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Masha Gessen
"Die Zukunft ist Geschichte"

Es gelingt wenigen Autoren, die volle geschichtliche Dimension Russlands in den Blick zu nehmen. Die russisch-US-amerikanische Journalistin Masha Gessen hat sich genau das mit ihrem Buch zum Ziel gesetzt - und erhält dafür den Leipziger Buchpreis zur europäischen Verständigung.

18.02.2019
    links das Buchcover "Die Zukunft ist Geschichte", rechts ein Porträt-Foto der Autorin Masha Gessen.
    Der Autorin gelingen überzeugende Portraits der Generation "Jelzin/Putin" (Buchcover: Suhrkamp Verlag, Porträt der Autorin: Stadt Leipzig/Tanya Sazansky)
    Russland - ein Land, das zu faszinieren, das zu erschrecken vermag, das angeblich
    "mit dem Verstand nicht zu messen ist."
    Wie schon im 19. Jahrhundert der Dichter Fjodor Tjutschew formulierte. - Mehr als 140 Millionen Menschen, verteilt über eine kontinentgroße Fläche, leben dort. Doch ihren Nachbarn geben Russen nicht selten Rätsel auf. Wie denken sie wirklich? Was fühlen sie? Was erwarten oder erhoffen sie von ihrem Staat? Wie sehen sie das Ausland? Um dies zu beantworten, konzentriert sich die russisch- US-amerikanische Journalistin Masha Gessen fast ausschließlich auf vier junge Russen, zwei Männer und zwei Frauen, alle Mitte der 1980er Jahre geboren. Deren unterschiedlichen Lebensgeschichten spürt sie nach, um am Ende für die Gegenwart zu einer sie alle verbindenden, wenig tröstlichen Erkenntnis zu gelangen, die auch den Titel ihres Buchs bestimmt:
    "Die Zukunft ist Geschichte. Wie Russland die Freiheit gewann und verlor."
    Exemplarische Portraits einer Generation
    So lautet das bündige Kondensat von weit mehr als 600 Seiten, die aber nie langweilen oder zum Überblättern reizen. Anfängliche Bedenken, ob der schmale Personalbestand von vier Haupt-Protagonisten ausreichen kann, das komplexe Thema "russische Befindlichkeiten" ausreichend genug abzuhandeln, verfliegen umgehend. Gessen gelingen exemplarisch überzeugende Portraits jener Generation "Jelzin/Putin", wie sie ebenso unterschiedlich wie widersprüchlich durch die vergangenen drei Jahrzehnte der jüngsten russischen Zeitgeschichte mäandern.
    Groteske Szenen und absurde Episoden sorgen - auch dank Anselm Bühlings schlanker, exakter Übersetzung - mühelos für den erzählerisch bündigen Spannungsbogen. Aufschlussreiche Einblicke in den Politik-, Medien- oder Universitätsbetrieb werden ebenso eingeordnet wie wellenartiges Aufbegehren gegen staatliche Gängelung samt anschließenden, zähneknirschend hingenommenen Demütigungen. Gefühle wachsender Ohnmacht, wechseln bei den Protagonisten ab mit Anfällen wütender Resignation. Dafür sorgt auch das allgegenwärtige kremlgesteuerte Fernsehen mit Moderatoren wie Dmitrij Kiseljov, die für das erwünschte gesellschaftliche Bewußtsein unermüdlich ein "von oben" vorgegebenes Leitmotiv intonieren - so wie hier bei seiner Tirade gegen Russlands Homosexuelle:
    "Ich meine: Schwule nur zu bestrafen, wenn sie unter Minderjährigen Propaganda für Homosexualität betreiben, reicht nicht! Ihnen muss verboten werden, Blut oder Sperma zu spenden! Wenn die bei einem Autounfall ums Leben kommen, sollte man ihre Herzen in der Erde verscharren oder verbrennen: als nicht geeignet, das Leben eines anderen Menschen zu verlängern!"
    Erinnerungsdefizite zu Sowjetzeiten
    Einer der vier Helden Gessens hat derlei ungezügelten Schwulenhass in Russland am eigenen Leib verspürt: Ljoscha, ein vielversprechender junger Geisteswissenschaftler aus der westsibirischen Provinz wird immer wieder gemobbt und bedroht. Er sieht sich gezwungen Russland zu verlassen. 2017 erhält er Asyl in den USA. Doch auch dort holt Russland ihn ein:
    "Er wohnt immer noch in Brighton Beach. Die russische Enklave gehörte zu den wenigen Vierteln in New York City, die bei den Präsidentschaftswahlen 2016 mehrheitlich für Donald Trump gestimmt hatten. Ljoscha musste sich oft ungläubige Fragen von amerikanischen Freunden anhören: Wie konnte es sein, dass Menschen, die vor der Sowjetunion und vor Putin geflohen waren, so jemanden wählten? Doch die Leute, die hier lebten, waren eben nicht vor dem Totalitarismus geflohen. Die meisten von ihnen waren gekommen, als das sowjetische Imperium zu zerfallen begann. Wenn es etwas gab, das sie vertrieben hatte, dann die Angst vor dem Zerfall der Sowjetunion. Sie sehnten sich danach, in ihre imaginäre Vergangenheit zurückzukehren. Wären sie in Russland geblieben, hätten sie für Putin gestimmt. In den USA wurden sie zu Trump-Wählern."
    Eine kühne argumentative Volte. Doch: Ljoschas Beobachtung lässt sich im Kontext von Gessens Analyse zum Verhältnis vieler Russen zu ihrer eigenen Geschichte durchaus nachvollziehen. Sie erinnert an die politisch angeordneten Erinnerungsdefizite zu Sowjetzeiten, an das Leugnen, Vertuschen und Verschweigen eigener Verbrechen. Und: Sie weist daraufhin, dass schließlich nur der heute bei vielen Russen verhasste Präsident Boris Jelzin ein einziges Mal historische Schuld aus jener Zeit offiziell anerkannt hat: 1998 in St. Petersburg anlässlich der Umbettung der von Lenins Bolschewiki 1918 erschossenen Zarenfamilie. Dieser Mord sei das Ergebnis einer unversöhnlichen Spaltung der russischen Gesellschaft gewesen - in so genannte "Unsere" und in "Fremde". Die Folgen jedoch, so Jelzin, wirkten bis in die Gegenwart.
    Worte aus einer anderen Zeit in Russland. Zum heutigen offiziellen Kanon historischer Reflexion gehören sie nicht. Ein Erbe, das allerdings noch anzutreten sein wird.
    Portrait einer geteilten Nation
    Gessens psychologisch und historisch unterfütterte Einsichten unter Verzicht auf polarisierende Schwarz-Weiß-Malerei gehören zu den spannendsten Passagen dieses Buchs. Ihre dem unumstrittenen Moskauer Soziologen Lew Gudkow verpflichtete Arbeitsweise verschont das putin-kritische Lager keineswegs. Natürlich nimmt sie auch die politischen Gegenspieler ins Visier - zum Beispiel den sogenannten "Eurasier" Alexander Dugin, einen nationalistischen Scharfmacher und angeblichen "Putin-Flüsterer" - hier vor einiger Zeit bei einer offiziellen Kundgebung vor kremltreuen Demonstranten in Moskau:
    "Teure russische Menschen! Heute bemüht sich das globale amerikanische Imperium seine Kontrolle über alle Länder der Welt zu errichten. [...] Wir, Russland, sind das letzte Bollwerk auf ihrem Weg, ein globales Imperium des Bösen zu errichten. Deswegen setzen seine Agenten bei uns im Inland, die radikale, demonstrierende Opposition und seine Einfluss-Agenten im Inneren unserer Macht alles daran, Russland zu schwächen. [...] Wir müssen uns daran erinnern, dass wir Russen sind, dass wir tausend Jahre lang die Freiheit und Unabhängigkeit unseres Landes kämpfend verteidigt und dabei Meere unseres wie fremden Blutes für das große Russland vergossen haben. Russland wird entweder groß sein! Oder es wird gar nicht sein! Russland ist alles! Alles Übrige ist nichts! Ruhm für Russland!"
    Er gilt als Chefideologe der "Eurasischen Bewegung": Alexander Dugin während einer Demonstration in Moskau im Juni 2014
    Er gilt als Chefideologe der "Eurasischen Bewegung": Alexander Dugin während einer Demonstration in Moskau im Juni 2014 ( dpa / ITAR-TASS / Zurab Dzhavakhadze)
    Gessens Fazit:
    "Ein uralter Dreh: Wer die Leute in einem andauernden Zustand unterschwelliger Furcht hält, nimmt ihnen das Gefühl, dass sie noch irgendetwas beeinflussen könnten, und kann sie damit leichter unter Kontrolle halten."
    "Eine geteilte Nation" und "Krieg ohne Ende" - so lauten denn auch die düsteren Überschriften zu Masha Gessens letzten beiden Kapiteln. Ungeachtet einiger weniger verschmerzbarer Redundanzen wird auf ihr Buch für lange Zeit zurückgreifen müssen, wer mehr als nur oberflächlich verstehen möchte, wie heute viele Menschen in Russland sich selbst sehen, warum das so ist - aber auch, wie sie gesehen werden wollen. Und: Was all das für uns bedeutet.
    Masha Gessen: "Die Zukunft ist Geschichte. Wie Russland die Freiheit gewann und verlor",
    Suhrkamp Verlag, 639 Seiten, 26,00 Euro.