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Martin Schulz zu britischen EU-Reformforderungen
"Man muss Camerons Rhetorik von seinen Forderungen trennen"

Die EU-Reformwünsche von Großbritanniens Premierminister David Cameron seien nichts Neues, sagte Martin Schulz (SPD), EU-Parlamentspräsident, im DLF. Cameron sei im Brief an EU-Ratspräsident Donald Tusk nicht konkret geworden, darum müsse über die Forderungen im Bereich Freizügigkeit oder Bankenwesen noch ausführlich geredet werden, sagte Schulz.

Martin Schulz im Gespräch mit Christiane Kaess | 11.11.2015
    Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlaments
    Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlaments (picture alliance/dpa/Rolf Vennenbernd)
    Was nicht gehe, sei die Freizügigkeit von EU-Bürgern einzuschränken, sagte Schulz sehr deutlich. Ebenso seien noch Fragen offen, wie Cameron seinen Reformvorschlag umsetzen wolle, Einwanderern vier Jahre keine Sozialleistungen zu geben. Insbesondere bei EU-Einwanderern würden sich hier rechtliche Probleme auftun, erläuterte Schulz an einem Beispiel.
    Auch müssen die Forderung in der Bankenaufsicht detailliert gesprochen werden. "Die Bankenregulierung in der EU soll bindend sein, aber nicht für die Briten. Was ist damit gemeint?", stellte Schulz die Frage in den Raum. "Die EU ist mit Großbritannien stärker, aber man muss den Briten auch sagen: Ihr seid ohne die EU auch schwächer", sagte Schulz.
    Flüchtlinge: Zusammenarbeit mit Diktatoren nicht möglich
    Zum EU-Afriak-Gipfel in Malta, an dem Schulz heute auch teilnehmen wird, sagte er: "Wir werden Flüchtlinge nicht in Länder zurückschicken, wo sie an Leib und Leben bedroht werden." Man müsse Geld in die Herkunftsländer geben. "Wir werden nicht mit Staaten nur zusammenarbeiten können, die rein unseren Demokratiekriterien entsprechen, aber wir werden ganz sicher Rechtsstaatlichkeit, die Einhaltung von Grundrechten als ein Kriterium definieren müssen". Zur Diskussion um die Türkei bekräftigte er, dass die Türkei ein sicheres Land für syrische Flüchtlinge sei. Schulz habe sich selbst davon vor Ort überzeugt.

    Das Interview in voller Länge:
    Christiane Kaess: Dass Helmut Schmidt ein großer Europäer war, ist unbestritten. Es ist eines der Etiketten, die ihm am meisten angeheftet werden. Und bis zuletzt hat er sich immer wieder geäußert zu großen europäischen Fragen, zu den Krisen und Herausforderungen, vor denen Europa in diesen Tagen steht. Am Telefon ist jetzt Martin Schulz von der SPD, EU-Parlamentspräsident. Guten Morgen, Herr Schulz.
    Martin Schulz: Guten Morgen, Frau Kaess.
    Kaess: Was war Helmut Schmidt für Sie persönlich?
    Schulz: Wie für meine ganze Generation für mich persönlich ein großes Vorbild. Und Sie haben das gerade gesagt: Als Europäer war er nicht nur eine mahnende Stimme, sondern für ganz viele auch ein sehr kluger weitsichtiger Ratgeber, auch ein Mahner, der nicht locker ließ und immer und immer wieder auf Fehlentwicklungen hinwies, die ihn auch immer noch im hohen Alter ärgerten. Ich bin dankbar, dass ich Helmut Schmidt begegnen durfte und mit ihm viele Male habe reden können.
    "Schmidt wollte Europa stark machen"
    Kaess: Sein letztes Thema war ja die Rolle Deutschlands in Europa. Warum war ihm das so wichtig?
    Schulz: Die Bundesrepublik als der Staat, der aus den Trümmern, aus den physischen und moralischen Trümmern des Dritten Reiches hervorging, war ein Land, das sich entschieden hatte, dass deutsche Staatsräson die Einbindung Deutschlands in europäische Gemeinschaftsarbeit sein sollte, und das hatte einen ganz bestimmten historischen Aspekt, nämlich das war eine Antwort Deutschlands auf seine eigene Geschichte, nie wieder sich überlegen zu fühlen und nie wieder stark zu werden und aus dieser Stärke anderen seinen Willen aufzwingen zu wollen, sondern die eigene Stärke zu nutzen, um andere ebenfalls starkzumachen und dadurch als Gemeinschaft stark zu werden. Das war bis zuletzt und ganz stark nach der Wiederherstellung der Deutschen Einheit Schmidts Projekt, weil er ja immer wieder darauf hinwies, jetzt sind wir noch größer, jetzt sind wir noch stärker, und wir entgehen - so hat er ja gesagt - unserem Schicksal nicht als Deutsche, dass wir das Zentrum des europäischen Kontinents geografisch, wirtschaftlich und auch von der Bevölkerungsstärke her sind. Deshalb muss deutsche Staatsräson sein, Europa stark zu machen. Das ist eine Konsequenz aus unserer Geschichte. Für mich ist genau diese Sichtweise Helmut Schmidts der Leitfaden meiner ganzen Arbeit.
    "Wir müssen die EU besser machen"
    Kaess: Dann schauen wir auf Ihre Arbeit und auf die aktuellen Herausforderungen der Europäischen Union. Sie sind im Moment auf dem Migrationsgipfel der EU auf Malta. Wird die EU aber bald ein viel größeres Problem haben als die Flüchtlinge, nämlich wenn Großbritannien sich aus der EU verabschiedet, so wie der britische Premierminister Cameron das gestern angedroht hat?
    Schulz: Das wäre ganz sicher nicht schön, nicht gut, und wir sollten alles tun, um eine solche Entwicklung zu vermeiden. Ich glaube, dass die EU mit Großbritannien stärker ist, aber man muss den Briten auch sagen, ihr seid ohne die EU ebenfalls schwächer. Dass wir die EU besser machen müssen, dass wir sie reformieren müssen, dass wir Fehlentwicklungen korrigieren müssen, das hat nicht David Cameron erfunden, sondern daran arbeiten wir auch bereits: Jean-Claude Juncker mit seiner Kommission, das Europaparlament in ganz starker Weise. Aber es gibt ein paar Punkte, über die Großbritannien jetzt zusätzlich diskutieren will. Das sollten wir fairerweise machen, und zwar so, dass am Ende alle damit leben können.
    "Aufsicht über Banken muss diskutiert werden"
    Kaess: Und wie weit wollen Sie Großbritannien da entgegenkommen? Cameron sagt ja, ohne Reformen in der EU werden Großbritannien und die EU bald schon getrennte Wege gehen. Ist damit eine immer engere Union vom Tisch, denn das ist das, wogegen er sich ja stemmt?
    Schulz: Ja ich glaube, man muss die Rhetorik trennen von den tatsächlichen Inhalten. Ich habe die Rede gesehen, nicht vollständig aber Ausschnitte, habe aber auch den Brief sehr intensiv gelesen, den er geschrieben hat an Donald Tusk, den der dann sofort an uns weitergeleitet hat. Ich habe gestern auch mit Jean-Claude Juncker darüber gesprochen. Also ich sehe schon, dass es eine gewisse öffentliche Rhetorik gibt, aber es gibt in dem Brief nicht viel Neues, und das ist auch eines unserer Probleme. Man muss konkreter werden. Es gibt darin Vorschläge, die werden nicht gehen. Sie werden die Freizügigkeit für EU-Bürger nicht einschränken können. Sie würden sie damit übrigens auch massiv für Briten einschränken. Ich glaube nicht, dass die das wollen. Ich glaube, dass wir sicher darüber reden müssen, was Großbritannien damit meint, wenn es sagt, Aufsicht über Banken in der Eurozone, überhaupt Regulierung im Finanzsektor soll für die Eurozone bindend sein, aber nicht für Großbritannien. Es will aber zugleich vollständig und in keiner Weise behindertes Mitglied des Binnenmarktes sein. Der gilt aber auch für die Freizügigkeit von Kapital. Also da wird man im Detail nachhaken müssen. Sehen Sie, wenn Bankenaufsicht für Großbritannien nicht gilt, warum soll eine Bank, die in der Eurozone unter Aufsicht steht, noch da bleiben und nicht nach London ziehen. Das sind Dinge, die man sicher im Detail bereden muss.
    Kaess: Herr Schulz, dann schauen wir noch einmal auf diese Kernforderung, nämlich die harten Auflagen für EU-Bürger, die nach Großbritannien kommen. Da ist er ja sehr konkret geworden. Vier Jahre lang keine sozialen Leistungen, um weniger Einwanderung aus den EU-Staaten zu bekommen. Kann sich die EU darauf einlassen?
    Schulz: Das ist eben, Frau Kaess, nicht konkret. Ich teile da die Meinung nicht, dass er da konkret geworden ist. Sehen Sie, es ist ganz einfach: Wenn Großbritannien das, was wir in Deutschland Aufstocker nennen, aus seinem eigenen Haushalt bezahlt - konkretes Beispiel: Sie bekommen einen niedrigen Lohn, haben aber hohe Lebenshaltungskosten und können vom Sozialamt einen Zuschlag bekommen -, dann ist das nationales Recht. Wenn Großbritannien sagt, das zahlen wir nur für unsere Bürger, okay. Das ist dann britisches Recht nur für ihre Bürger. Das können sie machen. Wenn Sie aber jetzt vom Deutschlandfunk versetzt werden nach Großbritannien und arbeiten dort in einer Niederlassung Ihres Senders und zahlen ganz normal von Ihrem Gehalt Beiträge zur Arbeitslosen-, Krankenversicherung, zur Rentenversicherung und jetzt werden Sie krank, dann kann er hingehen und sagen, Sie kriegen erst in vier Jahren Krankengeld. Das heißt, man muss da im Detail einsteigen. Letzteres ist absolut unzulässig, das wird die EU nie akzeptieren. Das Erste ist Sache Großbritanniens.
    "Zusammenarbeit mit Diktatoren ist nicht möglich"
    Kaess: Wir werden sehen, wie es ausgeht. Und nicht nur in Großbritannien geht es um die Migration. Sie sind gerade selber beim Gipfel der EU mit den afrikanischen Staaten auf Malta. Und es gab schon Kritik daran, dass Gelder bereitgestellt werden für afrikanische Staaten, die Flüchtlinge zurückzunehmen. Ist die EU schon so unter Druck, dass man unter Umständen auch mit Diktatoren - Beispiel Eritrea - so zusammenarbeiten muss?
    Schulz: Ich glaube nicht, dass wir Menschen zurückschicken können - das geht ja gar nicht - in Diktaturen, wo sie an Leib und Leben bedroht werden. Die werden auch nicht zurückgeschickt. Das ist also eine falsche Ansage.
    Zweitens: Eines unserer größten Probleme war, dass wir über Jahre mit Diktatoren zusammengearbeitet haben. Ich nenne Ihnen mal einen: den Herrn Gaddafi. Und als der dann gestürzt wurde, war Europa schnell dabei, ihn zu stürzen, aber nicht schnell dabei - und wenn ich sage Europa, meine ich nicht uns im Parlament oder die Kommission, sondern einige der Mitgliedsstaaten -, schnell dabei, ihn zu beseitigen, was gut war, aber nicht, eine demokratische Regierung aufzubauen. Eines der Ergebnisse ist: Das Land ist im Chaos und ist ein Kanal, über den ganz, ganz viele Leute ihr Leben riskieren auf dem Mittelmeer. Also Zusammenarbeit mit Regierungen, die die Grundrechtestandards akzeptieren, ja. Zusammenarbeit mit Diktatoren, das ist schon allein von der Genfer Flüchtlingskonvention her gar nicht möglich.
    Kaess: Die Wahrnehmung von außen bleibt ja dennoch, dass künftig bei der Entwicklungszusammenarbeit es weniger um Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gehen wird als um Stabilität. Diese Verschiebung sehen Sie?
    Schulz: Nein, die sehe ich nicht. Das ist einer der wesentlichen Inhalte dieses Gipfels. Wir werden nicht mit Staaten nur zusammenarbeiten können, die rein unseren Demokratiekriterien entsprechen. Dann könnten wir die Zusammenarbeit mit China auch einstellen. Aber wir werden ganz sicher Rechtsstaatlichkeit, die Einhaltung von Grundrechten als ein Kriterium definieren müssen, von dem wir die Finanzierung der Entwicklungszusammenarbeit abhängig machen. Das ist übrigens auch ein Inhalt dieses Gipfels. Aber seien wir mal ganz ehrlich: Die überwiegende Mehrzahl afrikanischer Staaten ist noch auf dem Weg zu den Vorstellungen, die wir von Demokratie haben. Deshalb kann man aber nicht hingehen und sagen, wir arbeiten nicht mit ihnen zusammen. Im Gegenteil: Man muss das entwickeln und Druck ausüben. Man muss auch Zusammenhänge herstellen. Da gebe ich Ihnen in Ihrer Frage recht. Wir können nicht jedem nur weil er ein Staatsoberhaupt sagen, jetzt kriegst Du Geld. Man muss schon auch Kriterien definieren und da gehört übrigens auch der Kampf gegen die Korruption ganz stark dazu.
    Kaess: Und in diese weicheren Standards, nenne ich sie jetzt mal, in dieses Raster fällt auch der Umgang mit der Türkei? Der EU-Fortschrittsbericht, der hat ja Unzulänglichkeiten bei der Achtung von Menschenrechten und demokratischen Standards gezeigt. Aber die Türkei kommt ja diesen Vorgaben kaum nach. Und was hat der Bericht eigentlich überhaupt noch für eine Bedeutung, denn die EU will die Türkei ja dennoch unterstützen und ihr entgegenkommen, zum Beispiel bei der Visafreiheit, wenn die Türkei syrische Flüchtlinge im Land behält?
    Schulz: Die Fortschrittsberichte sind ein Teil des Prozesses bei den Beitrittsstaaten. Da wird jährlich überprüft, wieweit sind die eigentlich bei der Erfüllung der Kriterien, die sie erfüllen müssen, wenn sie beitreten wollen. Das ist der Sinn dieses Berichts. Deshalb wird er, solange die Beitrittsverhandlungen laufen, in jedem Jahr veröffentlicht. Ich habe auch in jedem Jahr immer die gleiche Reaktion gesehen in der Türkei: Es wird immer zurückgewiesen, was an Kritiken drinsteht. Da darf man sich auch nicht besonders von beeindrucken lassen.
    Kaess: Aber jetzt ist es dringender wegen der syrischen Flüchtlinge.
    Schulz: Wiederholen Sie Ihre Frage noch mal?
    Kaess: Ich sage, jetzt ist es dringender vor dem Hintergrund der Flüchtlingskrise.
    Schulz: Unser Problem ist ja, dass syrische Flüchtlinge in der Türkei sicher sind. Das ist ohne Frage der Fall. Ich habe mir das selbst anschauen können. Die Türkei betreut die Flüchtlinge aus Syrien in einer Art und Weise in den Lagern, die die da finanzieren und betreiben. Ich würde mir wünschen, alle EU-Staaten würden die Menschen so betreuen. Das ist nicht unser Problem. Unser Problem ist die innerstaatliche Situation in der Türkei im Verhältnis zu eigenen türkischen Bürgern, nämlich zu den Kurden, und darüber werden wir mit denen diskutieren müssen. Ich weiß, dass das schwer ist, auseinanderzuhalten, aber syrische Flüchtlinge sind in der Türkei nicht bedroht.
    Kaess: ... sagt Martin Schulz von der SPD, Präsident des Europäischen Parlaments. Danke für das Gespräch heute Morgen.
    Schulz: Ich danke Ihnen, Frau Kaess.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.