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Lukas Rietzschel: „Raumfahrer“
Der unbekannte Bruder

Ein verrückter Alter, ein verschwundener Baselitz und ein verstummter Vater: Lukas Rietzschel verbindet in seinem zweiten Roman die Intrigen der Stasi mit dem nostalgiefreien Porträt eines verödenden sächsischen Landstrichs und zeigt: Helden fallen in jedem Jahrhundert.

Von Miriam Zeh | 02.08.2021
Der Autor Lukas Rietzschel und das Buchcover seines Romans "Raumfahrer
Lukas Rietzschel: "Raumfahrer" (Cover dtv / Autorenportrait (c) Christine Fenzl)
Busse fahren kaum noch. Beim Verkehrsbund kann man einzelne Fahrten vorbestellen, mehr lohnt nicht. Schließlich wird ein Wohnblock nach dem anderen abgerissen in Kamenz in Sachsen. Die Schule und der Kindergarten haben schon geschlossen. Bald gibt es auch das Krankenhaus nicht mehr. Aber bis dahin macht Jan seinen Job.
"Er schob Menschen, die nur noch ein paar Stunden zu leben hatten, noch schnell zum Röntgen und zum Ultraschall, gern auch zum MRT, damit das Krankenhaus die entsprechenden Leistungen, die natürlich vollkommen sinnlos waren, bei der Krankenkasse abrechnen konnte."
Ein Patient kommt immer wieder: "der Alte" im Rollstuhl. Eines Nachmittags überreicht er Jan einen Schuhkarton mit Fotos, Briefen, Dokumenten. Sein Vater habe gewollt, dass Jan ihn bekomme, sagt der Alte, sein Vater Günther Kern, Bruder von Hans-Georg Kern, der wiederum bekannt wurde als Georg Baselitz.
"‚So ein berühmter Maler‘, sagte Vater, es war mehr Stammeln als Reden, ‚mit solchen Leuten haben wir ja nichts zu tun. […]‘"
Doch Jan ist misstrauisch. Sein frühpensionierter Vater, mit dem er zusammen in einem Einfamilienhaus am Stadtrand lebt, verhält sich merkwürdig, sobald von Familie Kern aus Deutschbaselitz die Rede ist. Haben am Ende Georg Baselitz und sein Bruder etwas mit der Trennung seiner Eltern zu tun?
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Vergangenes und Brüche

Jan hat nie verstanden, was zwischen den beiden vorgefallen ist. Die Mutter stürzte nach der Scheidung in die Alkoholabhängigkeit. Jans Vater hüllte sich in Schweigen. Obwohl ihr Sohn, 1989 geboren, die Wiedervereinigung als Baby miterlebt hat, versteht Jan heute, dass der Übergang von einem System ins nächste auch für seine Eltern nicht reibungslos verlaufen ist. Viele gebrochene Menschen sieht er in Kamenz. Und er findet sie auch in Baselitz‘ monumentalen Bildern aus den 1960er Jahren.
"Die Helden-Gemälde von Baselitz, sie hatten Ähnlichkeit mit den Helden, die Jan kannte und gekannt hatte. Nach der Wende sah er die ehemaligen NVA-Offiziere die Neubaublöcke umkreisen. Badelatschen als Haus- und Straßenschuhe. Einer schob seine behinderte Mutter im Rollstuhl hin und her."
Auf verschiedenen Zeitebenen erzählt Lukas Rietzschel die Lebensgeschichte von Günther Kern und jene Nachforschung, die Jan Nowak über den unbekannten Bruder von Georg Baselitz anstellt. Nach dem Krieg hatte Familie Kern zunächst alles verloren. Der Vater, vormals Lehrer und NSDAP-Mitglied, war als Invalide heimgekommen und zum Straßenkehrer degradiert worden.

Die verschiedenen Lebenswege der Brüder

Während dem begabten älteren Sohn die Flucht in den Westen gelang, wartete Günther in Kamenz vergeblich auf seine Chance und auf Hilfe des Bruders. Die Stasi behielt ihn genau im Auge, gruppierte verschiedene Spitzel in seiner Nähe. Sie sollten Günthers Leben zerstören, seine Hoffnung und seine Liebe. Bis in Jans Leben reichen die Intrigen des DDR-Regimes.
"‚Vati?‘ Jan setzte sich zu ihm auf den Boden. Die Heizung hatte Vaters Körper erwärmt. Er zog seinen Arm weg, dann sah Vater ihn an. Starrte, seine Augen tief in den Höhlen.
‚Du fällst mir nicht in den Rücken. Du nicht auch noch‘, sagt er.
Jan wusste nicht, was er sagen sollte.
‚Wenn du ein Roter wirst, kannst du gehen.‘"
Kaum ein Autor schreibt derzeit empathischer über Männlichkeit. Lukas Rietzschel lässt in seinen Generationenroman gerade so viel fiktionalisierte Künstlerbruder-Biografie einfließen, dass sie zu einem Spannungselement in seinem gekonnt konstruierten Handlungsgefüge wird. Sein Hauptanliegen verliert er dabei nie aus den Augen. Bei allen Knalleffekten um verschollene Baselitz-Bilder und verhängnisvoll-schöne Stasi-Spitzel geht es ihm um den Ort, von dem er schreibt und um dessen Brutalität, die alle seine Figuren, von Maler bis Krankenfahrer, prägt.
"Die Lausitzer Landschaft war nicht vergleichbar mit anderen. Da standen kaum Buchen oder Eichen mit hausdachbreiten Kronen. Da gab es kaum Bäche, die sich durch feuchte, schwarze Erde gruben. Die Seen und Teiche waren wie in die Erde gesprengt oder von Schaufeln ausgehoben. […] Über den Deutschbaselitzer Großteich zum Beispiel erzählten sich die Bewohner des Dorfes die Geschichte, dass der Teufel ihn gegraben hatte."
Wie könnte diese Landschaft etwas anderes hervorbringen als Versehrte? Wo Georg Baselitz die gefallenen Helden seiner Kindheit porträtiert in zerfetzten Uniformen, mit handgroßen Wunden und baumelnden Genitalien, lässt Lukas Rietschel die ganz gewöhnlichen Menschen schweben – und das ist nur auf den ersten Blick ein harmloseres Bild.
"Mutter, Vater. Für Jan waren sie Raumfahrer. Schwebten in einer Zwischenwelt, ihrem Ausgangspunkt entrissen. Während sie schwebten, hatte sich die Welt schon ein Dutzend Mal weitergedreht. Sie sahen dabei zu, streckten die Hände aus. Versuchten, vor- und zurückzukommen. Hoch, runter. Aber wo sie sich befanden, gab es keine dieser Richtungen im Raum."
Lukas Rietzschel: "Raumfahrer"
dtv, München, 288 Seiten, 22 Euro.