Donnerstag, 25. April 2024

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Mainzer Bischof Kohlgraf zum Missbrauchsskandal
"Das geht durch die ganze Kirche"

Im Interview der Woche hat der Mainzer Bischof Peter Kohlgraf die katholische Kirche mit Blick auf den Missbrauchsskandal kritisiert. Es gebe in der katholischen Kirche "systemische Probleme" sowie eine "heillose Überforderung". Die Aufarbeitung dauere zu lang.

Peter Kohlgraf im Gespräch mit Andreas Main | 04.04.2021
Peter Kohlgraf, Bischof von Mainz, steht vor dem Mainzer Dom.
Peter Kohlgraf, Bischof von Mainz (dpa / picture alliance / Andreas Arnold)
Die Auswirkungen der harten Lockdown-Maßnahmen auf die Seele der Menschen werden unterschätzt. Davon ist der Mainzer katholische Bischof Peter Kohlgraf überzeugt. Die seelischen Verletzungen von Kindern und Jugendlichen oder von Menschen, deren Existenz wegbricht, seien "mindestens genauso wichtig wie die Frage nach Inzidenzwerten", sagte Kohlgraf im Interview der Woche im Deutschlandfunk.
Kohlgraf kritisierte Menschenbilder und Positionen, die auf mechanistische Weise Viren ausrotten oder den Tod besiegen wollen: "Das sind unrealistische und am Ende unmenschliche Vorstellungen. Mir vorzustellen, dass Techniker bestimmen, dass ich virtuell eine Ewigkeit lang lebe - das ist für mich eine Horrorvorstellung."

"Keine Medizin wird das Leid aus der Welt zaubern"

Es sei "menschenfeindlich", wenn "ich als eine biologisch funktionierende Maschine angesehen werde, bei der einfach Ersatzteile ausgetauscht werden können wie bei einem kaputten Auto." Solche Menschenbilder würden jene gefährden, die krank und schwach sind. "Menschen, die leiden, wird es immer geben. Niemand wird mit noch so guter Medizin und noch so guten Methoden das Leid aus der Welt zaubern können."
Gerade in der Coronakrise sei zu beobachten, wie das Menschenbild auf körperliche Gesundheit reduziert werde, sagte Kohlgraf. Abgesehen vom Pflegepersonal seien die systemrelevant, "die die Wirtschaft am Laufen halten". Es gebe aber noch "andere Dimensionen des Mensch-Seins". Er wolle Gesundheit oder Wirtschaft "nicht klein reden, aber sie zu vereinseitigen, scheint mir das Problem zu sein."

"Der Missbrauch ist der General-Fehler"

Auf die Frage, was die katholische Kirche falsch mache, dass sie auf das Thema Missbrauch reduziert werde, sagte Kohlgraf: "Zunächst einmal hat sie falsch gemacht, dass in ihr missbraucht wurde und möglicherweise wird. Das ist der General-Fehler." Es gebe in der katholischen Kirche "systemische Probleme" sowie eine "heillose Überforderung". Die Aufarbeitung dauere zu lang.
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Mit Blick auf ein weltweit umstrittenes Vatikan-Schreiben, wonach eine Segnung homosexueller Paare in der katholischen Kirche nicht erlaubt sei, sagte Kohlgraf: Menschen nur nach ihrer sexuellen Orientierung einzuordnen, werde "der Vielfalt menschlichen Lebens nicht gerecht. Auch ich bin ja nicht nur Bischof, sondern auch Fahrradfahrer, Klavierspieler, Mann und vieles mehr."
Der Ton, wie zurzeit in der katholischen Kirche Menschen über Menschen urteilten, sei oft "unbarmherzig". Die ersten Reaktionen auf seine Aussagen bestätigten dies. Er habe diverse Hassmails bekommen.

Das Interview im Wortlaut:
Andreas Main: Herr Bischof Kohlgraf, als Sie vor einem Jahr in einem leeren Mainzer Dom den Karfreitags- und den Ostergottesdienst feierten, übertragen im Livestream beziehungsweise im ZDF, hätten Sie es sich damals träumen lassen, dass es ein Jahr später immer noch so massive Einschränkungen geben würde?
Kohlgraf: Nein, überhaupt nicht. Also, ich war damals auch ziemlich niedergeschlagen, muss ich sagen. Das war ein sehr ungewöhnliches Osterfest. Und das wird es wohl in diesem Jahr wieder, auch wenn wir kleine Präsenzgottesdienste wohl werden feiern können. Aber es ist natürlich nicht das Ostern, was man sich vorstellt, wo auch so im Raum, im Dom die Freude rüberkommt. Trotzdem geben wir unser Bestes, musikalisch im Rahmen dessen, was möglich ist.
33D-Modell des Coronavirus SARS-CoV2
Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
Main: Das heißt, die Pandemiebekämpfung ist nicht so richtig rund gelaufen? Jedenfalls für Sie schlechter als erwartet?
Kohlgraf: Ja. Also, ich sage mal, im Sommer hatte ich schon so die Hoffnung. Auch von den Impfstoffen war die Rede. Und dass die Zahlen wieder so hochgehen, ich glaube, das hat auch die Politik natürlich unterschätzt. Wir haben solche Diskussionen ja auch vor Weihnachten geführt. Aber dass es jetzt in dieser Massivität wieder weitergeht, also das hätte ich zumindest nicht erwartet. Aber es ist jetzt, wie es ist. Und leider Gottes wird es uns noch lange beschäftigen, habe ich den Eindruck.

"Man hat die ganze Entwicklung teilweise nicht ernstgenommen"

Main: Welche Fehler sind gemacht worden?
Kohlgraf: Gut, jetzt bin ich kein Virologe und kein Experte. Ich denke, natürlich, vielleicht hat man die ganze Entwicklung auch teilweise nicht ernstgenommen seitens der Politik. Manche Entscheidung vielleicht auch zu unkoordiniert getroffen.
Also, ich denke an diese Diskussion Zuständigkeit Bund, Länder. Das merke ich natürlich auch, dass auch die Bundesländer in einigen Fragen unterschiedlich unterwegs sind. Das ist für mich als Bischof oder für uns als Bischöfe manchmal auch etwas schwierig. Wobei wir hier, muss ich sagen, Rheinland-Pfalz und Hessen, eine gute Zusammenarbeit haben. Also, da habe ich keinen Grund, mich zu beschweren. Wir sind in gutem Austausch, in guter Kommunikation.
Auf der anderen Seite, ich will nicht einstimmen in diese Klage oder den Vorwurf, dass die Impfkampagne schiefläuft und so weiter. Dass wir überhaupt Impfstoff haben, ist ja ein Riesenerfolg. Und dass eine Aktion in einer solchen Größenordnung auch an manchen Stellen etwas ruckelt, also das möchte ich jetzt niemandem tatsächlich persönlich zum Vorwurf machen.
Rechtsanwältin Kerstin Stirner (M) schaut zu, wie der von der Kirche beauftragte Anwalt Björn Gercke (r) dem Kölner Erzbischof Rainer Maria Woelki (l) während einer Pressekonferenz ein Exemplar eines Gutachtens zum Umgang des Erzbistums Köln mit sexuellem Missbrauch übergibt. 
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Die Tricks und die Tapsigkeit des Kölner Kardinals Rainer Maria Woelki hätten nicht nur Schaden angerichtet, kommentiert Georg Löwisch, Chefredakteur von ZEIT Christ und Welt.
Was haben wir falsch gemacht? Vielleicht ist es für mich als Bischof eher die Aufgabe zu schauen: Welche Sichtweisen sind vielleicht auch zu kurz gekommen in dieser Pandemie? Also, der Blick zum Beispiel darauf, was die harten Lockdown-Bestimmungen und Maßnahmen mit der Seele von Menschen machen, auch mit der Seele von Jugendlichen, von Kindern, von Familien etwa. Oder von Menschen, deren Existenz wegbricht.
Das ist für mich mindestens ein genauso wichtiges Thema wie die Frage nach Inzidenzwerten. Und diese Diskussion ist, meine ich, nicht so geführt worden, wie sie hätte geführt werden müssen.
Main: Haben da die Kirchen womöglich auch zu langsam reagiert, zu lange geschwiegen?
Kohlgraf: Ja, das würde ich schon sagen. Also, in dieser allerersten Phase letztes Jahr, da waren wir auch tatsächlich mit uns beschäftigt. Was machen wir jetzt überhaupt? Das war diese Schocksituation.
Und dann kam so ein bisschen dieses Aufatmen im Sommer. Man fuhr wieder in den Urlaub. Und irgendwann im Herbst hatte ich so den Eindruck, wir müssen doch jetzt mal gucken: Was machen wir eigentlich Weihnachten?
Wir waren - das ist auch ein Vorwurf an mich, sage ich jetzt mal - dass wir oft zu sehr auf die Frage der Liturgie konzentriert waren und darüber hinaus ja vielleicht doch auch etwas blind gewesen sind oder zu stumm.

"Da waren wir zu schwach"

Main: Blind wofür?
Kohlgraf: Wie wichtig etwa Gemeinschaft für Menschen ist. Wie wichtig auch ein soziales Miteinander ist. Also, es gab natürlich Aktionen. Wir haben die karitativen Einrichtungen. Da ist auch unheimlich viel gelaufen. Das ist ja auch kirchliches Handeln. Das muss man sagen. Und viele haben sich ehrenamtlich engagiert.
Aber so die Stimme der Bischöfe - oder ich kann jetzt nur für mich sprechen - auf die psychischen und sozialen Folgen auch immer wieder hinzuweisen, da waren wir zu schwach. Und "wir" meine ich jetzt "ich".
Main: Wenn Sie von Menschen in Ihrem Bistum Kritik und Unmut hören in Bezug auf Corona-Maßnahmen, die Menschen sind genervt, sie sehen die Maßnahmen nicht mehr ein, es gibt einen Vertrauensverlust, das Impftempo wird kritisiert, wie reagieren Sie darauf?
Kohlgraf: Also, insgesamt nehme ich wahr, dass die Nerven tatsächlich bei vielen Menschen blank liegen. Und ich mache die Erfahrung, die wahrscheinlich auch Politikerinnen und Politiker in dieser Zeit machen und vielleicht noch stärker machen als ich: Sie können es eigentlich immer nur falsch machen.
Wenn wir die Maßnahmen strenger machen, bekomme ich einen drüber nach dem Motto: Wir haben ein Recht auf Gottesdienst. Wenn wir es lockern: Es ist unmöglich und verantwortungslos, was Sie da treiben. Etwa im Hinblick auf die Gottesdienste.
Dann gibt es natürlich auch die Stimmen, die sagen: 'Die Kirche soll sich ganz raushalten. Ist die Kirche überhaupt systemrelevant?' Solche Fragen kamen. Und natürlich auch umgekehrt der Vorwurf: 'Die Kirche, die sagt ja nichts. Also, die Bischöfe oder die Leute aus der Kirche sind abgetaucht.' Was so jetzt auch nicht stimmt.
Also, ich habe die Erfahrung gemacht: Im Moment muss man einfach so ein bisschen auch der Prellbock sein für das, was die Menschen nervt.
Kardinal Rainer Maria Woelki hält sich bei der Vorstellung des Gutachtens die Hand an den Kopf
Kirchenrechtler: Sehr wahrscheinlich, dass Woelki von Fällen wusste
"Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit" habe Kardinal Rainer Maria Woelki in seiner Zeit als Kölner Weihbischof Kenntnis über Vorwürfe zu sexueller Gewalt gehabt, sagte der Kirchenrechtler Bernhard Anuth im Dlf.

"Gott steigt aus dem Leid nicht aus, er steigt ein"

Main: Herr Kohlgraf, der Karfreitag liegt ja gerade mal zwei Tage zurück. Karfreitag, das Kreuz und Ostern, die Auferstehung, das Leid und der Jubel, das gehört theologisch zusammen. Gibt es eine Theologie des Kreuzes, die Ihnen das Leben mit Corona erträglicher macht?
Kohlgraf: Also, das Kreuz ist ein sehr vielsprechendes Symbol. Also, es ist für mich nicht die eine Botschaft, die sich mit dem Kreuz verbindet. Sondern mit dem Kreuz gehe ich in eine Zwiesprache sozusagen. Ich schaue auf das Kreuz. Ich schaue auf Christus den Gekreuzigten. Und sehe zunächst einmal auf einen Messias, einen Sohn Gottes, so wie ich im Glaubensbekenntnis spreche, der das Leid der Welt nicht einfach weggewischt hat, sondern der dieses Leid der Welt erlebt hat, erfahren hat, mitgetragen hat.
Also, ich kann mich mit ihm und er sich mit mir identifizieren. Das ist schon mal für mich eine ganz, ganz wichtige Aussage. Natürlich beantwortet das nicht die Frage: Warum gibt es überhaupt Leid in der Welt? Darauf wird es nie eine einfache Frage geben.
Die christliche Antwort ist: Gott steigt aus dem Leid nicht aus, sondern er steigt ein. Und es gibt so einen schönen Satz aus dem Johannes-Evangelium: 'Wenn ich von der Erde erhöht bin...' - das bezieht sich auf den Kreuzestod Jesu, Jesus sagt das selber im Vorausblick auf seinen Tod. 'Wenn ich von der Erde erhöht bin, werde ich alle Menschen an mich ziehen.'
Das ist für mich auch eine ganz, ganz große Heilshoffnung für die vielen Menschen, die alle in der Liebe Gottes stehen. Das sind für mich schon so zwei Gedanken, die in dieser Corona-Zeit noch einmal wichtig und existenziell sind.

"Eine menschenfeindliche Vorstellung"

Main: Ein jüdischer Wanderprediger, der das Leid der Welt erlebt hat, der einsteigt in das Leid - inwiefern steht dieser Gedanke im Widerspruch zu jenen Menschenbildern heute, die den Tod besiegen wollen, die das Leid nicht akzeptieren können oder auf mechanistische Weise Viren ausrotten wollen, die dann von "Zero Covid", "Null-Covid" und so weiter sprechen?
Kohlgraf: Ich glaube, dass das unrealistische Vorstellungen sind und am Ende auch unmenschliche Vorstellungen. Also, mir vorzustellen, dass irgendwelche Techniker am Ende bestimmen, dass ich virtuell eine Ewigkeit lang lebe, das ist für mich sogar eine Horrorvorstellung.
Oder, dass ich als nichts anderes gesehen werde als eine biologisch funktionierende Maschine, wo man einfach Ersatzteile austauschen kann wie bei einem kaputten Auto, ich glaube, das ist am Ende auch eine menschenfeindliche Vorstellung. Denn was ist dann mit den Menschen, die krank sind, die schwach sind, die leiden? Die wird es immer geben und man wird mit noch so guter Medizin und noch so guten Methoden das Leid aus der Welt nie wegzaubern können.

"Es muss noch mal andere Dimensionen des Menschseins geben"

Main: Welche, gerade in unseren Corona-Monaten grassierenden oder dominierenden Menschenbilder sind Ihnen darüber hinaus suspekt, gerade im Kontrast zu dem, was Sie über eine Kreuzestheologie eben beschrieben haben?
Kohlgraf: Ja, gut, es gibt schon auch durchaus in dieser Zeit wahrnehmbaren Egoismus. Menschen, die um sich selber kreisen. Und das ist natürlich etwas, wo die christliche Botschaft auch dagegensteht. Menschenbilder, die den Menschen definieren nur auf dem Hintergrund, sage ich mal, körperlicher Gesundheit, so wichtig diese ist. Menschenbilder, die letztlich den Menschen auch nur definieren von seiner wirtschaftlichen Bedeutung her.
Also, Systemrelevanz wird dann definiert auf die Menschen hin, mal vom Pflegepersonal abgesehen, auf die Menschen, die die Wirtschaft am Laufen halten. Also, es muss noch mal andere Dimensionen des Menschseins geben. Obwohl ich alle diese Dimensionen nicht kleinreden will. Aber sie zu vereinseitigen, das scheint mir das Problem zu sein.
Der Kölner Kölner Erzbischofs Rainer Maria Woelki (r) nimmt am 20.09.2014 in Köln (Nordrhein-Westfalen) von seinem Vorgänger Kardinal Joachim Meisner (l) den Petrusstab entgegen. Mit einem Gottesdienst ist der neue Kölner Erzbischofs Rainer Maria Woelki in sein Amt eingeführt worden. Foto: Oliver Berg/dpa ++
"Es steigen Emotionen hoch, regelrecht Ekel"
In der sachlichen Juristensprache des Gutachtens zum Umgang mit sexueller Gewalt im Erzbistum Köln werde ein System sichtbar, das moralisch verkommen sei, sagt Dlf-Kirchenexpertin Christiane Florin.
Main: Nun vertreten Sie gerade ganz klare Positionen. Umgekehrt ist es so, man hat ja den Eindruck, dass mit der Stimme der Kirchen in Corona-Zeiten gar nicht mehr gerechnet wurde. Also, selbst wenn gefordert wird, dass nicht nur Virologen die Pandemie-Politiker beraten sollten, dann wird halt nach Psychologen oder Soziologinnen gerufen. Woran liegt das, dass Theologie so abgetaucht ist oder abgetaucht wurde?
Kohlgraf: Vielleicht, weil sie sich auch nicht lautstark ins Gespräch eingemischt hat. Wobei ich das unseren Theologinnen und Theologen etwa an den Fakultäten auch nicht so pauschal vorwerfen kann. Es sind schon einige auch sehr deutlich unterwegs. Die Frage ist immer, auch wenn sich Theologinnen und Theologen im Netz äußern: Wen erreichen die?
Wir haben zum Beispiel auch mit unseren digitalen Angeboten etwa vom Bistum Main die Erfahrung gemacht, dass wir auch mit unseren guten Angeboten eigentlich immer noch unseren katholischen Kernkreis erreichen, aber keine breitere Öffentlichkeit. Und da müssen wir, glaube ich, noch professioneller werden, um uns da auch ins Gespräch zu bringen und auch öffentlich wahrnehmbar zu sein.

"Eine bestimmte Gestalt von Kirche ist im Sterben begriffen"

Main: Sie haben jüngst gesagt, Ihre Kirche werde in der gegenwärtigen Form sterben. Geht es noch resignativer?
Kohlgraf: Nein. Das ist für mich ein Auferstehungsbild. Dieses Bild vom Sterben der Gestalt der Kirche, nicht das Sterben der Kirche - das möchte ich deutlich sagen. Das Sterben einer bestimmten Gestalt von Kirche ist für mich eigentlich ein österliches Symbol in dem Sinne, wie Jesus es sagt, wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein. Wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht.
Ich denke zum Beispiel an viele Formen von Kirche, wo wir im Grunde - Tomáš Halík, der tschechische Schriftsteller hat das so genannt - eigentlich folkloristisch unterwegs sind und eigentlich so als Sahnehäubchen für Feste und Familienfeiern dienen, aber wo es eigentlich nicht darum geht, Menschen zu einem persönlichen Glauben zu befähigen.
Ich glaube, dass solche Formen zunehmend unbedeutender werden. Damit will ich nicht einer Kirche das Wort reden, die nur noch für die ganz Überzeugten da ist. Ganz im Gegenteil. Sondern eine Kirche, die wirklich rausgeht, Menschen anspricht, aber nicht damit rechnet sozusagen, wir machen die Kirchentüren auf und die Menschen kommen dann schon einfach. Das ist für mich dieses Bild von Kirche, was im Sterben begriffen ist. Dieses Bild oder diese Idee von einer Kirche, wir sind doch da, dann müssen die Leute auch kommen, das geschieht so nicht mehr.

"Dass missbraucht wurde, ist der Generalfehler"

Main: An einem Thema kommen wir nicht vorbei. Wenn es um katholische Kirche geht, ist in den vergangenen Jahren fast nur noch ein Thema zu hören: Missbrauch, Missbrauch, Missbrauch. Manchmal abgelöst vom Thema Missbrauch. Was macht die katholische Kirche falsch, dass sie so reduziert wird?
Kohlgraf: Na ja, erst mal hat sie falsch gemacht, dass in ihr missbraucht wurde und möglicherweise wird. Das ist, glaube ich, der Generalfehler. Und, dass man auch - und das zeigen ja auch viele Studien mittlerweile, dass man erstens ein systemisches Problem hat und zweitens mit der Aufarbeitung des Missbrauchs sich sehr viel Zeit gelassen hat. Und das sind Punkte, die dann doch massiv sind für die Menschen.
Main: Sie haben systemische Probleme angesprochen. Was meinen Sie konkret?
Kohlgraf: Na ja, gut, erste Missbrauchsstudien zeigen es ja. Etwa, ich denke an die Kölner Studie, die jetzt herausgekommen ist, die zunächst mal die rein juristische Seite beleuchtet.
Dass es, wenn ich es mal vorsichtig sage, ein System gab, wenn man es nicht moralisch werten will, wo eine heillose Überforderung geherrscht hat, wo Dinge auch nicht gesehen werden wollten, wo man nicht die Betroffenen als Erstes im Blick hatte, sondern das Heil der Institution. Dass man auch Dinge irgendwo nicht ins Licht geholt hat. Und das betrifft jetzt nicht nur Köln.
Wir werden im Bistum Mainz nächstes Jahr eine Studie bekommen vom Rechtsanwalt Weber. Ich kenne die Studie nicht. Ich kenne aber die Zwischenergebnisse, die er präsentiert hat. Also, das ist jetzt keine Kölner Spezialität. Das ist etwas, was eigentlich durch die ganze Kirche geht. Und ich vermute, nicht nur durch die Kirche in Deutschland.
Kardinal Rainer Maria Woelki, Erzbischof von Köln, nimmt an einer Pressekonferenz zur Vorstellung eines Gutachtens zum Umgang des Erzbistums Köln mit sexuellem Missbrauch teil. Ein Jahr lang hat der Kölner Kardinal Woelki ein Gutachten zum Umgang mit Missbrauchsvorwürfen zurückgehalten. Nun wird eine neue Untersuchung vorgestellt.
Ein Gutachten, das schonungslos Namen benennt
Ein neues Rechtsgutachten zu sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche durch Geistliche im Bistum Köln liegt nun vor. Es sagt nichts über das Leid der Opfer, kommentiert Andreas Main.
Main: Sie haben Köln angesprochen. Der Papst hat jetzt einer Auszeit für Ihren Mitbruder, den Hamburger Erzbischof Stefan Heße zugestimmt. Ihm waren im sogenannten Gercke-Gutachten diverse Pflichtverletzungen im Missbrauchskontext vorgeworfen worden, als er noch im Erzbistum Köln in verantwortlicher Position tätig war.
Heße ist wie Sie in Köln geboren. Seine Eltern waren Bäcker, Ihre Eltern Krankenschwester und Maurer. Sie sind nur ein Jahr auseinander. Sie sind beide von Kardinal Meisner zum Priester geweiht worden. Viele Gemeinsamkeiten. Was unterscheidet Sie von Stefan Heße?
Kohlgraf: Na ja, jeder Mensch ist zunächst mal anders. Und wir sind lange befreundet. Das darf ich auch sagen. Und diese Freundschaft leidet jetzt auch nicht durch die jetzige Situation. Ich denke, eine persönliche Freundschaft muss ich auch trennen von diesen juristischen Fragen, die jetzt im Raum sind und für die er ja jetzt auch Verantwortung übernimmt. Wir sind in gutem Kontakt.
Was unterscheidet uns? Wir sind, glaube ich, vom Naturell unterschiedlich. Es gibt auch vieles, was uns verbindet. Ich glaube, in vielen theologischen Positionen sind wir durchaus sehr nah.
Main: Schließen Sie für sich aus, dass Sie irgendwann als Teil dieser Kölner Situation identifiziert werden könnten?
Kohlgraf: Ausschließen kann man da gar nichts. Ich habe nur nie den Weg über die Kurie gegangen sozusagen. Ich war Kaplan und dann war ich Schulpfarrer viele Jahre. Ich habe promoviert. Ich habe habilitiert. Also, ich war nie Teil sozusagen dieses Generalvikariats oder dieser Verwaltungseinheit. Das ist natürlich insofern für mich auch jetzt die Situation, dass ich das nicht glaube.
Was der Herr Weber etwa, der Rechtsanwalt, für ein Urteil fällen wird über meine ersten vier Jahre als Bischof dann, das sei mal dahingestellt. Deswegen hänge ich mich auch oder lehne ich mich nicht zu sehr aus dem Fenster im Urteil jetzt über andere Mitbrüder, weil ich auch nicht wissen kann, was dann nächstes Jahr eventuell auch an Urteil über meine ersten Bischofsjahre auf den Tisch kommt.
Ich hoffe, dass ich nach bestem Wissen und Gewissen sagen kann oder ich glaube, dass ich das sagen kann, dass wir wirklich alles versucht haben in diesen Jahren auf den Tisch zu bringen und einen Durchblick zu bekommen. Nur, die Sache ist doch oft sehr viel komplexer, als es in der Öffentlichkeit rüberkommt. Das sage ich auch sehr deutlich.

"Ein oft unbarmherziger Ton in der Kirche"

Main: Sie ahnen nicht, wie sehr ich Rechts-Links-Schubladen verabscheue. Dennoch ordne ich Sie, weil das allgemein so geschieht, als Vertreter des liberalen Flügels Ihrer Kirche ein. Sie haben einen unbarmherzigen und feindseligen Ton in Ihrer Kirche diagnostiziert. An welche Adresse richtet sich die Kritik? An rechts oder an links?
Kohlgraf: Das richtet sich eigentlich grundsätzlich erst mal gegen alle Seiten. Ich habe mich bezogen auf eine Initiative auch von Pax Christi unter dem Stichwort "gewaltfreie Kommunikation". Gewaltfreie Kommunikation versucht Menschen zu verstehen, egal, wie sie sind, sie nicht in Schubladen zu stecken, sie nicht sozusagen auf eine Seite hin zu katalogisieren.
Also Beispiel: Jemand, der homosexuell veranlagt ist, ist ja nicht nur homosexuell. Der hat auch andere Identitäten. Und ihn nur unter dieser Kategorie, jetzt seine sexuelle Orientierung, einzuordnen, finde ich, wird auch der Vielheit oder Vielfalt menschlichen Lebens nicht gerecht. Auch ich bin ja nicht nur Bischof. Ich bin Fahrradfahrer. Ich bin Klavierspieler. Ich bin Mann. Ich bin - was weiß ich was.
Also, ich kann mich über den Freundeskreis definieren. Das alles macht meine Identität aus. Und ich fühlte mich auch nicht richtig verstanden, wenn ich immer nur sozusagen als Kirchenvertreter oder als Leitungsverantwortlicher in der Kirche katalogisiert würde.
Also, man muss, glaube ich, viel, viel genauer hinschauen. Und das passiert in der Kirche, meine ich, auch – auch – in lehramtlichen Äußerungen nicht. Und ich habe dann kritisiert, dass ich schon wahrnehme, dass auch der Ton unbarmherzig ist oft in der Kirche und wie auch Menschen über Menschen urteilen. Die ersten Reaktionen auf meine Aussage sind jetzt da. Und viele der Reaktionen bestätigen eigentlich meine Theorie. Es sind wirklich auch zum Teil Hass-Mails dabei, wo ich mir sage, na ja, vielen Dank für die Bestätigung, liebe Brüder.
Kardinal Rainer Maria Woelki hält das Gutachten kurz nach der Veröffentlichung in der Hand.
Kirchenkritiker Frerk - "Kirche definiert selber, welche Akten sie freigibt"
Der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki werde seinem hohen Anspruch nicht gerecht, den Umgang mit sexueller Gewalt im Erzbistum aufzuklären, sagte der Kirchenkritiker Carsten Frerk im Dlf.
Main: Sie spielen letzten Endes auch an auf das Responsum aus der Glaubenskongregation, jenes Dokument, was sagt, dass die Segnung homosexueller Paare abgelehnt wird und dass das eine unveränderliche Haltung sei. Aber haben Sie da noch Rückendeckung, wenn Sie weiterhin für flexible Positionen mit Blick auf die Segnung homosexueller Paare argumentieren?
Kohlgraf: Also, ich glaube, dass ich da ganz gut liege. Ich habe sehr deutlich gemacht, dass es mir nicht um sozusagen eine Ehe geht. Ehe ist bei uns in der katholischen Kirche definiert: Mann und Frau mit der Offenheit für Nachkommenschaft.
Aber ich habe dafür geworben und es passiert ja auch, dass man Menschen begleitet. Und es sind vielleicht gar nicht mehr viele, die von uns eine solche Begleitung wollen. Aber die jetzt auch noch zu vergrätzen, indem ich sie abschließend beurteile in ihrer Lebensführung, das halte ich auch nicht für eine seelsorgliche Haltung.
Also, meine Idee wäre, Menschen wirklich begleiten. Und ich traue unseren Seelsorgerinnen und Seelsorgern zu, dass sie dann verantwortungsvolle und theologisch gut begründete Formen finden, solchen Menschen auch einen Segen zuzusprechen.
Mich hat sehr bewegt und auch angerührt ein Bild jetzt von Kardinal Schönborn aus Wien, der gesagt hat: Die Kirche lässt sich immer als Mutter bezeichnen. Würde eine Mutter ihren Kindern den Segen verweigern, auch wenn sie vielleicht nicht so leben, wie es dem Ideal der Mutter entspricht? Ich halte das für eine sehr weise und sehr kluge Bemerkung.

"Es gibt aggressive Rechte. Es gibt aggressive Linke"

Main: Sie haben eben den tschechischen katholischen Theologen und Soziologen Tomáš Halík angesprochen. Der befürchtet in seinem jüngsten Buch – benennt das ganz konkret – eine Spaltung, ein Schisma. Wenn er recht hat, von wem wird dieses Schisma ausgehen?
Kohlgraf: Also, kirchenrechtlich geschieht ein Schisma immer dann, also eine Kirchenspaltung, wenn sich Bischöfe abspalten. Das sehe ich in Deutschland, ehrlich gesagt, nicht. Wir sind eine vielfältige Gruppe. Ich hätte jetzt beinahe Haufen gesagt – Entschuldigung.
Wir sind eine vielfältige Gruppe mit sehr unterschiedlichen Auffassungen. Aber im Kern des Katholischen sind wir natürlich selbstverständlich beieinander. Also, wir sprechen das katholische Glaubensbekenntnis, glaube ich, alle ehrlichen Herzens und sind auch an der Einheit mit der Weltkirche interessiert.
Dennoch gibt es natürlich spaltende Tendenzen. Die gibt es. Aber die gibt es von allen Seiten. Ich nehme jetzt auch die Schubladen, die Sie angesprochen haben. Also, es gibt aggressive Rechte. Es gibt aggressive Linke.
Es ist meine nicht immer einfache Aufgabe als Bischof, diese unterschiedlichen Gruppen zusammenzuhalten, ins Gespräch zu bringen, mit ihnen im Gespräch zu bleiben. Das ist manchmal wirklich anstrengend. Und es ist für mich auch als Bischof – Sie hatten gefragt: In welche Schublade gehören Sie als Bischof?
Also, ich bin zum Beispiel, man würde in vielen Fragen wahrscheinlich sagen, ich bin konservativ, weil ich zum Beispiel überhaupt nicht ertragen kann, wenn man an der Liturgie herumbastelt. Ich liebe die klassische Liturgie, in die ich einfach hinein mich begeben kann und da nicht groß kreativ werden muss - mal von guter Musik abgesehen und einer guten Predigt.
Aber ich bin in anderen Punkten schon auch natürlich jemand, der sagt, wir müssen mit der Zeit im Gespräch sein. Vielleicht waren es auch die Jahre als Schulpfarrer. Ich habe halt viele Jahre mit Jugendlichen jeden Tag stundenlang debattiert und diskutiert. Das verändert einen auch.

"Ich bin früh mit dem Tod konfrontiert worden"

Main: Herr Bischof, lassen Sie uns unsere Gegenwart beleuchten vor dem Hintergrund dessen, was Christen als Auferstehungshoffnung bezeichnen. Wie ändert diese Hoffnung den Blick auf unsere Corona-Krisenzeit?
Kohlgraf: Ich kann für mich sagen, dass mich diese Hoffnung auf Auferstehung eigentlich schon ein Leben lang begleitet. Das hat auch durchaus biografische Gründe. Sie haben meine Eltern angesprochen. Ich darf es auch sehr persönlich sagen. Ich bin halt relativ früh auch mit dem Tod konfrontiert worden. Deswegen war für mich Auferstehung und die Hoffnung auf ewiges Leben immer auch eine Kraft, um weiterleben zu können.
Und dennoch ist es nicht nur der Blick in die Zukunft, sondern dieser Glaube an einen Gott, der Leben ist und der Liebe ist, der motiviert mich auch jetzt und der gibt mir auch manchmal die Kraft, von mir wegzuschauen auf das, was vielleicht auch andere brauchen.

Main: Kämen wir besser durch diese Krise, wäre die Gesellschaft christlicher?
Kohlgraf: Ich glaube, dass die Gesellschaft in vielen Punkten sogar christlich ist, wenn ich es auf das Soziale reduziere, sage ich mal. Also, ich glaube, dass viele unserer christlichen Werte, von denen wir oft sprechen, also Nächstenliebe, die Sorge für andere, dass das in unserer Gesellschaft ja gar nicht so fremd ist.
Also, viele Menschen sind wirklich gute Menschen, ohne ausdrücklich an Gott oder an Jesus Christus zu glauben. Dennoch braucht diese Nächstenliebe, das ist meine feste Überzeugung, auch eine Quelle.
Und Religion kann im richtig verstandenen Sinne so etwas sein wie ein einigendes Band zwischen Menschen. Es wird dann problematisch, wenn sie ausgrenzend wird. Also, wenn Menschen nicht mehr im Blick sind, die vielleicht nicht dazugehören. Oder über spaltende Tendenzen von Religion kann man natürlich auch sprechen. Ich würde jetzt eher das einigende Band betonen. Und das könnte im Christentum - oder ist im Christentum sehr stark.
Segnung Homosexueller - "Das kann nicht sein, dass jemand, der segnet, bestraft wird."
Das "Nein" des Vatikans zur Segnung Homosexueller zeige, wie sich die Kirche in ihren eigenen Reihen zu den Menschenrechten verhalte, die sie nach außen immer wieder einfordere, sagte Pfarrer Burkhard Hose im Dlf. Die Lehre müsse geändert werden, ein progressiv lächelnder Papst helfe den Betroffenen wenig.
Main: Ein "einigendes Band" sprechen Sie an. Gleichzeitig knirscht es im seelischen Gebälk dieser Gesellschaft. Haben wir nach der Pandemie womöglich das Problem, dass durchs permanente Weggesperrt-Werden oder Sich-Wegsperren unsere Innenstädte veröden, dass das Lebenswerk unzähliger Menschen, meist Freiberufler, zerstört ist? Auch unser Gemeinschaftsleben vom Feuerwehrverein bis zu Chören. Wie groß ist diese Gefahr?
Kohlgraf: Die Sorge habe ich. Ich habe aber auch die Hoffnung, dass die Sehnsucht nach Gemeinschaft und nach Miteinander und nach Gestaltung und nach einer sinnvollen Freizeit mit anderen so groß ist, dass sich vieles auch wieder regenerieren wird.
Etwa im Hinblick auf unsere Chöre glaube ich das, auch wenn man vielleicht wieder Aufbauarbeit leisten muss. Die Chöre, die sich mehrheitlich aus älteren Menschen zusammensetzen, da mache ich mir zum Beispiel Sorgen.
Aber so andere Vereine, ich glaube, das wird sich regenerieren. Was die Innenstädte angeht, ja, das ist aber, glaube ich, eine Entwicklung, die ja schon lange beobachtbar ist, auch schon vor Corona. Nur ist es jetzt sicherlich beschleunigt worden. Aber ich sage mal, als Mainzer Bischof, was die Mainzer Lebensart und Lebensfreude angeht, bin ich da auch eher hoffnungsvoll.
Main: Und wie wird Ostern im Jahr 2022 sein?
Kohlgraf: Ach, ich bin jetzt sehr vorsichtig mit Versprechen. Aber ich hoffe schon auf Normalisierung. Ich meine, die Impfsachen laufen und ich hoffe schon, dass bis Frühjahr 22 auch wirklich Entspannung da ist.