Sarah Zerback: Vor der Sendung habe ich mit Heinz Dieterich sprechen können. Er ist Soziologe und Professor an der UAM in Mexiko-Stadt, und war unter anderem Berater des früheren venezolanischen Präsidenten Hugo Chavez. Ihn habe ich zunächst gefragt, ob Venezuela nach diesem Wochenende nur noch einen statt zwei Präsidenten hat.
Heinz Dieterich: Die Szenerie ist nicht gerade geeignet, optimistisch zu sein. Man könnte vorschlagen, dass Bernie Sanders Vorschlag, Neuwahlen zu machen, um die Bevölkerung entscheiden zu lassen, wer der neue Präsident ist, dass das sich durchsetzt mit Hilfe Italiens, vielleicht der Europäischen Union und so weiter. Aber es sieht eigentlich nicht so aus.
Die zweite Möglichkeit ist, dass es da zu einer Situation kommt wie beim Fall der Berliner Mauer, dass also die bewaffneten Kräfte, Polizei, Armee und so weiter, nicht militärisch eingreift und dann einfach die Grenze geöffnet wird. Das wäre natürlich das politische Ende vom gegenwärtigen Präsidenten Maduro.
Und das Dritte wäre, dass es so etwas wie im Golf-von-Tonkin-Zwischenfall 1964 in Vietnam wird, also eine Auseinandersetzung, wo doch Blut vergossen wird, was dann für die USA ein Anlass wäre, eine militärische Bedrohung weiter voranzutreiben.
Militärs wollen nicht die Menschenrechte verletzen
Zerback: Was glauben Sie denn, wie stehen denn die Chancen? Wird es Guaidó da gelingen, die Befehlskette zu durchbrechen und die Grenzen zu kontrollieren?
Dieterich: Das ist sehr schwierig vorherzusagen. Ich habe das Privileg, viele hohe Militärs zu kennen in Lateinamerika, vom Rang des Obersten bis zum General im Wesentlichen. Und meine Hypothese ist, dass die Militärs in Venezuela für Maduro nicht schießen werden. Aber es gibt eine Bedingung dabei, die sie selbst formuliert haben. Sie sind nicht bereit, die Menschenrechte zu verletzen, hat der Oberkommandierende gesagt. Aber falls die USA eine Intervention plant oder durchführt, dann würden sie kämpfen, und das wäre ein offener Krieg. Das, denke ich, ist die Frage, die man im Moment reflektieren muss. Wenn die USA keine militärischen Provokationen machen morgen – denn die haben ja inzwischen militärische Streitkräfte an der Grenze mit Kolumbien und so weiter, es gibt sieben Militärbasen. Also falls die keine militärischen Provokationen machen, dann, denke ich, kann man das alles unter Kontrolle halten, und die venezolanische Armee wird nicht schießen. Das ist meine Voraussage.
Zerback: Brasilien hat sich ja inzwischen dagegen ausgesprochen. Maduro glaubt, Sie sagen es, dass eben diese Hilfslieferungen nur ein Vorwand für militärische Interventionen ist. Das halten Sie für berechtigt?
Dieterich: Ich denke, dass das angesichts der Erklärung, der öffentlichen Erklärung des White-House-Teams völlig gerechtfertigt ist. Gerade hat der Außenminister Mike Pompeo im NBC-Interview gesagt, wir haben viele Interessen in Lateinamerika, und eines unserer Interessen ist, dass das unsere Region ist. Wir werden nicht zulassen, dass da ein neues "kubanisches Regime" aufgebaut wird – also wörtlich. Ich denke, in der Auseinandersetzung mit China und der Europäischen Union und Russland um die zukünftige Weltregierung, um das neue Weltsystem, haben die USA entschieden, dass Lateinamerika von ihnen kontrolliert werden muss. Sie brauchen die 650-Millionen-Bevölkerung, um mit China konkurrenzfähig zu sein, die natürlichen Ressourcen und so weiter. Da sie relativ weit dabei sind, die Konkurrenz mit China ökonomisch und wissenschaftlich zu verlieren, und mit Russland auf dem Gebiet der strategischen Waffen, sodass sie meiner Ansicht nach zu der Überzeugung gekommen sind, solange Lateinamerika nicht von ihnen kontrolliert wird, können sie diesen Wettkampf mit den anderen drei großen Mächten nicht gewinnen. Ich denke, das ist der geopolitische Hintergrund dieses riskanten Spiels mit dem Krieg und mit dem Regime Change, der dort durchgeführt wird in Venezuela.
"Wahlen wären die einzige Möglichkeit eines gesunden Neuanfangs"
Zerback: Auf dem Rücken der Bevölkerung sicherlich auch, also die humanitäre Hilfe jetzt auch als Spielball ja in diesem Machtkampf, so verstehe ich Sie. Wenn ich Ihnen so zuhöre, dann klingt das aber auch nicht, als würden Maduros Verbündete dann einfach so akzeptieren, dass er gehen muss vielleicht nach diesem Wochenende, also Russland und China?
Dieterich: Es ist offensichtlich, dass China und Russland nicht bereit sind, die USA brutal und einseitig ihre Interessen durchzusetzen. Es gab bereits ein Angebot, was öffentlich nicht bekannt ist, das von einer US-Organisation, einer Organisation von George Soros, an China gemacht wurde. Und das Angebot war, wenn ihr Guaidó anerkennt als legitimen Präsidenten, dann garantieren wir, dass eure Ölinteressen und -investitionen, etwa 62 Milliarden Dollar, in der Zukunft nicht angetastet werden. Peking hat das abgelehnt. Sodass ich denke, dass China und Russland in diesem Fall darauf insistieren werden, dass die Prinzipien des Völkerrechts und der UNO durchgesetzt werden. Und die einzige Möglichkeit, das alles zu einem gesunden Neuanfang zu rekonstruieren, ist, dass man Wahlen unter Kontrolle der UNO – der Vatikan könnte auch dabei sein – öffentliche, transparente Wahlen durchführen lässt, sodass die Bevölkerung wirklich entscheiden kann, wen sie haben möchte in der Nationalversammlung als Präsidenten. Das ist die einzige akzeptable Übereinstimmung mit dem Völkerrecht und der öffentlichen Moral und vom Weltsystem akzeptierbare Lösung.
"Qualitative Abweichung von der bisherigen Position von Maduro"
Zerback: Sie haben gerade von Angeboten gesprochen. Auch aus dem Weißen Haus gab es ja ein Angebot, ein Amnestieangebot an die Militärs für die Zeit nach Maduro. Ist da jetzt nicht die alles entscheidende Frage, wie lange werden die Generäle, wird das Militär Maduro noch unterstützen?
Dieterich: Ja, in der Tat. Der innenpolitische Schlüssel zur Lösung dieses Problems sind natürlich die Militärs, weil sie in Venezuela im Grunde nur zwei organisierte Verhandlungspole haben. Das eine ist natürlich die US-Botschaft, und das andere sind die Streitkräfte. Und die Streitkräfte sind die einzige Stütze, die Maduro wirklich noch hat. Denn er hat möglicherweise nicht mehr als 17, 18 Prozent der Unterstützung der Bevölkerung. Er hat keine ökonomische Basis mehr und so weiter. Also, die Militärs sind die einzige Machtbasis. Und ich denke, dass die Militärs ihn bereits gezwungen haben, einen Schritt zurückzugehen. Seine Position war bisher, dass keine Neuwahlen notwendig sind, da ja ein gewählter Präsident, er, legitim und legal die Regierungsgeschäfte führt. Das ging über lange Zeit gut, bis die Militärs wohl zu ihm gesagt haben, wir sind nicht bereit, für dich zu töten oder für dich zu sterben. Du musst Wahlen zulassen. Und also hat er vor drei Tagen öffentlich zu Guaidó gesagt in einer Veranstaltung: Guaidó, wenn du so sicher bist, dass du die Bevölkerung hinter dir hast und dass du der Präsident bist, warum wagst du es dann nicht, Neuwahlen zu organisieren? Ich fordere dich heraus, Präsidentschaftswahlen zu organisieren. Das war eine qualitative Abweichung von der bisherigen Position von Maduro. Und die kann man nur erklären damit, dass die Militärs gesagt haben, wir wollen keinen Krieg, und wir wollen auch nicht, dass die Bevölkerung leidet. Du musst erklären, dass neue Wahlen der friedliche Ausweg aus dem Dilemma sind, das wir jetzt haben.
Zerback: Also Neuwahlen, und eine Militärdiktatur würden Sie damit ausschließen?
Dieterich: Die Militärs haben kein Interesse, eine Situation zu übernehmen, die ökonomisch einen neuen Marshallplan erfordert. Sie brauchen 50, 60 Milliarden Dollar, um in der Übergangsphase zur Rekonstruktion der Wirtschaft die Bevölkerung zu schützen. Die Militärs sind keine ökonomischen Fachleute. Sie sind auch in Misskredit gefallen in der Bevölkerung, dass sie Maduro so lange unterstützt haben. Also es liegt nicht in ihrem Interesse, ein Wrack zu erben, das sehr schnell untergehen könnte und sie mit in die Tiefe reißt. Aber sie könnten natürlich auf der anderen Seite ihr Image retten als Vertreter der Interessen des Vaterlandes und Vertreter der Interessen der Demokratie, indem sie sagen, okay, wir sind die Garanten einer friedlichen Neustrukturierung der Institutionen, die in einer Übergangsphase notwendig ist, um neue Wahlen durchzuführen, sodass die Essenz der Demokratie, der Wille der Mehrheit der Bevölkerung, durchgesetzt werden kann. Das ist die Position der Militärs heutzutage.
"Das Land muss praktisch neu aufbaut werden"
Zerback: Herr Dieterich, nun haben Sie ja unter anderem Hugo Chavez beraten. Was würden Sie denn einem neuen Präsidenten Venezuelas raten, um es eben besser zu machen, um das Land eben auch aus der Wirtschaftskrise, dieser massiven, wieder herauszuholen?
Dieterich: Das Erste ist natürlich, dass das Wirtschaftsmodell eine gemischte Ökonomie sein müsste, in der staatliche makroökonomische Orientierung, so wie das zum Beispiel in der Bundesrepublik der Fall ist oder in Frankreich und so weiter, kombiniert wird mit Privatinitiative. Man braucht sowohl die internen privaten Investitionen als auch die internationalen Investitionen, um schnell eine Wiederbelebung der Wirtschaft durchzuführen. Das ist alles kein Problem, weil wissenschaftlich völlig klar ist, wie solch ein Modell aussehen muss. Das Zweite ist, es muss ein von Konsens getragenes mehrheitsfähiges soziales und politisches Modell sein. Und drittens, es muss wie es jetzt in Mexiko gemacht wird von Andrés Manuel López Obrador, dem neuen Präsidenten, man muss den Staat zurückgewinnen und ihn aus einem korrupten, relativ unfähigen, nicht effektiven Führungsinstrument zurückverwandeln in ein modernes, effektives System, welches alle Sektoren der Gesellschaft zufriedenstellend organisieren kann und das Land praktisch neu aufbaut. Das, würde ich sagen, sind die entscheidenden Faktoren, die man in Rechnung stellen muss, wenn man außer Acht lässt, dass Venezuela natürlich wegen seines Ölreichtums immer ein Brennpunkt der Interessen der vier großen Machtblöcke ist, Europäische Union, China, Russland und den USA.
"Ein Karussell von Ambitionen und Konkurrenzmanövern"
Zerback: Und kann Guaidó da der richtige Mann sein, oder kann er, wenn überhaupt, nur Übergangspräsident sein?
Dieterich: Guaidó ist natürlich jemand, den man ausgesucht hat. Einerseits, weil die anderen Führer der Partei nicht disponibel waren. Aber er ist natürlich charismatisch, er ist jung. Er kann also sagen, die alte Generation von Politikern, die diese ganze Misere erzeugt hat, nicht nur auf der Seite der Maduristen, sondern auch der vereinigten Opposition der Rechten, der Sozialdemokraten, der Christdemokraten, er kann sagen, mit dieser alten Generation, die das alles mitverantwortet hat, haben wir im Grunde nichts im Sinn. Wir sind die neue Generation, die demokratisch ist, die weiß, wie man ein Land wieder aufbaut, die die Unterstützung international erreichen kann. Er hat mehrfach öffentlich gesagt, wir wollen gute und stabile Beziehungen zu China und zu Russland, natürlich auch zu den USA. Er hat jetzt einen relativ starken Vorsprung. Er hat andererseits Konkurrenz intern, denn das Gehirn dieser Operation, die natürlich von Washington aus kommt, aber innerhalb Venezuelas koordiniert ist, mit Leopoldo Lopez, praktisch dem Führer dieser Partei Voluntad Popular. Er hat natürlich jetzt einen relativen Vorsprung gegenüber Leopoldo Lopez und den anderen Kräften in der Partei, die auch gern Präsident sein möchten. Und er hat nicht die Unterstützung notwendigerweise der Acción Democrática, der alten sozialdemokratischen, politischen Klasse, und auch der christdemokratischen nicht. Das Ganze ist wirklich ein Karussell von Ambitionen und von Konkurrenzmanövern, die nicht nur die Großmächte betreffen und nicht nur den Konflikt zwischen Maduristen und Guaidó, sondern auch das gesamte interne politische Spektrum Venezuelas einbeziehen.
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