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Mahir Guven: "Zwei Brüder"
Aus dem Inneren einer zerrissenen Familie

Der eine zieht in den heiligen Krieg, der andere spitzelt für die Terrorabwehr: Der erfolgreiche Debütroman von Mahir Guven erzählt von zwei unterschiedlichen Brüdern in Paris und von den Verwerfungen innerhalb vieler Einwanderer-Familien. Dabei nimmt der Autor wortwörtlich kein Blatt vor den Mund.

Von Dirk Fuhrig | 08.04.2019
Der Schriftsteller Mahir Guven und sein Debutroman "Zwei Brüder"
Für sein Debüt wurde Mahir Guven mit dem renommierten Prix Goncourt du premier roman ausgezeichnet (Buchcover Aufbau Verlag / Autorenportrait (c) Julien Hekimian)
Zwei Brüder, der Vater Syrer, die Mutter Französin. Beide wachsen in Frankreich auf und gehen ganz und gar unterschiedliche Wege. Der jüngere Bruder schließt sich dem so genannten "Islamischen Staat" an. Der ältere Bruder ist der scheinbar Vernünftige. Er tritt in die Fußstapfen des Vaters, des "Daron", des "alten Herrn", der sich als Taxifahrer in der Banlieue von Paris durchschlägt.
"Dass der kleine Bruder weggegangen ist, das hat den Daron fertiggemacht. (…) Sein ganzes Leben lang hat er geschwitzt, damit wir auf die gerade Bahn geraten. Jeden Morgen schleppt er seinen Arsch ins Taxi, hoch nach Guantánamo oder runter in die Mine. Im Jargon der Taxifahrer heißt das, hoch nach Roissy oder runter nach Paris."
Also einmal Flughafen Charles de Gaulle und zurück. Der Autor Mahir Guven siedelt die Geschichte der zwei Brüder in einer der nordöstlichen Vorstädte von Paris an. Dort, wo die sozialen Probleme am drängendsten sind und der Migrantenanteil am höchsten.
"Hier in Frankreich waren wir ein Scheißdreck. Weniger als nichts in einer Gesellschaft, die Gleichheit, Toleranz und Respekt lehrt. Im Alltag gab es aber tote Kinder, vergewaltigte Frauen und eine Erde im Bombenhagel. (…) Das alles riss mich in Stücke. (…) In der Schule sind sie uns auf den Geist gegangen mit Freiheit, Gleichheit, Menschenrechten, UNO, Völkermorden, Ruanda, Schoah. (…) Das waren nur dumme Sprüche, um an der Spitze der Pyramide zu bleiben. Erst predigen sie den anderen eine Moral, und dann benutzen sie sie, wie es ihnen passt."
Eine sehr subjektive Sicht
Der jüngere Bruder hält die - aus seiner Sicht - Doppelmoral der Europäer nicht aus. Er gibt seine Arbeit als Krankenpfleger auf und verschwindet heimlich aus Frankreich. Keiner spricht es aus, doch insgeheim wissen alle: Er ist in den Krieg nach Syrien gegangen. Was er da ganz genau tut, bleibt etwas unbestimmt. Das liegt auch an der Form: Guven lässt abwechselnd den einen, dann den anderen Bruder in jeweils monologartigen Passagen zu Wort kommen. Das ergibt eine sehr subjektive Sicht, die die Kraft und Originalität dieses Romans ausmacht.
"Da kam ein Bus aus Köln. Ein Dutzend Typen stiegen aus."
Als der jüngere Bruder heimlich wieder nach Frankreich einreist, beginnen die Komplikationen:
"Etwa wie unsere Banlieue-Kids, aber umgestylt auf Taliban. Jogginghosen unterm Qamis. Air Max an den Füßen. Islamolümmel mit einem Mützchen auf dem Kopf, das wie eine Vorhaut aussieht. Bisschen wie Femen, die ihre Brüste an der freien Luft spazieren tragen. (…) Ein Letzter aus dem Rudel stieg aus dem Bus, Ein Gespenst. (…) Kapuzenpullover. Schlichte Jeans. Die Haare geschnitten wie ich. So groß wie ich. Gleiche Hautfarbe. Alles an ihm kannte ich."
Der ältere erkennt den jüngeren Bruder, als der an einem Busbahnhof im Großraum Paris ankommt, und stellt ihn zur Rede:
",Du warst doch in Syrien! Ich wusste es. Aber was hast Du wirklich gemacht in den drei Jahren? Warum hast Du gelogen?'
,Ich war Arzt.'
,Was fürn Arzt, du Schwuchtel. Was heißt das, du warst Arzt?'
,Hab ich da unten gelernt, ging nicht anders, war der mit der besten Ausbildung. Für mich ist das vorbei, das alles. Ich will wieder auf die richtige Spur, wieder auf festen Boden.'
,Wovon redest du? Was meinst du mit "Das alles"?'
,Der Islam und alles.'
,Bist du noch ganz sauber da oben? Du bist am Arsch, mein Freund. Das hat nichts zu tun mit dem Islam? Du warst in al-Scham. Für dich ist es aus. Du weißt, dass es hier Charlie gab und Bataclan. (…) Sag was du willst, aber wenn ich schon dein Foto mit dem Kämpfern im Internet gesehen habe und das alles, mein Freund, denkst du, die Bullen wissen das nicht?'"
Der Atheist, der Spitzel und der Islamist
Mahir Guven erzählt aus dem Inneren einer syrisch-französischen Familie, die völlig zerrissen ist. Da sind der atheistische, politisch links denkende Vater, den die Hinwendung seines jüngeren Sohns zur Religion und zur Gewalt fast um den Verstand bringt. Da ist der ältere Sohn, der versucht, das Leben zusammenzuhalten und den Überblick zu bewahren. Er kooperiert sogar mit der Polizei, um Hinweise auf islamistische Umtriebe zu geben, ist also eine Art Spitzel.
Der Roman zeigt aber vor allem auf, wie ein junger Mensch aus Verzweiflung über die Ungerechtigkeit der Welt zu einem Radikalen wird. In den Moscheen der unwirtlichen Vorstädte fällt es den islamistischen Predigern leicht, neue Anhänger zu rekrutieren. Denn der "kleine Bruder" ist eben kein blinder Mitläufer, sondern sehr intelligent und nachdenklich:
"Weißt Du, Brudi, im Grunde bin ich wie du. Ich habe zwei Ich. Ein Ich hat im Krankenhaus geklotzt, ganz ernst, keinen Mucks, aber immer wieder mit den gleichen Gedanken. Und das andere wollte die Erde retten. Weil die Welt mich zu Hilfe rief. Nachts hörte ich die Schreie der palästinensischen, malischen, sudanesischen, somalischen und syrischen Kinder und die Schreie aller anderen. Es hagelte Bomben auf Unschuldige, und ich, ohnmächtig, wurde verrückt."
Dass der "kleine Bruder" wieder nach Frankreich einreist, verheißt im Übrigen nichts Gutes. Die Läuterung des Jüngeren ist tatsächlich nur vorgetäuscht, denn er verübt - zumindest legt der Roman es nahe - ein Attentat mit einem PKW in Paris.
"Seit den Attentaten bei Charlie ist es vorbei, die Behörden haben keinen Zweifel mehr, niemand kehrt zufällig aus Syrien zurück."
Prekäre Situation vieler "Menschen mit Migrationshintergrund"
Mahir Guven hat sich seine Ausbildung mit vielen kleinen Jobs selbst ermöglicht. Der Schriftsteller kennt die prekäre Situation der Menschen "mit Migrationshintergrund" also aus seiner eigenen Biografie. Und so schildert Guven neben der religiösen Radikalisierung auch die ökonomischen Verwerfungen in der Banlieue im Zeichen "neoliberaler" Entwicklungen - wie die zunehmende Dominanz des Fahrdiensts "Uber", der die Existenzgrundlage vieler Taxifahrer bedroht.
"Ehrlich, wenn ich die von Uber wäre, ich hätte meine Fresse gehalten. Statt mich so aufzuspielen nach dem Motto: ,Ihr Taxifahrer seid alle Honks.' Sie wollen so schlau sein an ihren Schreibtischen, einen auf Silicon Valley machen mit ihrem pseudoabgewetzten Look, den kleinen abgenutzten, aber nagelneuen Jeans, T-Shirts mit so Hokus, was keiner kennt. Bärtchen wie Holzfäller, aber ohne Muskeln."
Der Roman ist stellenweise in einem Jargon geschrieben, wie er in den nordöstlichen Pariser Vorstädten gesprochen wird. Durchtränkt von vielen "coolen" Wörtern, die auch für französische Muttersprachler schwer zu verstehen sein dürften. Umso mehr ist die Leistung des Übersetzers André Hansen hervorzuheben. Man mag über einzelne Wörter streiten: etwa das häufig auftauchende "Brudi" als Übersetzung für "frérot", wo "Bruderherz" sicherlich angemessener gewesen wäre. Oder das im Deutschen seltsam klingende "Daron", wo "alter Herr" passend gewesen wäre. Aber insgesamt hat Hansen den - oft auch witzigen, komischen - Sound ziemlich passgenau ins Deutsche übersetzt.
"Was lügst du? Ey? (…) Ich hab dich gesehen, Deine Visage, deine Aufmachung, deine Fresse, Alter. (…) Hör jetzt auf mit deinen Lügen, du Scheißhurensohn. (…) Hör auf zu lügen, sonst mach ich dich alle, ich schmeiß dich aus dem Fenster und fahr dich zu Brei. Verstanden?"
Ein wichtiger literarischer Text
Die Mischung aus Monologen, Dialogen und Tagebuch-artigen, reflektierenden Passagen ist äußerst geschickt montiert. "Zwei Brüder" hat im vergangenen Herbst den Prix Goncourt für einen ersten Roman bekommen. Sehr zu Recht, denn das Buch führt den Leser nicht nur sehr einfühlsam und präzise in die Lebenswelt der Migranten in Frankreich. Es tastet sich auch an das Innenleben eines Dschihadisten an und spiegelt die Ratlosigkeit der Familie. Erzählt in dieser frischen, respektlosen Sprache - ein wichtiger literarischer Text, nach dessen Lektüre man ein bisschen besser versteht, warum ein junger Mann sich islamistischen Terroristen anschließt.
Mahir Guven: "Zwei Brüder"
Aus dem Französischen von André Hansen
Aufbau-Verlag, Berlin. 282 Seiten, 20 Euro