Montag, 13. Mai 2024

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Lutz Seiler: "schrift für blinde riesen"
Irisierende Sprach-Welten

Für seine beiden Romane "Kruso" und "Stern 111" ist Lutz Seiler mit dem Deutschen Buchpreis und dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet worden. In „schrift für blinde riesen“ kehrt der in der DDR geborene Autor zur Lyrik und seiner vom Uranbergbau zerstörten Thüringer Heimat zurück.

Von Helmut Böttiger | 20.08.2021
Der Schriftsteller Lutz Seiler und sein Gedichtband "schrift für blinde riesen"
Der in der DDR geborene Lyriker Lutz Seiler schrieb Natur-Gedichte, lange bevor der Begriff "Nature Writing" geprägt wurde. (IMAGO / gezett)
Immer wenn ein neues Buch von Lutz Seiler erscheint, kommt es zu einem verblüffenden Phänomen. Dieser Autor braucht nur wenige Motive, um eine ganze Welt zu erschaffen, und es sind jedes Mal dieselben. Aber er dreht und wendet sie so lange, bis sie neue Varianten zeigen und vieldeutig zu irisieren beginnen. Nach seinen beiden großen Romanen "Kruso" und "Stern 111" kehrt Seiler zu seinen Anfängen zurück und legt Gedichte vor – und sie kreisen wieder um die zentralen Bestandteile des Seiler-Kosmos. Da geht es um seine Kindheit im Uranabbaugebiet der DDR, um die Schule und um die Armeezeit, und dazu kommt jetzt immer stärker das Leben als Schriftsteller in der Mark Brandenburg.

Schreiben im Haus Peter Huchels

Die Gedichte sprechen dabei nicht nur von dieser spezifischen Natur und Landschaft, sondern auch vom Prozess des Schreibens in demselben Haus, in dem früher der Lyriker Peter Huchel gewohnt hat. Landschaft und Schrift verschmelzen zu neuen literarischen Chiffren.
"Hubertusweg" heißt beispielsweise ein Gedicht, das Peter Huchel an diesem Ort geschrieben hat, und "Hubertusweg" lautete auch ein Titel in Seilers erstem Lyrikband. Nun trägt ein neues Gedicht wieder dieselbe Überschrift, und es geht nicht nur darum, "noch einmal ins finstre zu lauschen", wie es an einer Stelle heißt: Es ist vor allem das Feilen und Polieren an denselben Worten, Erfahrungen und Bildern in neuen Lebenszusammenhängen. Ein ähnliches Verfahren zeigt sich am "Kieferngewölbe". Das ist eine Vorstellung, die Seiler früh anhand von Huchels Mark Brandenburg entwickelt hat und mit seinen entscheidenden Kindheitsprägungen in Verbindung bringt. Es kommt auch in dem Gedicht "in schreibschrift geschrieben" vor:
weil kiefern sind wie zum erinnern
dachtest du an HEIKO, deinen kolbenfüller
aus dem schmiergerätewerk:
aufstrich, abstrich, kleiner bogen
großer bogen, in tinte ertrunken
& immer das löschblatt gerade verschwunden …

Kiefernlicht, erst weiß, dann gold

Das lyrische Ich erinnert sich im Folgenden an erste Schreibversuche, verknüpft sie mit den Wahrnehmungen der Gegenwart und endet so:
das kiefernlicht.
erst weiß, dann gold, am ende blut
in ihren spitzen, so
dreht der tag auf rinde seine runden … du
möchtest jetzt am holzplatz bleiben (ungeplant), du denkst
an füllfederstunden
Es gibt einen charakteristischen, spröden, aber bis ins Magische gehenden Seiler-Ton, und an entscheidenden Stellen werden immer die entsprechenden "Werkzeuge" aufgerufen, die bei diesem Autor ganz konkret sind und in der Garage bereitliegen. Sie sind "glänzend & kühl" und denken die Dichtung mit dem Handwerk zusammen. Da ist manchmal fast etwas Stiftersches am Werk, und die romantische Durchdringung des Alltags mit dem Schreiben und der Literatur prägt Lutz Seilers Gedichte mehr denn je.

Das Verhängnis, sehen zu wollen

Der Titel des Gedichtbands "schrift für blinde riesen" verdankt sich einer Entdeckung aus dem Insel-Almanach des Jahres 1913. Dort findet sich die Ballade "Die Riesin" von Karl Vollmoeller, die den Untergang der Titanic beschreibt und den Luxusdampfer als eine blinde Riesin imaginiert, der es zum Verhängnis wurde, sehen zu wollen. Dadurch verbindet sich in Seilers Gedichtband das Bild vom "blinden Riesen", das an unterschiedlichsten Stellen auftaucht, untergründig mit der Titanic-Geschichte. Zunächst ruft Seiler das Urbild eines blinden Riesen auf, nämlich Polyphem in der Odyssee, der von Odysseus und seinen Getreuen geblendet wurde. Und er lässt in dem Gedicht "achaemenides", das den Kampf mit dem Riesen schildert, einen Getreuen des Odysseus sprechen und macht einen Dichter aus ihm:
die welt war schrift & ich
war ihre stimme … nun
hinterlass ich euch auch diese sage
(er war zu groß, ich war zu klein)
& jede menge klippen von gedichten
die gestrandet sind an diesen küsten

Rätselhafte Überblendungen

Das Motiv des "blinden Riesen" weist in viele Richtungen, es wird auf die Menschheit genauso bezogen wie auf den Schriftsteller und schafft ein eigenes Verweisungssystem. So kommt es zu vielen rätselhaften und reizvollen Überblendungen, in denen beispielsweise auch die Kiefern als Riesen erscheinen können und eine eigene literarische Wahrheit zusammensetzen, die sich dem flüchtigen ersten Blick entzieht. Wie Lutz Seiler die Menschheit mehr als hundert Jahre nach dem Untergang der Titanic sprechen lässt, das hat einen großen Hallraum:
wir haben
schon länger den blick
blinder riesen, das lachen ins nichts
mit erhobenem kinn, dorthin
wo die welt vermutet werden könnte …
Lutz Seiler: "schrift für blinde riesen"
Gedichte. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 112 Seiten, 24 Euro.