wie es ihm seine Erschöpfung erlaubte, begriff er auch, warum der Mann sich überhaupt nicht um die bestehenden Verträge scherte. Watkins‘ Glauben zufolge hatte Gott den Mormonen alles Land versprochen, das sie wollten. Indianer waren nicht rein und angenehm, sondern mit dunkler Haut gestraft und hatten kein Recht, das Land zu bewohnen."
Bezüge zu realen Personen
Senator Watkins ist keine erfundene Figur, wie auch Thomas Wazhashk an eine historische Persönlichkeit angelehnt ist, nämlich an Patrick Gourneau, Louis Erdrichs Großvater. Und die Geschichten der übrigen Figuren, erklärt Erdrich im Nachwort zum Roman, sind sämtlich auf detaillierter Recherche gegründet, etwa die der Fabrikarbeiterin Patrice, die eine tragende Rolle im Verlauf des Romans einnimmt, nach Minneapolis aufbricht, um ihre Schwester zu suchen, die dort in die Fänge von Menschenhändlern geraten ist. Selbst das Boxturnier, das Thomas organisiert, um die notwenigen Mittel für die Delegation nach Washington aufzutreiben, hat es tatsächlich gegeben.
Es ist eine beeindruckende Reise in ein Kapitel der US-amerikanischen Geschichte, das zu Unrecht in Vergessenheit geraten ist. Genau genommen ist es nicht einmal vorbei: Vor wenigen Monaten erst scheiterte ein neuerlicher Versuch der Trump-Regierung, an die Terminationspolitik anzuknüpfen, diesmal sollte es ausgerechnet die Wampanoag treffen, jenen Stamm, mit denen die ersten weißen Siedler noch Thanksgiving gefeiert hatten. Eine lohnende Lektüre also, vor allem wenn man zur englischsprachigen Originalfassung greift.
Die deutsche Übersetzung von Gesine Schröder kann Erdrichs Stil und Rhythmus nämlich nicht wirklich transportieren und überfrachtet einfache Formulierungen stellenweise mit ungelenken Archaismen, Regionalismen oder idiomatischen Wendungen. So wird aus der "magical hush" eine "zauberische Stille"; wiegt jemand ein Kind, wird es "[ge]schuckelt", aus den schlichten Erdböden der Bohlenhäuser, den "dirt floors", wird ein "irdener Boden" – und der einfache Satz: "that’s me" gerät zu: "Das bin ich, wie ich leibe und lebe." Erdrichs so eigenwilliger wie leichtfüßiger Sprache wird das leider nicht gerecht.
Louise Erdrich: "Der Nachtwächter"
Aus dem Amerikanischen von Gesine Schröder
Aufbau Verlag, Berlin, 496 Seiten, 24 Euro.