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Machtwechsel in Afghanistan
Die Taliban waren nie ganz weg

Zwanzig Jahre nach der Vertreibung von der Macht in Afghanistan beherrschen die Taliban das Land erneut. Das „Islamische Emirat Afghanistan“, das sie erneut proklamierten, war aus ihrer Sicht ohnehin nie abgeschafft. Und auch in der Bevölkerung hatten die Taliban den Rückhalt nie ganz verloren.

Von Sabina Matthay | 25.09.2021
Ein geschmückter Panzer, der von Taliban-Kämpfern bemannt ist, rollt durch Kabul.
Einmarsch der Taliban nach Kabul im September 1996 (picture alliance / ASSOCIATED PRESS | B.K. Bangash)
Mehrmals hatten die Taliban seit Mitte der 90er Jahre zur Eroberung Kabuls angesetzt, in der Nacht zum 27. September 1996 waren sie am Ziel: "Guten Abend, meine Damen und Herren. Im Bürgerkriegsland Afghanistan haben die islamisch-fundamentalistischen Taliban-Milizen die Macht übernommen…"

Als die Tagesschau den Einmarsch der islamistischen Miliz in der afghanischen Hauptstadt meldete, hatte die Regierung von Präsident Burhānuddin Rabbani, hatten die Truppen seines Verteidigungsministers sich längst aus dem Staub gemacht. Zwar leisteten die Menschen in anderen Teilen des Landes weiterhin Widerstand gegen die Taliban, doch mit der Übernahme Kabuls saß die islamistische Miliz fest im Sattel.
"Wer Kabul beherrschte, beherrschte das Land."- Conrad Schetter, der in Bonn die Denkfabrik "Internationales Zentrum für Konfliktforschung" leitet, kennt Afghanistan seit den 90er Jahren: "Das war ein Punkt, wo die Taliban letztlich der nationalen Ideologie des Landes, wie sie im 20. Jahrhundert aufgebaut wurde, letztlich immer gefolgt sind. Denn nur dann konnte man sozusagen in Afghanistan als machtvoll gelten, wenn man wirklich Kabul beherrschte."

Hoffnungsträger nach dem Bürgerkrieg

Die Bevölkerung der Hauptstadt war nach dem verheerenden Bürgerkrieg, in dem sich verschiedene ethnische und religiöse Gruppen bekämpften, neugierig auf die Miliz aus dem ländlichen Süden Afghanistans. Auch der damals 15-jährige Najib Sharifi: "Wir hatten viele Geschichten über die Taliban gehört, meist Gutes. Dass sie Frieden und Sicherheit bringen und die anderen Milizen entwaffnen. Manche Leute verglichen sie sogar mit Engeln."
Doch die neuen Machthaber traten ganz anders auf: Gleich nach dem Einmarsch ermordeten sie den einstigen kommunistischen Staatschef Mohammed Najibullah, der 1992 in der UNO-Mission in Kabul Asyl gefunden hatte und dort bis zuletzt gelebt hatte.
Conrad Schetter: "Das ist ein Punkt, der, glaube ich, mit dem sie sehr deutlich unterstrichen haben, dass sie sich um internationales Völkerrecht nicht scheren, da sie überhaupt keine Skrupel kennen. Und zum andern war das natürlich auch ein ganz, ganz klares Zeichen an die Bevölkerung in Kabul: Wir machen hier Tabula Rasa."
Flüchtende Menschen auf einem Lastwagen.
Nach dem Einmarsch der Taliban im Kabul 1996 war Afghanistan nicht befriedet, Menschen flohen vor den Konflikten im Land (picture alliance/Associated Press/B.K. BANGASH)
Der Einmarsch der Extremisten in Kabul 1996 setzte einen vorläufigen Schlusspunkt unter einen Konflikt, der Afghanistan lange beherrscht und geprägt hatte, erklärt Conrad Schetter: "Was Sie in Afghanistan seit Ende des ausgehenden 19. Jahrhunderts beobachten können, ist immer dieses Widerstreben, dass sie auf der einen Seite gerade in den urbanen Eliten Akteure haben, die eine Modernität des Landes nach vorne treiben wollten, und gleichzeitig immer wieder sehr reaktive Kräfte, die eigentlich eben das "gute alte Leben" mit all seinen konservativen Strukturen, wenn man an die Frauenfrage, an die Frage von Gerontokratie denkt, die das sozusagen immer aufrechterhalten wollten."
Dieser Konflikt zwischen progressiven und reaktionären Kräften hatte sich 1978 zum offenen Krieg entwickelt, nach dem Staatsstreich der afghanischen Kommunisten. Die Landbevölkerung – angeführt von Dorfmullahs und Ortsvorstehern, die Modernisierung und Säkularisierung verhindern wollten – revoltierte gegen die radikalen wirtschaftlichen und sozialen Reformen nach sowjetischem Vorbild.

1979: Einmarsch der Roten Armee

Ende 1979 marschierte die Rote Armee ein, um die Ausbreitung des militanten Islams zu verhindern und das kommunistische Regime in Kabul zu stützen. Afghanistan, eben noch Zwischenstopp der Hippies auf dem Weg nach Indien, wurde Schauplatz eines Stellvertreterkriegs von weltpolitischer Dimension. Denn neben der Sowjetunion griffen auch die USA ein und förderten die Mudschaheddin mit Geld und Waffen. Dieses Bündnis afghanischer Widerstandskämpfer bestand aus Paschtunen, Tadschiken, Usbeken und anderen Ethnien, manche Fraktionen waren schi’itische Muslime, die meisten Sunniten. Sie führten einen sogenannten Heiligen Krieg zur Verteidigung muslimischer Werte gegen die sowjetischen Besatzer und ihre kommunistischen Statthalter.
Taliban-Kämpfer stehen Wache an einem Checkpoint in Kabul (AP Photo/Rahmat Gul)
Taliban, IS und Co. - Die Rivalität der Islamisten in Afghanistan
Die radikal-islamistischen Taliban haben die Macht in Afghanistan übernommen. Sie sind aber nicht die einzige extremistische Gruppierung dort. Welche Ziele verfolgen welche dschihadistischen Akteure in Afghanistan? Ein Überblick.
Afghanistan wurde Ziel von Kämpfern aus aller Welt, auch den saudischen Unternehmersohn Osama bin Laden zog es dorthin. Niederschlagen konnte die technisch überlegene Rote Armee den jahrelangen Aufstand nicht. Demoralisiert und zermürbt zogen die Sowjets 1989 ab. Der Abzug sei eine Chance für die Afghanen gewesen, behauptete Andrey Avetysian später.
Avetysian hatte das Land in den achtziger Jahren als sowjetischer Diplomat kennengelernt: "Es sah damals so aus, dass der sowjetische Abzug das Chaos, das bis dahin in Afghanistan herrschte, beenden könnte. Denn der Rückzug erfolgte auf Grundlage internationaler Vereinbarungen, verabredet von allen wichtigen Beteiligten; es gab echte Hoffnung auf ein besseres, friedliches Leben in Afghanistan."
Aber dazu kam es nicht. Das kommunistische Regime von Mohammed Najibullah konnte sich nach dem sowjetischen Abzug zwar noch etwas halten, kollabierte aber endgültig nach dem Untergang der Sowjetunion. 1992 übernahmen die Mudschaheddin die Macht; Afghanistan verschwand vom Radar der internationalen Gemeinschaft.
Aber statt Pläne für eine stabile, friedliche Zukunft des Landes zu entwickeln, bekämpften die Mudschaheddin sich nun untereinander, vor allem in Kabul, erzählt Conrad Schetter: "Kabul war ein Trümmerfeld, vielleicht vergleichbar mit Dresden nach dem Zweiten Weltkrieg. Kabul ist zwischen '92 und '96 von den fünf, sechs herrschenden Mujaheddin-Parteien zerstört worden, an jeder Straßenecke wurde gekämpft. Es war ein einziges Schlachtfeld."

Fundament der Taliban waren einfache Leute

Afghanistan zerfiel in Machtsphären von Kommandanten und Kriegsfürsten, deren Gewalt und Willkür die Bevölkerung ohnmächtig ausgeliefert war. In dieser Lage traten die Taliban als Alternative zu den Mudschaheddin auf den Plan, mit dem erklärten Ziel, das Land von den Kriegsfürsten zu befreien.
Dieser Bauer in der Provinz Helmand sprach damals für viele Afghanen: "Was unterscheidet die Taliban von den Mudschaheddin? Sehr viel. Die Taliban kämpfen nicht, um sich zu bereichern. Sie kämpfen, um Afghanistan sicher zu machen und die Herrschaft der Milizen zu beenden."
Es war eine Bewegung der einfachen Leute. Ihren Kern bildeten ultrakonservative Mullahs, verwurzelt in der ländlichen Bevölkerung der Paschtunen-Gebiete, angetrieben von der Sehnsucht, zu den Anfängen des Islam zurückzukehren und eine islamische Ordnung aufzubauen. Die Mullahs kannten sich aus Koranschulen in Afghanistan und Pakistan. Viele waren aus pakistanischen Flüchtlingslagern zurückgekehrt, das dichte Netz fundamentalistischer Religionsschulen dort wurde zur Kaderschmiede für die Taliban.
In geradezu idealer Weise symbolisierte ihr Anführer Mullah Omar diese Bewegung, sagt Conrad Schetter, er war "kriegsversehrt, hatte eine Kriegsverletzung, hatte ein Bein verloren, stand damit für die Opferbereitschaft, im Krieg gekämpft zu haben. Er hatte sozusagen das Leid, das viele Afghanen ertragen hatten, am eigenen Leib erlebt".
Die Taliban propagierten aber auch eine nationale Identität im Namen des Islam, die die Afghanen ungeachtet von Clanzugehörigkeit und ethnischer Herkunft einen sollte. Dabei bestanden die Führungszirkel der Taliban fast ausschließlich aus Paschtunen – die die größte afghanische Volksgruppe bilden. Sie waren Sunniten, ihre puristische Ideologie war zudem stark vom Paschtun Wali, dem paschtunischen Rechts- und Ehrenkodex geprägt. Andere Ethnien und religiöse Strömungen fanden kaum Beachtung.

Unterstützung der Taliban aus Pakistan

Den Anstoß dazu, dass die Taliban sich ab 1994 endgültig aufmachten, das ganze Land zu erobern und ihr neues Afghanistan zu errichten, kam wohl aus dem benachbarten Pakistan. Pakistanische Offiziere bildeten die Taliban militärisch aus, der Geheimdienst ISI bewaffnete sie, religiöse Organisationen finanzierten sie.
Islamabad brauchte Afghanistan zur strategischen Absicherung gegen den Erzfeind Indien und baute die Taliban zum Instrument seiner Außenpolitik auf. "Gleichzeitig befanden die Pakistanis sich damals in einer Allianz mit Saudi- Arabien und den Amerikanern und hatten darüber auch die Mittel zur Verfügung, um eine neue Bewegung aufzubauen."
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Die Machtübernahme der militant-islamistischen Taliban setzt nicht nur die Anrainerstaaten unter Druck. China und Russland fürchten das Eindringen von Terrorismus Russland.
Mit dieser Unterstützung im Rücken, konnten die Taliban innerhalb von nur zwei Jahren weite Teile Afghanistans erobern. Der Taliban-Führer Mullah Omar hatte sich derweil zum "Amir al Mu’minin" erklärt, zum 'Anführer der Gläubigen'. Das "Islamische Emirat Afghanistan", das die Taliban 1997, ein Jahr nach der Machtübernahme proklamierten, führte er von Kandahar aus. Der Oberste Rat, der engste Führungszirkel um Mullah Omar, traf alle wichtigen Entscheidungen. Schnell stellte sich heraus, dass die Extremisten der Gewalt nicht abgeschworen hatten. Aufsehen erregte im westlichen Ausland ihr brutaler Umgang mit der Bevölkerung, insbesondere ihre Verachtung für Frauen.
Eine Lehrerin erzählte kurz nach der Machtübernahme: "Neulich ging ich zum Einkaufen. Ich trug ein Kopftuch. Da schlug mir einer mit der Kalaschnikow zwischen die Schulterblätter. Ich fragte, warum er mich geschlagen hätte. Er sagte, ich solle mein Gesicht verhüllen. Ich sagte, der Hijab sitzt richtig so, mehr kann der nicht abdecken. Da sagte er, ich solle mir eine Burka besorgen."
Die Burka, der himmelblaue bodenlange Umhang mit engmaschigem Kopfteil, wurde zum Symbol der Entrechtung der Afghaninnen. Schulbesuch und Studium verboten die Taliban ihnen ebenso wie Berufstätigkeit. Aus dem öffentlichen Leben wurden sie verdrängt.
Auch Männer mussten sich Verhaltensvorschriften fügen, berichtete Erhard Bauer, Projektleiter der Deutschen Welthungerhilfe in Kabul, 2001 im Deutschlandfunk: "Es gibt eine Religionspolizei nicht nur in der Hauptstadt, sondern die ist im gesamten Lande tätig. Die achtet auf die Einhaltung der von den Taliban aufgestellten religiösen Regeln. Dazu gehören solche Vorschriften wie die Bartlänge für Männer, die Frage, ob die Gebetszeiten eingehalten werden und noch eine ganze andere Reihe von Geboten und Verboten."
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Die Taliban beriefen sich dabei auf islamisches Recht, auf die Scharia – und versuchten, ihre Herrschaft mit der Durchsetzung dieses Rechtssystems – zumindest so wie sie es interpretierten – zu legitimieren. Parteien, gar Opposition waren in dieser Theokratie verboten, denn in einem islamischen Regime gebe es Mehrheit oder Minderheit nicht mehr, hieß es in einem Erlass. Proteste schlugen die Taliban erbarmungslos nieder. Das Emirat verlangte totale Gehorsamkeit gegenüber dem religiösen Anführer Mullah Omar.
Vor allem die Menschen in den Städten litten unter dem Regime. Conrad Schetter spricht von Umerziehungsmaßnahmen der Taliban: "In den Augen vieler Taliban war Kabul ein Bordell. Das heißt, dass hier die Vorstellung kam: unsere Werte, die wir in den ländlichen Regionen haben, die müssen wir in die Stadt transportieren, wir müssen in den urbanen Räumen drakonische Maßnahmen umsetzen."

Öffentliche Hinrichtungen in Kabul

In Kabul fanden Freitagabends bald öffentliche Exekutionen, Amputationen und Steinigungen statt. Die Landbevölkerung, die die Werte und Normen der Taliban teilte, litt dagegen kaum unter den Tugendwächtern. Und dort, wo der afghanische Staat ohnehin nie richtig durchgedrungen war, fiel offenbar auch das Versagen der Taliban an der Regierung kaum ins Gewicht. Straßen, Wasserversorgung und Elektrizitätswerke waren in den langen Kriegen zerstört und auch unter den Taliban kaum wieder aufgebaut worden; Nahrungsmittel und Unterkünfte waren knapp; ein Viertel aller Kinder starb vor dem fünften Lebensjahr. Gelindert wurde die Not durch internationale Organisationen und ausländische Hilfswerke.
Doch auch ihnen setzten die Taliban enge Grenzen. Erhard Bauer von der Deutschen Welthungerhilfe: "Man lässt uns gewähren, solange wir uns an gewisse Spielregeln halten. Wir sind mit einer ganzen Reihe von Aktivitäten auf Begrenzungen gestoßen, insbesondere was die Arbeit mit Frauen, die Beschäftigung von Frauen angeht."

Einmarsch der USA 2001

Die Taliban finanzierten sich, indem sie zollfreie Konsumgüter von Dubai nach Pakistan schmuggelten, Schutzgelder erpressten und Steuern auf Drogenanbau und -handel erhoben. Osama bin Laden, der Chef des Terrornetzwerkes Al-Kaida, der in Afghanistan Zuflucht gefunden hatte, spendete offenbar großzügig an die Kasse der Taliban. Auch Pakistan und Saudi-Arabien leisteten Finanzhilfe; sie und die Vereinigten Arabischen Emirate erkannten die Taliban-Regierung als einzige an.
International war das Emirat ansonsten isoliert. Nicht nur wegen der gravierenden Menschenrechtsverletzungen und der Zerstörung von Kulturgütern aus vorislamischer Zeit, sondern auch, weil die Taliban dem Terrornetzwerk Al-Kaida ermöglichten, Afghanistan als Trainingslager und Rückzugsraum zu nutzen und dort Angriffe zu planen. Diese Gastfreundschaft wurde den Taliban zum Verhängnis. Als die Taliban die Führung der Terrororganisation nach den Anschlägen vom 11. September 2001 nicht ausliefern wollte, vertrieb eine US-geführte Militärallianz mit Hilfe lokaler Kräfte die Islamisten von der Macht.
Ein Bundeswehrfahrzeug fährt auf einer Straße in Afghanistan an zwei Frauen vorbei, die eine trägt eine Burka, die andere ein Kopftuch. 
Konfliktforscher Schetter zum Afghanistan-Einsatz: "Man hat in dieser Intervention eigentlich versagt"
Conrad Schetter plädiert für einen echten Friedensprozess in Afghanistan. Bevölkerung und Parteien müssten an einen Tisch gebracht werden.
Es war nicht das Ende der Bewegung. Die Taliban zogen sich nach Pakistan zurück, formierten sich neu und erlangten von dort aus trotz der militärischen Überlegenheit der westlichen Truppen langsam aber stetig die Kontrolle über Afghanistan zurück. Selbst die Bevölkerung stand dabei hinter ihnen, obwohl die Taliban gezielt Anschläge gegen Zivilisten verübten. Aber die Korruption der letzten zwei Jahrzehnte, die straflose Rückkehr einstiger Warlords an die Macht und das Versagen des afghanischen Staates, seine Bürger zu schützen und mit dem Nötigsten zu versorgen, hatten das demokratische Projekt in Afghanistan bei vielen Menschen in Misskredit gebracht.
Mitte August dieses Jahres, nach dem Rückzug der westlichen Soldaten, marschierten die Taliban wieder in Kabul ein. Aber die Voraussetzungen seien jetzt anders als bei der ersten Machtübernahme, sagt die Afghanistan-Spezialistin Almut Wieland-Karimi vom "Zentrum für Internationale Friedenseinsätze" in Berlin: "Jetzt übernehmen sie die Macht nach 20 Jahren einer doch relativ demokratischen, liberalen Periode mit vielen Errungenschaften in Afghanistan. Errungenschaften natürlich aus einer westlichen Perspektive: Partizipation von Frauen, Schulbesuch, Verbesserung des Gesundheitssystems."

Taliban sind ihrer Ideologie treu geblieben

Schnell zeichnete sich allerdings ab, dass die Taliban diese Errungenschaften nicht respektieren. UNO-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet beispielsweise berichtete einen Monat nach der erneuten Machtergreifung, die Taliban fahndeten systematisch nach Mitarbeitern der Vorgängerregierung, ehemalige Mitglieder der afghanischen Sicherheitskräfte würden reihenweise ermordet. Ihrer Ideologie, dem Gemisch aus sunnitischem Fundamentalismus und paschtunischen Ehrvorstellungen, sind die Taliban treu geblieben. Eine Demokratie werde auch das neue Emirat nicht, sagte ein Sprecher vor kurzem.
Wie sicher die Taliban jetzt im Sattel sitzen, ist allerdings fraglich. Den Widerstand im Pandschir-Tal, wo bis zuletzt einige Taliban-Gegner aktiv waren, haben sie vorerst niedergeschlagen, möglicherweise mit Hilfe Pakistans, ohne das die Islamisten auch diesmal nicht an die Macht gekommen wären. Doch der regionale Ableger der Terrormiliz IS macht ihren Herrschaftsanspruch streitig. Und auch im Innern der Bewegung soll es Machtkämpfe geben.
Konfliktforscher Conrad Schetter: "Natürlich finden Sie innerhalb der Taliban verschiedene Flügel. Von denjenigen, die sich heutzutage nur um die Drogenökonomie kümmern, bis zu denjenigen, die radikale Vorstellungen haben, bis zu denen, die sagen: auch Frauen brauchen eine Bildung. Sie finden all diese Gruppierungen unter den Taliban. Gegenwärtig ist immer die Frage, inwieweit zerbrechen die Taliban daran, wenn sie etwa in Regierungsverantwortung gehen, dass sich ein radikalerer Flügel abspaltet, sich eher dem islamischen Staat annnähert. Ich habe gelernt, dass man die Taliban da ernst nehmen muss, dass es ihnen immer wieder gelingt, geeint aufzutreten. Ob sie geeint sind, ist eine andere Frage."
Es sieht auch so aus, dass das Emirat international nicht so isoliert wird wie in den 1990er Jahren. Russland, China und Iran haben ihren Willen zu guten Beziehungen bereits bekundet. Westliche Demokratien stehen dagegen vor einer schwierigen Frage: Wie sollen sie mit den Taliban umgehen, ohne die Werte zu verraten, für die sie gerade noch gekämpft haben? Und viele Länder in der Welt, auch die UNO, stufen die Islamisten weiterhin als Terroristen ein.
Dass sie eine afghanische Regierung aus Hardlinern gebildet haben, in der keine Frauen vertreten sind, lässt keine Hoffnung auf Annäherung aufkommen – trotz erster Meldungen, dass etwa Schulen für Mädchen und Frauen wieder geöffnet werden sollen. Fest steht: 25 Jahre nachdem die Taliban das erste Mal die Macht übernommen haben, hat der militante Islamismus ganz offiziell wieder eine Heimat in Afghanistan.