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Lara Williams „Odyssee“
Lust an der Selbstzerstörung

Drei Tage im Jahr hat Ingrid, Angestellte an Bord eines luxuriösen Kreuzfahrtschiffs, Landgang. Drei Tage, an denen sie den Alkoholrausch sucht. Lara Williams' „Odyssee“ ist ein verstörender Roman über Verdrängung und schwierige Heimkehr.

Von Christoph Vormweg | 30.09.2022
Lara Williams: "Die Odyssee"
Zu sehen sind die Autorin und das Buchcover
Lara Williams erzählt in "Die Odyssee" mit Gespür für Widersprüche und Ambivalenzen über Alkoholsucht. (Buchcover: Atlantik Verlag / Foto: Justine Stoddart)
„Schrecklich amüsant – aber in Zukunft ohne mich“ - der maliziöse Reisebericht von David Foster Wallace. Von seiner klarsichtigen Häme über das Treiben auf Luxus-Kreuzfahrt-Schiffen findet sich in Lara Williams Roman „Die Odyssee“ keine Spur. Auch nach fünf Jahren als uniformierter Lakai der Vergnügungsmaschinerie meint ihre Erzählerin Ingrid dort angekommen und glücklich zu sein. Sogar der Schiffskapitän lobt ihren unermüdlichen Einsatz. Freunde hat sie auch gefunden. Mit den Geschwistern Mia und Ezra verbringt sie viel Freizeit. Oft spielen sie in wechselnden Rollen „Mutter, Vater, Kind“. Das tut allen gut. Aber schon hier kommt man ins Stutzen. Denn die drei sind doch viel zu alt für solche Kindereien. Ab und zu fühlt sich Ingrid abends in ihrer winzigen Kabine unwohl.

Eine gescheiterte Ehe


„Nur manchmal empfand ich dort eine klaustrophobische Enge. In diesen Momenten hatte ich schon versucht, das Bullauge zu öffnen, einmal mit einem Filzstift und einem Gummihammer und einmal mit einer Schneckengabel, die ich im Shop hatte mitgehen lassen. Ezra musste mir helfen. Ich hatte die Stiftspitze beziehungsweise die Gabelzinken in die Ritze zwischen Fenster und Wand geschoben, und Ezra schlug mit dem Hammer zu. Der Filzstift zersplitterte in meiner Hand, die Schneckengabel verbog, und der Hammer hinterließ eine Delle im Metallrahmen, der sich natürlich nicht öffnen ließ. Aber mir gefiel der Gedanke, es hätte anders kommen können.“
Mit jeder Seite mehren sich solche Indizien, dass etwas bei Ingrid nicht stimmt. Für die eigentliche Dynamik in Lara Williams Roman „Die Odyssee“ sorgt dann der Wechsel von Arbeitsalltag an Bord und Urlaub an Land. Wer seine Kabine nicht verlieren will, darf nur drei Mal pro Jahr für 24 Stunden runter vom Schiff. Im Fall von Ingrid heißt das: 362 Tage nüchtern, 3 Tage Vollrausch. Im Suff kommt hoch, was sie verdrängt: die Bevormundung durch ihre Eltern, ihre gescheiterte Ehe, ihre - ohne Arbeitsrahmen - haltlose Sucht.

Der Kapitän als fragwürdiger Psychologe

Damit sorgt Lara Williams für Hochspannung. Sehr subtil vernetzt sie Ingrids Wahrnehmungen und den Rücksturz in die Vergangenheit: - bis der Wutstau Überhand nimmt:
„Die Kellnerin und die Ehefrau beobachteten mich mit unverhohlenem Entsetzen. Glotzt nur, dachte ich, im Kampf würde ich euch umbringen, ich würde euch alle Glieder ausreißen. Dann ging ich los. Ich setzte einen Fuß vor den anderen. Meine Schläfen pochten, mir war übel.“
„Die Odyssee“ entpuppt sich als verstörender Roman über eine an Bord des Schiffes trockene, völlig kontrollierte Alkoholikerin.
Zum unfreiwilligen Psychologen wird Keith, der Schiffskapitän. Er lässt Ingrid – in Bewerbungsgesprächen für höhere Weihen – jede erlebte Geschichte mehrfach erzählen. Und mit jeder neuen Version kommen neue Fakten hinzu. Trost spendet ihr Keith mit seinem Glauben an das „Prinzip des Wabi-Sabi“: dass „alles aus dem Nichts“ komme und alles „im Nichts verschwinde“. Dahinter verbirgt sich jedoch eine totalitäre Ideologie. Mit ihr will der Kapitän ein ausgeklügeltes System der Abhängigkeit und Unterwerfung durchsetzen, das seine Mitarbeiter zu wirtschaftlich effizienten, hörigen Sklaven abrichtet. Es ist Ingrids dritter Landgang, der alles ändert. Denn das Kreuzfahrtschiff legt in der englischen Stadt an, die sie vor fünf Jahren fluchtartig verließ.
„Ich lief ziellos umher und überlegte mir, wie viel leichter mir das alles fallen würde, könnte ich etwas trinken. Der Alkohol verschaffte mir einen Zugang zu meinen Instinkten. Er legte meine Impulse frei. Durch ihn wurde eine Straße zu einem Geschenkband und ein Tag zum Event.“
Wird das nun doch eine Heimkehr wie in Homers „Odyssee“? Wird Ingrid wie Odysseus die Geliebten ihres Ehemannes aus dem Weg räumen? In jedem Fall: Sie steuert erst einmal den nächsten Pub an und betrinkt sich. Lara Williams beschreibt Ingrids Alkoholsucht knallhart und doch sinnlich: in einer genauen Sprache mit viel Gespür für Widersprüche und Ambivalenzen – gleichsam als Mixtur aus ihrem Widerstand gegen die eigene Machtlosigkeit und der Lust an der Selbstzerstörung. Dabei operiert sie gekonnt mit wiederkehrenden, verstörenden Motiven und erzeugt so einen oft befremdlichen Erzählsog. Besonders beunruhigend sind die Bilder der Verwahrlosung, die schließlich auch den Luxus-Liner selbst erfasst.
Lara Williams: „Die Odyssee.“
Aus dem Englischen von Eva Bonné
Atlantik Verlag, Hamburg 2022. 254 Seiten, 22,90 Euro.