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Marokko
Der Lockruf von Tanger

Jack Kerouac, Allen Ginsberg und Truman Capote: Sie alle kamen nach Tanger, um zu schreiben – und zu feiern. Die Stadt, die bis in die 50er-Jahre hinein "Internationale Zone" war, lockte zahlreiche Abenteurer und Kreative an. Diese Zeit ist inzwischen ein Mythos – von dem Tanger bis heute zehrt.

Von Christina Küfner | 28.07.2019
Das Café Hafa in Tanger.
Das Café Hafa ist fast 100 Jahre alt und sein Ruf legendär. Auch der Ausblick auf das spanische Festland ist beeindruckend. (Christina Küfner / Deutschlandradio)
"Wenn ich gesagt habe, dass mir Tanger wie eine Traumstadt erschien, meine ich das genauso. (...) Überdachte Straßen wie Korridore mit geöffneten Türen auf beiden Seiten, verborgene Terrassen hoch über dem Meer, Straßen aus Brettern, dunkle Sackgassen, kleine schräge Plätze wie Ballettdekorationen in falsch gemalter Perspektive mit Gässchen in alle Richtungen."
Eine Liebeserklärung ist das, ganz klar. Von einem Mann, der sein Herz in den 30er Jahren an Tanger verlor. Paul Bowles, der US-Schriftsteller, lebte Jahrzehnte hier. Von ihm werden wir gleich noch mehr hören, denn ihm verdankt diese Stadt einen großen Teil ihres Mythos.
Blick auf Tanger, Marokko.
Tanger gehörte nicht immer zu Marokko, bis in die 1950er-Jahre wurde die Stadt als "Internationale Zone" von den Kolonialmächten verwaltet. (Christina Küfner / Deutschlandradio)
Wo fängt man an, wenn den aufspüren will? Am besten im Café Hafa, das über der Stadt an einer Steilküste liegt. Der Blick hier oben ist phänomenal: Der Ozean liegt einem zu Füßen und man schaut direkt hinüber nach Spanien.
Das Café Hafa ist fast 100 Jahre alt und sein Ruf legendär, erklärt Youssef Chebaa Hadri bei einem Minztee. Er ist Schriftsteller und schreibt am liebsten über seine Heimatstadt Tanger. Von der will er mir heute erzählen. Und von der Bedeutung dieses alten Cafés.
"Das war ein Ort zum Schreiben und zum Schaffen, zum Nachdenken. Damals waren große Schriftsteller hier, wie der Marokkaner Mohamed Choukri oder Paul Bowles, auch sehr viele Intellektuelle. Wenn man das Café Hafa heute besucht, dann sieht man heute vor allem viele Jugendliche, es ist leider nicht mehr ganz das Hafa von damals."
Ungeahnte Freiheiten in Tanger
Wenn von "damals" die Rede ist, dann sind oft jene gut 30 Jahre Jahre kurz nach dem Ersten Weltkrieg gemeint, in denen Tanger nicht zu Marokko gehört, sondern international verwaltet wird.
"Während der Zeit der internationalen Zone lebten viele Nationen hier – Spanier, Franzosen, Deutsche, Italiener, auch viele Juden. Es war eine Zeit der Vielfalt."
Eine Zeit, in der auch das Zwielichtige blüht: Bordelle und Drogen gibt damals en masse, außerdem zahlt man fast keine Steuern. Weshalb die Stadt schnell Glücksritter und Schmuggler anlockt, aber auch Künstler und Kreative. Sie finden ungeahnte Freiheiten in Tanger – und die Stadt wird ein Tummelplatz für die Verrückten.
Der Gran Socco in Tanger.
Die quirlige Seite Tangers: „Am Grand Socco findet jeder, was er braucht." (Christina Küfner / Deutschlandradio)
Dynamisch und quirlig ist Tanger bis heute. Zum Beispiel am Grand Socco, einem großen, ovalen Platz am Rande der Altstadt, zu dem mich Youssef inzwischen geführt hat. Hohe Palmen stehen auf dem Rondell, um das sich türkisblaue Taxis, Mopeds und Menschen wie Karussellfiguren drehen.
"Am Grand Socco findet jeder, was er braucht. Manchmal triffst Du jemanden, der wartet auf Touristen, um ihnen die Medina zu zeigen. Manchmal triffst Du spanische Männer, die nach Jungs Ausschau halten, manchmal triffst Du jemanden, der nach Migranten sucht. Dieser Platz hier ist ein widersprüchlicher Ort. Aber er hat Charme!"
Einige französische Kolonialhäuser säumen den Grand Socco. Auf der einen Seite des Platzes öffnet sich ein hohes, arabisches Tor zu Tangers Altstadt, ein verschachteltes Labyrinth aus engen Gassen, in dem man binnen Sekunden die Orientierung verliert.
"Jeder konnte seinen Wahnsinn leben"
Ein Kontrollverlust, der viele aber auch fasziniert. In den 50er-Jahren entdecken die Autoren der Beat Generation die Stadt. Die Spießigkeit in ihrer amerikanischen Heimat ödet sie an, sie wollen in die Ferne, suchen nach Party und Rausch. Und da hat das damalige Tanger so manches zu bieten.
"Majoun ist eine Süßigkeit aus Honig, Gewürzen und Rohmarihuana. (... ) Wir aßen es, indem wir stundenlang darauf herumkauten. (...) In zwei Stunden wurden unsere Pupillen groß und schwarz, da spazierten wir hinaus auf die Felder außerhalb der Stadt."
Der Schriftsteller Jack Kerouac schreibt diese Zeilen später über seine Tage in Tanger. Noch wilder treibt es William S. Burroughs, der völlig zugedröhnt einen verrückten Roman produziert – "Naked Lunch", heute ein Kultbuch. Auch andere Autoren kommen, bleiben und schreiben, erklärt mir Youssef – zum Beispiel Allen Ginsberg, Tennessee Williams oder Truman Capote.
"Sie haben in Tanger ihr Paradies gefunden – jeder von ihnen hat konnte hier seinen Wahnsinn leben. So ist Tanger, hier bekommt man, wonach man sucht."
Das Eingangstor zu Tangers Altstadt.
Das hohe, arabische Tor führt zu Tangers Altstadt, einem verschachtelten Labyrinth aus engen Gassen, in dem man binnen Sekunden die Orientierung verliert. (Christina Küfner / Deutschlandradio)
Wir laufen weiter durch die verschlungenen Gassen, vorbei an unzähligen, kleinen Läden mit bunten Stoffen, Keramik und Souvenirs. Der Mythos von Tanger bringt der Stadt bis heute viele Besucher. Wer fragt, warum das alles so kam, kommt an einem Mann nicht vorbei.
"Tanger hat seinen kulturellen und touristischen Ruf Paul Bowles und den Ausländern, die mit ihm kamen, zu verdanken. Nicht den Marokkanern. Dank Paul Bowles haben viele Schriftsteller und Künstler Tanger besucht - dank dem, was Paul Bowles über Tanger und Marokko geschrieben hat."
Die Worte des US-Schriftstellers werden zum Lockstoff für viele, die nach Entgrenzung suchen. Seit 1947 lebt Bowles in der Stadt – und schreibt dort.
"Ich genieße die Vorstellung, dass nachts während des Schlafs Zauberei um mich herum ihren unsichtbaren Tunnel gräbt. Seelen werden befreit von unbewussten Ebenen, die in unterschiedlichen Winkeln und Gassen lauern."
Gleichzeitig dokumentiert Bowles, der auch Komponist ist, Marokkos traditionelle Musik. Was Jahre später erneut Prominenz in die Stadt führt. Die Rolling Stones kommen häufig nach Tanger, sie finden in den Klängen Marokkos Inspiration für ihre Songs.
Stadt der Künstler und Poeten
Am Abend treffe ich noch den Musiker Bachir Attar, der bei all dem dabei war. Auch er ist zu Hause in der verwinkelten Medina von Tanger und lebt in dem Haus, in dem Bowles einmal gewohnt hat. Er war damals gut mit dem US-Schriftsteller befreundet.
"Ich wohnte genau unter ihm und er hat immer zu mir gesagt, komm hoch zu mir, ich habe ihn oft getroffen. Ich habe ihn immer gefragt, wie er das Leben in Tanger findet und er hat es geliebt. Er sagte mir, er wird nie mehr zurück nach Amerika gehen."
Und so kam es dann auch. Alle anderen waren Teilzeitbesucher in Tanger, Paul Bowles aber blieb in der Stadt, bis er starb, vor ziemlich genau 20 Jahren.
"Ich glaube, es hat ihm sehr gefallen, dass das Leben hier ganz anders ist, als dort, wo er herkommt. Er mochte die Kommunikation mit den verschiedenen Kulturen in Tanger – Europäer, Marokkaner."
Die Legende von Tanger, die damals begann, reproduziert sich inzwischen von selbst. Viele kommen, um noch etwas von diesem Mythos zu spüren und ja, auch bin deshalb wohl hier. Es wird nicht mein letztes Mal sein, sagt mir Bachir Attar voraus. Denn wer die Magie dieser Zwischenwelt einmal erlebt hat, der komme nicht davon los.
"Tanger ist einzigartig, denn wenn man Tanger einmal besucht, will man immer wiederkommen. Und wenn man wiederkommt, verlässt man es nicht mehr. Das gilt vor allem für Künstler und aufgeschlossene Menschen, Leute, die ein anderes Leben leben wollen. Ich glaube, das ist Tanger."