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Matt Ruff: "Lovecraft Country"
Übernatürliches Grauen und rassistischer Horror

In den USA der 1950er-Jahre gerät eine afro-amerikanische Familie zwischen die Fronten rivalisierender Hexenkulte. "Lovecraft Country" thematisiert den Überlebenskampf, bei dem schon bald nicht mehr klar ist, ob nicht die Realität der schlimmste Alptraum ist.

Von Thorsten Krämer | 03.07.2018
    Buchcover: Matt Ruff: "Lovecraft Country"
    Buchcover: Matt Ruff: "Lovecraft Country" (Buchcover: Carl Hanser Verlag, Foto: AP)
    Der amerikanische Schriftsteller Howard Phillips Lovecraft war nach allem, was man heute über ihn weiß, wohl kein sehr angenehmer Zeitgenosse. Er verabscheute die Gesellschaft anderer Menschen, korrespondierte lediglich mit einigen wenigen Auserwählten, die er auf einer geistigen Stufe mit sich sah, und schrieb zur Entspannung rassistische Spottgedichte.
    Seine ernsthafteren literarischen Bemühungen führten ihn zur Erschaffung einer eigenen Fantasiewelt, in der die Menschheit den Launen fremdartiger, übermächtiger Wesen aus dem All hilflos ausgeliefert ist: Allein der bloße Anblick dieser abscheulichen Kreaturen führt in den Wahnsinn. Dank der Erzählungen aus diesem mitunter recht verschwurbelten Kosmos gilt Lovecraft heute als einer der Erfinder der modernen Horrorliteratur.
    Vor diesem Hintergrund versteht man den Titel des neuen Romans von Kultautor Matt Ruff, einem bewährten Grenzgänger zwischen den Genres. "Lovecraft Country" muss ein Land sein, das von Rassismus, Aberglaube und anderen Wahnvorstellungen tief geprägt ist. Kurzum: Ein Land wie die USA der 1950er-Jahre. Es ist das Jahrzehnt vor Martin Luther Kings berühmter "I have a dream"-Rede und eine Zeit des täglichen Spießrutenlaufs für Afroamerikaner. Schon ein improvisiertes Frühstück an einer Tankstelle kann für Ärger sorgen, wie der junge Schwarze Atticus Turner feststellen muss, eine der Hauptfiguren des Buches.

    "Er stand neben dem Packard und wischte sich den Schlaf aus den Augen, als er Gelächter von den Zapfsäulen her hörte. Ein LKW-Fahrer und ein Typ von der Tankstelle grinsten ihn an und stießen einander die Ellenbogen in die Rippen. Atticus schaute auf die halbaufgegessene Banane in seiner Hand und spürte, wie ihm die Hitze ins Gesicht stieg. Zum ungefähr millionsten Mal in seinem Leben fragte er sich, ob es irgendeine Möglichkeit gab, wie er das ignorieren und einfach seiner Wege gehen konnte, und fand, dass die geringfügigeren Kränkungen am schwersten hinzunehmen waren. Dann begann der Typ von der Tankstelle, sich auf die Brust zu trommeln und wie ein Affe zu kreischen, und Atticus warf die Banane weg und ballte die Fäuste."
    Die Söhne Adams
    Zusammen mit seinem Onkel George arbeitet Atticus an der Neuausgabe eines Reiseführers für Schwarze, der für diese sichere Restaurants und Hotels auflistet und seine afroamerikanischen Leserinnen und Leser vor den schlimmsten No-Go-Areas warnt. Als Atticus' Vater eines Tages verschwindet, führt die Spur in ein abgelegenes Örtchen, in dem allerdings noch ganz andere Gefahren lauern.

    Anhänger eines magischen Geheimkultes, die sich selbst als "Söhne Adams" bezeichnen, lassen die Groschenromane, für die sich die ganze Familie von Atticus begeistert, gefährliche Realität werden. Auf geschickte Art überblendet Matt Ruff hier sozialrealistische Schilderungen des US-Rassismus in den 50er-Jahren mit der Genreprosa der Horrorliteratur. Die Ironie dabei: Die durchgehend weißen Kultisten brauchen ausgerechnet Atticus, um einen verstorbenen, äußerst mächtigen Großmeister ihrer Loge wieder zum Leben zu erwecken. Und so steht der junge Schwarze plötzlich im Mittelpunkt eines magischen Rituals.
    "Auf der Ostseite des Raums war ein freistehendes Portal errichtet worden. In das Gebälk des Rahmens waren Buchstaben eines seltsamen Alphabets geschnitzt, die, so nahm Atticus an, wirkmächtige Wörter bildeten.
    Mit weißem Kalk voll silberner Einsprengsel war am Fußboden ein Kreis um das Tor herum gezogen worden. Von einer Lücke im westlichen Bogen des Kreises gingen zwei parallele Linien aus, die eine fußbreite Spur zu einem zweiten Kreis ganz am Ende des Raumes bildeten. Dieser Kreis enthielt einen merkwürdigen Gegenstand: einen hüfthohen, silbernen zylindrischen Sockel, gekrönt von einem Brocken aus klarem Kristall."
    Dieser erste Kontakt mit den "Söhnen Adams" ist nur der Auftakt zu einer Serie von Abenteuern, in denen Atticus und seine Familie mit diversen übernatürlichen Phänomenen konfrontiert werden. Vom Spukhaus über magische Folianten bis hin zum Körpertauschzauber: Der Autor bedient sich großzügig aus dem Repertoire des Horror-Genres. Alle fantastischen Elemente akzentuieren jedoch stets den sozialkritischen Grundton des Romans. Besonders augenfällig wird dies in einer Episode, in der Ruby, einer Freundin der Familie, ein Zaubertrank zugespielt wird. Dieser verwandelt sie für kurze Zeit in eine Weiße. Für Ruby tut sich plötzlich eine ganz andere Welt auf, sie kann sich frei bewegen, wird respektvoll behandelt und ernst genommen. Aber dann stößt sie an einer Straßenecke mit einem angetrunkenen Polizisten zusammen, und erst der Verlauf dieser Begegnung zeigt ihr das wahre Maß an Macht, die sie als Weiße im rassistischen Amerika über Schwarze hat.
    Das Leben einer Privilegierten
    "'Ist alles in Ordnung, Miss? Werden Sie belästigt?'
    Er sah an ihr vorbei, kniff blutunterlaufene Augen zusammen.
    'Waren es die da?'
    Etwas im Ton, wie er 'die da' sagte, veranlasste Ruby, sich umzudrehen. An der Ecke standen vier halbwüchsige Schwarze und warteten auf Grün. Warteten einfach.
    'Waren es die da?', wiederholte der Polizist. 'Haben sie was zu Ihnen gesagt? Irgendwas getan?'
    Ruby wurde wieder ganz flau im Magen, und sie dachte: Ich könnte ihm alles und jedes erzählen, und er würde mir glauben. Wenn ich wollte, könnte ich die Jungs umbringen lassen. Ich könnte."

    Spätestens an dieser Stelle wird klar, dass die 1950er-Jahre noch nicht sehr weit zurückliegen. Die aktuelle Protestbewegung "Black Lives Matter" ist der sichtbare Ausdruck dafür, wie tief die Wurzeln des Rassismus in den USA reichen. Als weiteres Beispiel mag der überraschende Erfolg des Filmes "Get Out" gelten, bei dem ein junger Afroamerikaner in die Fänge weißer Suprematisten gerät, die einen Weg gefunden haben, Schwarze zu willenlosen Sklaven zu machen. Offenbar eignet sich gerade das Horrorgenre ausgezeichnet, um Geschichten über den alltäglichen Rassismus zu erzählen.
    Auch "Lovecraft Country" soll übrigens verfilmt werden, als Serie. Tatsächlich ist der Roman auch schon in dieser Form angelegt, jede Episode stellt ein anderes Mitglied der Familie von Atticus in den Mittelpunkt, während im Hintergrund der Kampf zwischen rivalisierenden Fraktionen des geheimen Kultes weiterläuft. Diese TV-Kompatibilität stellt freilich auch das größte Manko des Romans dar: Man ahnt, dass den Helden nichts wirklich Schlimmes passieren wird, und so gerät der Ton des Buches mitunter, allem Spuk zum Trotz, etwas zu leichtfüßig. Das Paradox der unterhaltsamen Sozialkritik ist offenbar kaum lösbar angesichts des ganz realen Horrors des Rassismus, sei er historisch oder aktuell.
    Matt Ruff: "Lovecraft Country"
    aus dem Englischen von Anna Leube und Wolf Heinrich Leube
    Carl Hanser Verlag, München. 432 Seiten, 24 Euro.