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Warsan Shire: "Haus Feuer Körper"
Lyrik über die Konflikte unserer Gegenwart

Die Dichtung der britisch-somalischen Künstlerin Warsan Shire erzählt vom Schicksal traumatisierter Menschen. Sie gibt Geflohenen ihre Geschichte zurück und erschafft ein Zuhause in der Sprache.

Von Marie Luise Knott | 11.01.2023
Warsan Shire: "Haus Feuer Körper"
Warsan Shires Gedichte erreichen weltweit ein Millionen-Publikum. (Buchcover: S. Fischer Verlag)
Niemand verlässt sein Zuhause, es sei denn, Zuhause ist das Maul eines Haifischs.
Niemand würde sein Zuhause verlassen, es sei denn, Zuhause jagt dich davon.
Niemand setzt seine Kinder in ein Boot, es sei denn, das Wasser ist sicherer als das Land.
Warsan Shire, die britische Dichterin, schrieb das Gedicht "Zuhause" im Jahr 2009 in Italien unter dem Eindruck vom Schicksal somalischer Flüchtlinge – die ohne Strom und ohne fließendes Wasser in der längst verfallenen ehemaligen somalischen Botschaft hausten. Ein Junge hatte sich dort in der Nacht zuvor in den Tod gestürzt.

Aufwachsen unter Geflüchteten

Shire selbst, 1988 als Tochter somalischer Flüchtlinge in Kenia geboren, war im Alter von einem Jahr mit ihren Eltern nach London gekommen und wuchs unter Geflüchteten auf. Das war noch vor dem Ausbruch des somalischen Bürgerkriegs. Schon früh begann sie zu schreiben, indem sie notierte, was sie sah und hörte, um Furcht und Schrecken zu bannen. Als Medium wählte sie eine Blogging-Plattform. Zudem hatte sie Glück, denn sie kam sehr früh mit schwarzen Dichterinnen in Kontakt. So erfuhr sie, dass es etwas anderes gibt als den weißen Kanon.
Das bestärkte sie in ihrer Absicht, schreibend jenen eine Stimme zu geben, von denen niemand sprach, Migrantinnen und Geflüchteten, deren Schicksal ungehört blieb. Nicht von ungefähr also handeln ihre Gedichte von Bulimie und Mädchenbeschneidungen, von Soldaten, die Dörfer überfallen, von Männern, die Frauen vergewaltigen, und von Frauen, die davon träumen, ihre Männer umzubringen. Man spürt: der Terror des Bürgerkriegs liegt wie ein Schatten über allen somalischen Familien, auch im Exil verheert er viele Beziehungen, selbst die zwischen Müttern und Töchtern.

Eine Hymne auf die menschliche Widerständigkeit

Shire war sieben Jahre alt, als ihre Eltern sich trennten. Damals begann eine Odyssee; mal wohnte sie mit der Mutter bei Verwandten, mal in Unterkünften für Obdachlose. Die Menschen, denen sie begegnete, waren von Flucht und Gewalterfahrungen gezeichnet, viele hatten, was Psychologen als eine posttraumatische Belastungsstörung bezeichnen.
So erschreckend die Geschichten mitunter sind, Warsan Shires Dichtung ist eine Hymne auf die menschliche Widerständigkeit. "Poesie erweitert das Dokument", schrieb einst Muriel Rukeyser, die Pionierin der document poetry. Und um solche Erweiterung geht es auch in "Haus Feuer Körper". Shires Gedichte sind unerhört. Eindringlich. Voller rhetorischem Überschuß.
Hier geht es nicht um Einzelgeschichten oder einzelne Erlebnisse, sondern um Erfahrungswelten zwischen Generationen. Sie gibt den Geflohenen ihre Geschichte zurück und damit ein Zuhause in der Sprache. Immer mischen sich die "Stimmen" und Bilder anderer in ihre Texte hinein – Songs, Gedichtzeilen oder Filmszenen, die sie beeindruckt haben.

Verzweiflung und Schonungslosigkeit

Der Ton ist meist rau und verzweifelt, und gerade dadurch, dass die Dichterin kein Blatt vor den Mund nimmt, entsteht Gemeinschaft: keine Gemeinschaft der Überzeugungen, sondern eine Gemeinschaft von Erlebtem und Widerfahrenem – und von Erinnerungen, die auch ihre Kinder später hören sollen, wie sie sagt.
Wir üben Rückenschwimmen im nahe gelegenen Schwimmbad,
als ich an Kadija denke, wir ihr Körper sich angefühlt haben muss,
als er aus dem vierundzwanzigsten Stock stürzte.

Mit lyrischen Texten zum Welterfolg

Im angelsächsischen Raum ist Warsan Shire längst eine Berühmtheit. Angefangen hat alles damit, dass ihr Blog auf Interesse stieß; bald kamen kleine Publikationen und Preise hinzu. Auf Deutsch las man vor zwei Jahren erste Texte von ihr in der Anthologie "Kontinentaldrift. Das schwarze Europa", die  im Wunderhorn Verlag erschien. Nun ist in England und Deutschland – fast gleichzeitig – ihr erster großer und großartiger Gedichtband erschienen.
Warsan Shire denkt in starken körperlichen Bildern. Klang, Rhythmus und andere poetische Mittel verstärken die sinnliche Kraft ihrer Sprache. Direktheit mischt sich mit Pathos: Viele der Titel sind Anrufungen: "Segne den Mond", "Segne die Bulimie", "Gesegnet sei deine hässliche Tochter" oder "Gesegnet sei diese Schule für Mädchen". Wie eine Schutzformel endet das Buch mit dem Satz "Ehre sei dem / der Allerhöchsten".
Wiederholungen und Alliterationen geben den Wörtern zusätzlich Kraft und Gestalt. So etwa die Variation auf den Buchstaben "be" in dem bereits genannten Gedicht "Zuhause".
My beauty is not beauty here. My body is burning with the shame of not belonging,
my body is longing.
"Beauty ... body ... burning ... belonging – longing." Durch die Wiederholung und Auslassung des Buchstabens "be" bleibt im Englischen von der ersehnten Zugehörigkeit (belonging) nur das Sehnen (longing) übrig. Im Deutschen lautet die Stelle rhythmisch eher schmucklos:
Meine Schönheit ist hier keine Schönheit. Mein Körper brennt vor Scham, nicht dazuzugehören, mein Körper sehnt sich.

Der Klang geht in der Übersetzung verloren

Die Übersetzung transportiert den Inhalt, dabei liegt gerade in der poetischen Verwandlungskraft die befreiende Dimension von Shires Dichtung: Im Englischen brennen ihre Verse nach Leben, doch der deutschen Übersetzung fehlt oft die klangliche Kraft des Originals – dabei hält unsere Sprache ein so reichhaltiges Werkzeug dafür bereit. Umso hilfreicher, dass der Band zweisprachig ist.
Warsan Shire: "Haus Körper Feuer.
Bless the Daughter Raised by a Voice in Her Head"
Zweisprachige Ausgabe.
Übersetzt von Muna AnNisa Aikins, Mirjam Nuenning und Hans Jürgen Balmes.
Mit einem Nachwort von Sharon Dodua Otoo.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main.
160 Euro, 24 Euro.