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Mariana Leky: "Was man von hier aus sehen kann"
Komplexitätsreduktion im Westerwald

In ihrem dritten Roman erzählt Mariana Leky von Liebe und Tod. Große Themen, für die sich die Handlung in ein kleines Dorf im Westerwald zurückzieht. Damit stieß Leky auf viele kaufwillige Leser und jubelnde Kritiker. Unsere Rezensentin kann sich da nicht einreihen.

Von Miriam Zeh | 25.08.2017
    Mariana Leky: "Was man von hier aus sehen kann"
    Mariana Leky: "Was man von hier aus sehen kann" (unsplash.com/ Buchcover: Dumont Verlag)
    Es war einmal ein kleines Dorf im Westerwald, dort lebten Selma und Luise. So könnte diese Geschichte eigentlich auch anfangen. Denn viele Motive aus Mariana Lekys neuem Roman "Was man von hier aus sehen kann" passen ebensogut in ein Märchen. Zum Beispiel: Immer wenn Selma von einem Okapi träumt, stirbt innerhalb der nächsten 24 Stunden eine Person aus dem Dorf. Märchenhaft, beinahe allegorisch sind auch Lekys Romanfiguren gezeichnet – aus wenigen und eindeutigen Charaktereigenschaften. Da haben wir Selma, die gute alte Großmutter. In Selmas windschiefem Häuschen am Waldrand sitzt jeder gern am Küchentisch, Selma werden wichtige Briefe zur Durchsicht vorgelegt und Selma hat in jeder Situation einen Ratschlag parat. Selmas heimlicher Verehrer ist Dietrich Hanberg, von allen nur "der Optiker" genannt. Als zeitlebens unterschätzte und dabei doch gescheite und gebildete Figur traut sich der Optiker einfach nicht, der resoluten Witwe seine Gefühle zu gestehen. Dabei weiß die ganze Dorfgemeinschaft längst, woher der Wind weht. Die abergläubische Elsbeth weiß es, die mürrische Marlies und sogar Palm, der böse Jäger und Säufer, weiß um die verstohlene Schwärmerei des Optikers.
    Der Leser lernt all diese skurrilen Gestalten durch die Augen der Ich-Erzählerin Luise kennen. Luise ist Selmas Enkelin. Sie erzählt den Roman aus einer übergeordneten und allwissenden Perspektive in drei Teilen. Im ersten Teil, Anfang der 1980er, ist Luise zehn Jahre alt. Im zweiten Teil des Romans absolviert die 22jährige Luise eine Ausbildung zur Buchhändlerin. Im dritten Teil ist Luise Anfang 30. Während der gesamten erzählten Zeit verlässt Luise das kleine Dorf im Westerwald nur für kurze und unbedingt notwendige Ausflüge in die nahegelegene Kreisstadt. Überhaupt verlässt niemand gern das Dorf, vor allem nicht, um in die große weite Welt aufzubrechen. Wer sich der Welt stellt, muss verrückt sein, scheint uns der Roman vorführen zu wollen – verrückt oder zumindest verantwortungslos wie Louises Vater. Der bereist schmerzgetrieben und geradezu hysterisch alle Kontinente dieser Erde, nur um immer wieder kein bisschen weiser und mit Läusen auf dem Kopf ins Dorf zurückzukehren. Das hat man also davon, wenn man in die Welt hinaus will, wo es doch zu Hause, in diesem kleinen Dorf im Westerwald so schön ist, wenn man nur richtig hinsieht.
    Überschaubares Refugium gefahrlosen Schmunzelns
    ""Wir leben in einer herrlichen Symphonie aus Grün, Blau und Gold." Das sagte der Optiker manchmal. Wir lebten in einer malerischen Gegend, in einer wunderschönen, einer paradiesischen, so stand es auch in geschwungener Schrift auf den Postkarten, die der Einzelhändler auf der Ladentheke liegen hatte. Kaum jemand aber nahm das wahr, wir übergingen und übersprangen die Schönheit, wie ließen sie rechts und links liegen, wären aber die Ersten gewesen, die sich lautstark beschwert hätten, wenn die Schönheit um uns herum eines Tages nicht auf getaucht wäre."
    Natürlich passieren selbst in einem wunderschönen Dorf manchmal hässliche Dinge. Menschen sterben. Ehen zerbrechen. Mariana Leky erzählt durchaus von großen, existenziellen Themen, vom Tod und von der Liebe. Aber all das erzählt sie eben im engen Rahmen eines kleinen, überfürsorglichen Dorfs im Westerwald. Hier gerät man mächtig in Aufruhr, wenn der Hund mal eine Nacht nicht nach Hause kommt und Panik bricht aus, wenn der Nachbarsjunge sich einen Nachmittag lang im Kuhstall versteckt. Die Betulichkeit dieses Romans ist bisweilen enervierend – vor allem, weil alle seine Figuren so himmelschreiend gut sind. Alle halten zusammen, alle sind zufrieden. Selbst der gewalttätige, alkoholabhängige Jäger Palm wird nach einem Schicksalsschlag zum herzensguten Christenmenschen. Am herzensbesten ist selbstverständlich die von allen geliebte, die etwas tollpatschige und vor allem quälend passive Protagonistin Luise. Wenn sie im zweiten Teil des Romans ihre große Liebe Frederik kennenlernt, kippt die tantenhafte Geschichte endgültig ins Kitschige. Frederik lebt als westliches Zerrbild eines buddhistischen Mönches in Japan und steht Luise in seiner mildtätigen Güte damit in nichts nach. Bei so viel geballter Tugendhaftigkeit sind pathetische Liebesszenen auch nicht mehr zu retten, wenn Leky sie ins Auto verlegt und von einem Motorschaden durchbrechen lässt.
    "Frederik ereilte mich nicht wie ein Gerichtsvollzieher oder ein Herzinfarkt, und auch die Verstockung war weisungsgemäß ausgeblieben. Hier ist es, dachte ich, das hoch gehandelte Hier und Jetzt, von dem der Optiker immer spricht. Hier war ich, mitten im Hier und Jetzt statt wie sonst im Wenn und Aber, und ich nahm Frederiks Hand, und dann krachte es sehr laut, und ich war sicher, dass das ein Band war, ein Band, das von meinem Herzen sprang, aber es war der Hubkolben."
    "Cocooning" im Westerwald
    Wie in dieser Liebesszene versucht Mariana Leky immer wieder Kitsch und Pathos durch komische Brechungen abzufedern. Dafür hat die Autorin auch eine durchaus gewitzte und kunstvolle Sprache zur Hand. Lekys Spezialität sind Personifizierungen und literarisierte Metaphern. Leitmotivisch durchziehen sie den Roman. So lässt die Autorin regelmäßig ‚die Verstockung’ oder ‚die Wahrheit’ figürlich in Erscheinung treten. Und wenn es heißt, Luises Vater habe "eine schlechte Verbindung" zu seiner Tochter, ist damit nicht nur die Familienaufstellung gemeint. Wenn der Vater von einer seiner vielen Reisen aus den Westerwald anruft, ist er auch ausnahmslos schlecht zu verstehen, eben weil die Verbindung so schlecht ist. Mit handwerklichem Geschick setzt Mariana Leky viele gelungene Pointe und konstruiert unerwartete Wendungen.
    Doch trotz dieser zaghaft distanzierenden Wirkung von Lekys Komik bleibt der Verdacht, dass sich die Autorin recht wohl fühlt in ihrem überschaubaren Refugium aus kollektiver Güte und gefahrlosem Schmunzeln. Der Erfolg des Buches dürfte ein enormes Bedürfnis bei seinen Lesern nachweisen, ein Bedürfnis nach Rückzug, nach Komplexitätsreduktion und nach Spiritualität. "Was man von hier aus sehen kann" ist ‚Cocooning‘ im Westerwald. Wem die Welt einmal zu viel wird, der möge es sich mit einer Wolldecke und einer Tasse Tee auf dem Sofa gemütlich machen und dieses Buch lesen. Dieses Buch tut einem nichts, dieses Buch ist freundlich, dieses Buch ist harmlos und es geht am Ende ganz bestimmt gut aus – versprochen.
    Mariana Leky "Was man von hier aus sehen kann",
    Roman. DuMont, Köln, 320 Seiten, 20 Euro