Dienstag, 19. März 2024

Archiv

Mark Terkessidis
"Wessen Erinnerung zählt?"

Die deutsche Kolonialpolitik ging über Südwestafrika hinaus. Der Journalist und Migrationsforscher Mark Terkessidis erinnert zudem an die frühe Expansion in Richtung Osten. Er will das Gedächtnis an die deutsche Kolonialpolitik auffrischen und fordert global angelegte Erinnerungskonzepte.

Von Martin Hubert | 09.09.2019
Buchcover "Wessen Erinnerung zählt?" von Mark Terkessidis. Im Hintergrund eine Herero-Familie, entstanden um 1907.
Mark Terkessidis will die Erinnerung an die deutsche Kolonialpolitik beleben (Verlag Hoffmann und Campe; picture alliance/dpa/Foto: akg-images)
Wenn über die deutsche Kolonialpolitik nachgedacht wird, geraten meist afrikanische Regionen in den Blick. Vor allem die Kolonie Südwestafrika - heute Namibia – ist dann Thema und die brutale Unterwerfung des Aufstandes der Herero. Diese Erinnerung sei wichtig, meint der Journalist und Migrationsforscher Mark Terkessidis, aber sie reiche bei weitem nicht aus. Denn das deutsche Kolonialreich ging weit über Afrika hinaus. Terkessidis plädiert in seinem neuen Buch für einen stark erweiterten Begriff deutscher Kolonisierung, der auch frühe Entwicklungen und Osteuropa einschließt. Die Spuren davon, schreibt er, reichen tief in die Gegenwart hinein.
"Ohne Deutschland lässt sich keine Geschichte Ostafrikas, Polens oder des Balkans schreiben, aber ohne Ostafrika, Polen oder den Balkan auch keine Geschichte Deutschlands. Die deutsche Kolonialgeschichte ist anders verlaufen als jene Spaniens, Portugals, Frankreichs oder Englands. Sie ist widersprüchlicher, beinhaltet viele Phantasien und niemals ausgeführte Pläne und lässt sich nicht linear erzählen. Aber diese Geschichte beginnt bereits mit den 'Entdeckungen' im 15. Jahrhundert."
Terkessidis durchstreift diese mäandernde Geschichte deutscher Kolonisierung in einer Mischung aus detaillierter historischer Analyse und engagiertem Essay, der aktuelle Bezüge herstellt. Frühe Formen deutscher Kolonisierung entdeckt der Autor beispielsweise bei der Kaufmannsfamilie der Welser. Sie versuchte bereits in den 1540er Jahren Venezuela zu erschließen, versklavte viele Einwohner und produzierte Millionen Opfer. Das rassistische Modell des Kolonialismus war da bereits erkennbar: Es gibt keinen wirklichen Dialog mit den Anderen, da sie unzivilisiert sind. Einzubeziehen sind sie nur, indem man sie der eigenen Zivilisation und politischen und ökonomischen Interessen unterwirft.
Völkermord in Ruanda hat eine koloniale Komponente
Terkessidis findet auch einiges, was Vergangenheit und Gegenwart direkt verbindet. Zum Beispiel bei Ruanda. Von 1885 bis 1916 war Ruanda Teil der Kolonie Deutsch-Ostafrika. Die Deutschen bevorzugten damals die Minderheit der Tutsi gegenüber den Hutu - und das war eine der Wurzeln des Völkermordes an den Tutsi von 1994. Von Flüchtlingen ist der Satz überliefert "Wir kommen zu Euch, weil ihr bei uns wart". Terkessidis macht ihn am Beispiel Syriens nachvollziehbar.
"Im Hinblick auf Syrien war das Jahr 1898 der Erinnerung wert. In diesem Jahr unternahm 'Reisekaiser' Wilhelm II. einen groß angelegten Trip in den sogenannten Nahen Osten. Von dort aus in die osmanischen Provinzen, ins 'Heilige Land', dann nach Beirut und Damaskus. Wilhelm hofierte die deutschen Siedelnden, die 'Kolonisten' vom Templer-Orden, hielt seine Hand schützend über die Katholiken."
Ob wir wollen oder nicht, resümiert Terkessidis, wir leben in sich überschneidenden Territorien. Bis heute existiert Wissen über die Kolonisierer in den Kolonien und über die Kolonien in Deutschland.
Die frühe Expansion in Richtung Osten
Diese postkoloniale Verbindung reklamiert Terkessidis auch in Bezug auf die deutsche Expansion im Osten. Damit wendet er sich gegen den dominierenden Trend.
"Die Politik gegenüber Polen und 'dem Osten' wird in der Debatte über Kolonialismus selten erwähnt. Das hat auch damit zu tun, dass die nationalsozialistische Expansionspolitik unter einem anderen Namen firmierte. Schon auf der zweiten Seite von 'Mein Kampf' betonte Hitler, das deutsche Volk besitze 'so lange kein moralisches Recht zu kolonialpolitischer Tätigkeit, solange es nicht einmal die eigenen Söhne in einem Staate zu fassen vermag.'"
Terkessidis erinnert jedoch daran, dass bereits der preußische Staat im 18. Jahrhundert mit der Expansion in den Osten begann. Er siedelte Deutsche im Oderbruch an und proklamierte, Osteuropa kultivieren zu wollen. Lange Zeit blieb es allerdings bei einem eher chaotisches Zusammenspiel zwischen privaten Unternehmungen und staatlicher Rahmenhilfe. Erst die Nazis gingen die Osterweiterung systematisch und außerdem mit höchster Brutalität an.
"Etwa 65.000 Personen deutscher Herkunft mussten aus Lettland und Estland in die neu annektierten polnischen Gebiete umziehen. Bis Ende 1939 hatte die Sicherheitspolizei aus demselben Gebiet bereits 120.000 Menschen ins Generalgouvernement vertrieben. Das Ziel war, wie SS-Chef Heinrich Himmler es ausdrückte, erst einmal ein 'Land frei von Menschen' zu schaffen, ein leeres Land, das wieder von deutschen Siedlern 'kolonisiert' werden konnte."
Postkoloniale Erinnerungskultur muss global stattfinden
Terkessidis geht mit seinem Versuch, die Erinnerung an die Kolonisierung und ihre Folgen auszudehnen, ziemlich weit. Er reklamiert aber auch, Denkanstöße und kein abschließendes Urteil liefern zu wollen. Und er stellt die Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten deutscher Kolonisierung heraus. So schreibt er, dass das Nazi-Programm der Osterweiterung zwar in früheren Anstrengungen verwurzelt ist, in seiner Radikalität aber einen Bruch bedeutet.
Oder er konzediert, dass die Kolonisierung an manchen Orten auch zivilisierende Effekte besaß. Das macht es umso überzeugender, wenn Terkessidis sein Programm für eine postkoloniale Erinnerung in einer globalisierten und durch Migration vernetzten Welt skizziert. Man müsse sich wirklich um kulturellen und sozialen Ausgleich bemühen und anerkennen, dass wir in überkreuzten Regionen leben. Terkessidis unterstützt daher Forderungen des "Bundesdeutschen Netzwerks zur Dekolonisierung".
"Restitution von menschlichen Überresten und akquirierten Gegenständen; Anerkennung des Genozids an den Herero und Nama; Globalisierung des Geschichtsunterrichts. Zudem sollen Mahnmale für die Opfer von Kolonialismus, Versklavung und Rassismus sowie Lern- und Gedenkstätten errichtet werden. Auch wird die Entwicklung von 'umfassenden Konzepten' gefordert – 'unter maßgeblicher Beteiligung der Nachfahr*innen Kolonisierter.'"
Mark Terkessidis: "Wessen Erinnerung zählt? Koloniale Vergangenheit und Rassismus heute",
Hoffmann und Campe, 240 Seiten, 22,00 Euro.