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Schach
Der eskalierte Streit zwischen Magnus Carlsen und Hans Niemann

Für viele ist es der größte Schachskandal aller Zeiten: Weltmeister Magnus Carlsen bezichtigt den US-Amerikaner Hans Niemann des Betrugs. Eine Studie von chess.com scheint Carlsen recht zu geben. Trotzdem sind noch immer viele Fragen offen.

Von Niklas Schenk | 16.10.2022
US-Amerikaner Hans Niemann
Hat er betrogen? Der US-Amerikaner Hans Niemann muss sich einiges an Vorwürfen gefallen lassen. (dpa / picture alliance / Bill Greenblatt)
Während die Schachwelt noch immer darüber rätselt, ob und wie Hans Niemann betrogen hat, tritt Niemann selbst in dieser Woche bei den US-Meisterschaften an. Nach seinem Sieg in der ersten Runde gab der US-Amerikaner ein kurzes, aber deutliches Statement ab:
"Das Spiel ist eine Botschaft. Ich habe gesagt, dass Schach für sich selbst spricht. Diese Partie hat den Schachspieler gezeigt, der ich bin und dass ich nicht nachgebe. Das ist alles, was ich über diese Partie zu sagen habe."

Der Bericht von chess.com legt sich klar fest

Sein Sieg in der ersten Partie: Für den selbstbewussten und umstrittenen Amerikaner ein klares Signal, dass er nicht betrogen hat und betrügt. Schließlich wurde er vor der Partie penibel untersucht und durchleuchtet und stand während der Partie unter maximaler Beobachtung.
Die US-Meisterschaften laufen seit einer Woche. Niemann hat mehrere Partien verloren und so rätseln alle weiter: Spricht das nun für oder gegen die Betrugsvorwürfe?
Die bekannteste Schachhomepage der Welt, chess.com, hat sich in einem Bericht klar festgelegt. Auf 72 Seiten wird Niemann vorgeworfen, dass er bis zum Jahr 2020 in über 100 Online-Partien auf der Seite betrogen haben soll.
"Die arbeiten mit sehr vielen Daten, da sind sehr viele Personen involviert. Dass Niemann auf chess.com betrogen hat, steht für mich zweifelsfrei fest und zwar genau in dem Maße, wie es im Bericht erwähnt wird", sagt Georgios Souleidis aka "The Big Greek", der als Schach-Youtuber über 100.000 Abonnenten hat.

Niemanns steiler Aufstieg werfen Fragen auf

Chess.com wirft Niemann vor, auch in Turnieren mit Preisgeld betrogen zu haben. Sein steiler Aufstieg in den vergangenen zwei Jahren sei einzigartig und seine Leistungsexplosion sei für sein Alter ausgesprochen spät gekommen.
Der Sieg gegen Carlsen Anfang September, der den ganzen Skandal auslöste, war aber keine Onlinepartie. Sondern ein sogenanntes OTB, also Over the Board-Spiel. Carlsen und Niemann saßen sich in einem Raum Gesicht zu Gesicht gegenüber. Dazu heißt es in dem Bericht von chess.com:
„Es fehlt unserer Ansicht nach an konkreten statistischen Beweisen, dass Hans Niemann in seiner Partie mit Magnus oder in anderen Over the Board-Partien betrogen hat.“
Niemann hatte Carlsen in der Partie Anfang September beim Sinquefield Cup mit den schwarzen Figuren überspielt. Carlsen selbst schrieb in einem Statement, dass Niemann bei der Partie für ihn unkonzentriert gewirkt habe und nur eine Handvoll Spieler ihn mit den schwarzen Figuren so schlagen könnten. Das Spiel hätte ihn deshalb in seinem Glauben bestärkt, dass Hans Niemann häufiger betrogen hätte als zugegeben. Öffentlich bekannt hat sich Niemann nur zu zwei Betrugsvorfällen bei Onlinespielen als Jugendlicher.

Hinweise über Analkugeln?

Offen bleibt, wie ein Spieler in einer klassischen OTB-Partie am Brett betrügen soll. Im Netz kursierten sogar Gerüchte, Niemann habe mithilfe von Analkugeln Hinweise bekommen. Schach-Streamer Georgios Souleidis nimmt diese Gerüchte nicht ernst.
"In diesem Zusammenhang wird viel spekuliert über Minigeräte, die nicht erkannt werden. Ein Komplize übermittelt irgendwie die Züge, aber ich bezweifle, dass sowas unerkannt durchführbar ist."
Für Souleidis steht fest: "Ob Niemann beim Präsenzschach betrogen hat, kann man seriös nicht beurteilen."
Trotzdem wird fleißig diskutiert und vermutet. Selten hatte Schach so viel Aufmerksamkeit wie zuletzt. Schach-Insider verweisen auf zwei Partien, die Carlsen und Niemann im August, also kurz vor der ominösen Partie beim Sinquefield Cup, an einem Strand spielten. Dort schlug Carlsen Niemann nach wenigen Zügen zweimal vernichtend. Wenn Niemann dort, ohne Cheating, an einem Strand, so unterlegen gewesen sei, hätte er Carlsen kurz danach nicht schlagen können, ist die Lesart.
Ende September gab Carlsen eine Partie gegen Niemann nach nur einem Zug auf. In einem Interview kurz danach auf der Schach-Seite "Chess24" sagte er mehrdeutig: "Ich kann nicht im Detail darüber sprechen. Aber die Leute können ihre eigenen Rückschlüsse ziehen und haben das schon getan."

Viele andere Großmeister unterstützen Carlsen

Viele andere Großmeister unterstützen Weltmeister Carlsen inzwischen und zweifeln an Niemanns Unschuld. Wichtig ist aber auch: Chess.com, also die Seite, die Niemann in ihrem Bericht vielfachen Online-Betrug vorwirft, steht gerade in Verhandlungen mit Carlsens Play Magnus-Firmengruppe, um diese zu übernehmen. Wie unabhängig die Seite da noch ist, zweifeln manche an, auch wenn beide Seiten behaupten, sich bei ihren Untersuchungen gegen Niemann nicht abgesprochen zu haben.
Eine Kommission vom Weltschachverband FIDE soll die Vorfälle nun in den kommenden Wochen aufklären. Mit Klaus Deventer kommt eines der drei Mitglieder der Kommission vom Deutschen Schachbund. Deren Sportdirektor Kevin Högy erklärt, warum Betrug im Schach so ein großes Problem ist.
"Das ist ein noch größeres Problem als in anderen Sportarten, etwa Epo im Radsport. Da hole ich mit Doping die letzten drei, vier Prozent raus. Aber im Schach kann jemand, der gar keine Ahnung hat, mit Hilfe der besten Computerzüge problemlos den Weltmeister schlagen."

Der Schachsport profitiert von dem Skandal

Deshalb steht für Schach-Streamer Georgios Souleidis aka „The Big Greek“ auch fest: Der Skandal um Magnus Carlsen und Hans Niemann schadet dem Schachsport trotz aller negativen Schlagzeilen nicht:
"Im Gegenteil. Die Aufmerksamkeit wird auf ein dringendes Problem gelenkt. So müssen der Schachverband FIDE und die Turnierorganisatoren deutlich mehr gegen Betrug unternehmen, so wird das saubere Spiel gefördert. In diesem Zusammenhang hatte Carlsens Verhalten einen positiven Effekt."