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Manichi Yoshimura: "Kein schönerer Ort"
Literarische Reaktion auf Fukushima

Alle leben gern in Umizuka. Doch irgendetwas stimmt nicht in der japanischen Stadt, in der Kinder sterben und Kritiker aus dem Verkehr gezogen werden. Sieben Jahre nach Fukushima erscheint mit "Kein schönerer Ort" eine der ersten literarischen Reaktionen auf die Katastrophe in deutscher Übersetzung.

Von Katharina Borchardt | 26.09.2018
    Buchcover: Manichi Yoshimura: "Kein schönerer Ort"
    "Kein schönerer Ort" kann als Kommentar zu Fukushima und den Folgen gelesen werden (Buchcover: Cass Verlag, Foto: imago / Westend61)
    Umizuka ist ein sonderbarer Ort. Alle scheinen so überaus glücklich, hier leben zu dürfen. Immer wieder beteuern sie, wie sehr sie Umizuka mögen, und sie schmettern gemeinsam die Hymne der Stadt, die mit dem frohgemuten Ausruf endet: "Umizuka, Umizuka, Our Hyperparadise!" Nur wenige scheinen Probleme mit dem verordneten Teamgeist zu haben. Nicht einmal der Vater der verstorbenen Schülerin Akemi. Bei der Totenfeier für seine Tochter erinnert er sich leichthin:
    "Akemi hat oft gesagt: Die Zwiebeln aus Umizuka schmecken am besten, Papa, und der Fisch von hier ist der gesündeste, nicht wahr? Umizuka hat eigentlich Glück gehabt, es gibt keinen schöneren Ort. Das hat mich tief bewegt. Iss nur, iss, habe ich gesagt und mitgegessen. Und das ist dabei herausgekommen (Akemi-chans Vater klopfte sich auf den Bauch)."
    "Kein schönerer Ort" - so heißt denn auch Manichi Yoshimuras Roman über die fiktive japanische Stadt Umizuka. In Japan erschien er 2014, drei Jahre nach der Nuklearkatastrophe in Fukushima. Nun liegt er auf Deutsch vor - als eine der ersten literarischen Auseinandersetzungen mit dem Unglück, das Japan schwer traumatisiert hat.
    Von Atomkraft ist nicht wortwörtlich die Rede
    Trotzdem darf man diesen Roman nicht als realistische Darstellung der Folgen des Reaktorunfalls lesen. Umizuka ist eine fiktive Stadt und von Atomkraft ist wortwörtlich gar nicht die Rede. Allerdings schielen die Bewohner der Stadt ängstlich zu den Schloten des ortsansässigen Chemiekombinats, sodass man bloß vermuten kann, dass sich dort einmal etwas Schreckliches ereignet hat. Denn nach einem ernsten Zwischenfall wurde die Stadt einst schwer verseucht und die Einwohner mussten evakuiert werden. Erst vor acht Jahren konnten sie zurückkehren. Vielleicht wurden sie sogar dazu gezwungen. All dies bleibt diffus, denn die Menschen fürchten Strafe und reden nicht offen miteinander.
    Die elfjährige Kyoko, die die ganze Geschichte erzählt, war damals noch zu klein, um die Vorgänge zu verstehen. Sie weiß nur, dass ihr Vater weg und ihr kleiner Bruder tot ist und dass ihr Kaninchen ohne Vorderpfoten geboren wurde. Sie hat nur noch ihre Schulfreunde Hiroko und Ken. Und ihre Mutter. Doch das Verhältnis zu ihr ist schwierig:
    "Mutter war ungeschickt, aber einmal gewohnte Handgriffe konnte sie unendlich lange wiederholen. Das war ihre Stärke. Wenn im Alltag nicht alles nach demselben Muster ablief, wurde sie unruhig, und deshalb, so glaube ich, war eine Tochter wie ich, die sich so sprunghaft und risikoreich verhielt, für sie eine große Last."
    Die Mutter versteckt sich hinter ihren Routinen. Sie will nicht auffallen und behält deshalb auch Kyoko streng im Auge. Denn die verhält sich bedenklich: Zum Beispiel singt sie die Umizuka-Hymne nicht gerne mit und sie schreibt Tagebuch, um für sich zu klären, was sie wirklich erlebt und was man ihr bloß einzureden versucht.
    "Dafür legte ich mir ein eigenes, geheimes Heft an. Es bestand aus Kopien, die wir bekamen, aus Werbebeilagen von Zeitungen […], und aus Papier, das ich in der Schule aus Abfällen gefischt und selbst zusammengebunden hatte. Von diesem Heft sagte ich natürlich weder Hiroko-chan noch Mutter etwas. In diesem Heft, das eigentlich nicht existent sein durfte, begann ich heimlich Tagebuch zu führen. Mein Herz war übervoll mit Sinnestäuschungen."
    Den eigenen Sinnen trauen
    Zu diesen Sinnestäuschungen gehört auch, dass Kyoko manchmal Dinge hört, von denen es später heißt, dass sie nie gesagt wurden. Die elfjährige Erzählerin kann sich Vieles nicht erklären. Sie weiß auch nicht, was die anderen denken oder fühlen. Sie kann nur verzeichnen, was von außen wahrnehmbar ist. Eine Erzählperspektive, die Manichi Yoshimura konsequent durchhält. Ihren Sinnen zu trauen - dazu hat die Schulkinder einst ihr Lehrer Fujimura ermutigt. Doch eines Tages verschwindet er; wahrscheinlich wurde er von sogenannten Anzugmännern abgeholt. Auch Kyoko selbst wird irgendwann weggebracht und für viele Jahre eingesperrt:
    "Hier ist es sehr still.
    Manchmal hört man Wellenrauschen.
    Ich sitze auf einem Stuhl und ziehe den kalten Kittel enger. Hier schaltet man erst im Dezember die Heizung ein. Auf dem hölzernen Schreibtisch liegen ein Bleistiftstummel und ein Notizheft.
    Wo bin ich hier nur?"
    Doppelte Erzählperspektive
    Dass Kyoko nicht nur als Elfjährige zu Wort kommt, sondern später auch als Erwachsene, gibt dem Roman eine doppelte Erzählperspektive. Abgesehen von dem Schrecken, dass Kyoko zwanzig Jahre eingekerkert wird, bietet diese zweite Perspektive allerdings kaum erzählerischen Zugewinn. Als Erwachsene kann Kyoko manche ihrer kindlichen Erinnerungen besser einordnen, aber sehr viel mehr als das Kind, das sie einst war, versteht sie nicht. Zudem erzählt sie uns nichts von ihrer Haft, nichts von etwaigen Verhören, kaum etwas von eigenen Gefühlen. Nur ein kleines literarisches Täuschungsmanöver baut sie ein, um dieses aber schnell wieder aufzulösen und allzu ausführlich zu erläutern. Hier kommt also weder psychologisch noch politisch oder atmosphärisch Neues hinzu.
    So hinterlässt der Roman "Kein schönerer Ort" einen zwiespältigen Eindruck: Einerseits ist er ein konsequent erzähltes, alle Psychologie beiseite lassendes Werk, das als Kommentar zu Fukushima und den Folgen gelesen werden kann. Besonders scharf nimmt Yoshimura dabei den sehr japanischen Gruppendruck aufs Korn, der sich hier als handfeste Gehirnwäsche ausformt. Das ist interessant. Und pointiert übersetzt ist der Roman auch. Aber es fehlt ihm an einem echten Spannungsbogen; Kyokos Geschichte bleibt plan. Zumal wenn man sie mit Totalitarismus-Klassikern wie "Fahrenheit 451" oder "Schöne neue Welt", mit "Farm der Tiere" oder "1984" vergleicht. Die Gefährdungslage bei Yoshimura lässt sich aus der Sicht einer Elfjährigen nicht weiter analysieren oder aufklären und Kyoko selbst entwickelt sich im Laufe der Geschichte auch kaum weiter. So ist die Situation am Ende der Geschichte in etwa die gleiche wie zu Anfang, wenn auch verschärft, und man hat das Gefühl, einen Roman gelesen zu haben, der nicht so recht wusste, wohin er einen führen wollte.
    Manichi Yoshimura: "Kein schönerer Ort"
    Aus dem Japanischen von Jürgen Stalph
    Cass-Verlag, Bad Berka. 160 Seiten, 17 Euro.