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Marie Darrieussecq: "Unser Leben in den Wäldern"
Flucht vor der digitalen Totalüberwachung

Die Rebellen leben im Wald, ihre implantierten Chips haben sie sich herausoperiert: Marie Darrieussecqs Roman handelt von der Flucht vor digitaler Totalüberwachung und von der Auflösung der Grenzen zwischen Mensch und Maschine. Dabei berührt die verstörende Dystopie viele aktuelle Ängste.

Von Cornelius Wüllenkemper | 13.02.2019
    Mehrere Überwachungskameras in Singapur.
    Totalüberwachung durch staatliche Autorität - hilft die Flucht in die Offline-Existenz? (imago / E. Teister)
    Die Rebellen haben sich davongemacht, den implantierten Chip herausoperiert. Sie leben nun in Höhlen und Gängen versteckt unter dem Blätterdach irgendwo tief im Wald. Ihre Klone, auch "Hälften" genannt, haben sie aus den Lagerzentren befreit. Eigentlich sind die künstlich erzeugten Zwillinge als Ersatzteillager für das Mängelmodell Mensch vorgesehen. Die Rebellen erwecken diese Klone aus ihrem Tiefschlaf, um sie in die menschliche Gemeinschaft zu integrieren. Nur ein Prozent der Menschen verfügen dabei über einen eigenen Klon, der Rest muss sich mit einzeln gezüchteten Ersatzorganen begnügen. Auch diese Ungerechtigkeit wollen die Rebellen von ihrem Camp im Wald aus beseitigen. Die Dynamiken zwischen Minderheit und Mehrheit stehen nicht durch Zufall im Zentrum ihres neuen Romans, erklärt Marie Darrieussecq:
    "Seit vier Jahren arbeite ich an einem Buch über die Menschen, die wir Migranten nennen. Für das Projekt habe ich in mehreren Ländern recherchiert, vor allem in Niger, wo viele Migranten stranden. Ich muss zugeben, dass diese Realität mich überfordert, ich habe die Arbeit daran erst einmal auf Eis gelegt. In meinem Roman ,Unser Leben in den Wäldern' konnte ich genau das Thema verarbeiten, das mich bei meiner Recherche am meisten beschäftigte: die Vorstellung, dass es Menschen gibt, die weniger wert sein sollen als andere. Die alptraumhafte Dystopie meines Romans hat es mir ermöglicht, mir das von der Seele zu schreiben, was mich gerade umtrieb."
    Kontrolliert von Wesen zwischen Mensch und Roboter
    Marie Darrieussecq spricht in ihrer Geschichte viele gängige Themen und Ängste an. Ihre Protagonistin Marie, wie die Autorin selbst eine Psychotherapeutin, schreibt in ihrer Höhle im Wald an einem monologisierenden Vermächtnis: über die digitale Totalüberwachung durch staatliche Autorität, über die schleichende Formatierung der menschlichen Seele und die Auflösung der Grenzen zwischen Mensch und Maschine. Ihre Trauma-Patienten behandelt die Protagonistin Marie nach fest vorgegebenen und ständig videoüberwachten Schemata, assistiert und kontrolliert von Wesen zwischen Mensch und Roboter. Maries defekte oder fehlende Organe – Lunge, Niere, Auge – lassen sich einfach austauschen durch Ersatzteile ihres Klons. Maries Körper und Seele sind zur technologisch-digitalen Einheit der Konsum- und Überwachungsgesellschaft geworden. Flucht ist ihre einzige Rettung.
    "Wie macht man das, verschwinden? Wie macht man das? Offline gehen, das wollte ich ja gerne tun, aber das bedeutete, man war absolut allein, ohne Geld, ohne Wohnung, denn auch die Wohnungstür kann man nur öffnen, wenn man online ist. Das vergisst man schnell: in welchem Maße jede unserer Bewegungen im Netz steht, festgehalten und kategorisiert usw. Von Robotern gelesen. Archiviert, verglichen, einsortiert. Die banale Bewegung, seine Tür mit der Hand zu öffnen, siiiii, indem man sich identifiziert. Zu bezahlen, indem man einfach durch ein Tor mit Iris-Scanner geht. Zu telefonieren, indem man nur das Mikro im Ohr aktiviert. Das vergisst man alles. Wenn man verschwindet, sagte ich mir, kann man überhaupt nichts mehr machen. Man kann nicht mehr existieren. Man ist in einer Zwischenwelt verloren, sitzt zwischen zwei Lamellen der Zeit fest. Ich sagte mir, man muss aufhören, seinen Körper als Schnittstelle zu benutzen. Aber wie?"
    Diffuses, beängstigendes Grundrauschen
    Rebellen verstecken sich im Wald vor den Drohnen des totalen Überwachungsstaates und eignen sich ihre autonome Menschlichkeit gegenüber den Kreaturen der künstlichen Intelligenz wieder an: Diese Geschichte ist in Literatur und Film vielfach durchgespielt worden. Nicht Dramaturgie und Figurenportraits machen Marie Darrieussecqs Dystopie lesenswert. Die Autorin versteht sich vielmehr darauf, ein diffuses, beängstigendes Grundrauschen zu erzeugen. Die hektische Unruhe, mit der ihre Protagonistin ihren Bericht verfasst, lässt drohendes Unheil vermuten.
    "Meine Protagonistin Marie hat es eilig, sie wird höchstwahrscheinlich bald sterben. Diese Geschichte ist ihr Testament. Sie geht sehr schnell vor, springt von einer Idee zur anderen. Für Beschreibungen bleibt dabei nur wenig Platz. Das Leben im Wald etwa beschreibt sie kaum, das ist nicht das, worum es ihr geht."
    Buchcover: Marie Darrieussecq: „Unser Leben in den Wäldern“
    Marie Darrieussecq kanalisiert ihre Gedankenströme beim Schreiben (Buchcover: Secession Verlag, Foto: EPA / picture alliance dpa / Ian Langsdon)
    Und so bleiben viele Fragen offen in diesem rastlosen Text. Rhythmisiert hat Darrieussecq ihren wohl mit voller Absicht teils konfus durch Zeiten und Themen mäandernden Monolog durch wiederkehrende Einwürfe: "Wo war ich gerade?", "Schlimme Zeit!", "Mir ist kalt!" Mit diesen Sätzen wird zugleich an Maries Erzählsituation in der Höhle im Wald erinnert. Dieser vermeintlich "sichere Ort" ist bei Darrieussecq dabei weniger der Spielort des Geschehens. Er steht vielmehr für die Sehnsucht nach einem Ruhepunkt in den ausufernden, unkontrollierbaren Erlebniswelten und Zumutungen der globalen Gegenwart:
    "Wir sollten uns entschieden auflehnen"
    "Wir leben in einer Welt, die in mancher Hinsicht unerträglich ist. Aber wir sollten uns nicht daran gewöhnen, sondern uns entschieden dagegen auflehnen. Der therapeutische Ansatz, den ich bevorzuge, ist der der Revolte. Und Schreiben bedeutet genau diese Revolte und eben nicht Gewöhnung."
    Sie leide an chronischer Schlaflosigkeit, erzählt Marie Darrieussecq, ihren ständigen Gedankenstrom kanalisiere sie beim Schreiben. In vielen Passagen wirkt ihr Roman denn auch wie die ebenso bestechende wie konfuse Assoziationskette eines Wachtraums. Ob hier munter drauflosfabuliert wird oder Darrieussecqs Bilder und Szenen erst eine Entschlüsselung einfordern, das liegt im Ermessen des Lesers. Diese geradezu provozierende Ambivalenz macht zugleich den Reiz des Romans aus. Ungeachtet vieler Klischees und Allgemeinplätze, denen man sowohl im Handlungsverlauf als auch in der Figurenzeichnung begegnet, hat man nach der Lektüre den verstörenden Eindruck, tief in die aufgekratzte Seele der Gegenwart geblickt zu haben.
    Marie Darrieussecq: "Unser Leben in den Wäldern"
    Aus dem Französischen, übersetzt von Frank Heibert
    Secession Verlag für Literatur, Zürich. 110 Seiten, 18 Euro.