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Max Annas: "Morduntersuchungskommission"
Der Tote am Bahndamm

Welche Rolle spielten Neonazis in der DDR? Offiziell keine. Inoffiziell gab es auch im Honecker-Staat gewaltbereite Rechtsradikale. Max Annas erzählt von diesem dunklen DDR-Kapitel. Am Anfang steht der Mord an einem afrikanischen Vertragsarbeiter – der auf einem realen Fall basiert.

Von Ulrich Noller | 09.08.2019
Buchcover: Max Annas: „Morduntersuchungskommission“
Ein realer, ungeklärter Mordfall aus dem Jahr 1986 in der DDR liegt dem neuen Krimi von Max Annas zugrunde (Foto: imago stock&people, Buchcover: Rowohlt Verlag)
Gera, im Jahr 1983; vom Ende der DDR ist noch nichts zu ahnen. Der Polizist Otto Castorp, Anfang, Mitte 30, zweifacher Familienvater, arbeitet bei der Morduntersuchungskommission MUK. Kein sonderlich aufregender Job in der "sicheren" DDR mit ihren so überschaubaren wie überwachten Verhältnissen. Das ändert sich allerdings am 10. Oktober des Jahres. Der Montag, an dem die Geschichte des Romans von Max Annas nach etwas atmosphärischem Vorgeplänkel so richtig beginnt.
"Als Otto Kahla hinter sich gelassen hatte, sah er schon die drei anderen Wagen in einer langgezogenen Kurve am Straßenrand. Er erkannte Rolfs und Konnies Autos hinter und vor dem Wartburg der MUK. Die Kollegen selbst sah er nicht.

Die Gleise von Jena nach Rudolstadt verliefen parallel zur Straße. Als er sich vergewissert hatte, dass kein Zug in der Nähe war, stieg er hinüber und sah unter sich auf der abfallenden Wiese die Kollegen im Halbkreis. Keiner von ihnen sagte ein Wort, als er sich dazustellte."
Zu gebannt – oder besser gesagt: schockiert – sind die Ermittler von dem üblen Anblick, der sich ihnen am Gleisbett bietet. Im wuchernden Gras liegt ein Toter, der so übel zugerichtet ist, dass direkt klar wird: Hier muss jemand in blinder Raserei gewütet haben. Und der Tote, das zeigt sich erst auf den zweiten Blick – ist nicht einfach nur irgendein Toter.
Ein verstörendes Verbrechen
"Rolf war es, der das Schweigen brach. Zuerst hustete er, dann atmete er durch. ‚Braunkohle‘, sagte er. Heinz schaute auf, Missbilligung in den Augen.
Rolf spürte das. 'Das würde mein Ältester sagen‘, setzte er nach.
Otto sah genau hin. Was aus dem Kragen der Jacke herausschaute, war blutig. Aber er hatte nur das Blut und nicht die dunkle Haut des Toten wahrgenommen. Der Hals war der eines schwarzen Mannes. Jetzt erst, wo er das wusste, konnte er Haut und Blut voneinander unterscheiden.
'Einer von den Afrikanern‘, sagte Heinz."
Vier Kriminalromane hat der frühere Journalist und Sachbuchautor Max Annas, geboren 1963, seit dem Jahr 2014 veröffentlich – für drei dieser Romane wurde er mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet. Zwei seiner Romane sind in Südafrika angesiedelt, zwei in Berlin – aber alle vier beschäftigten sich mit dem Rassismus gegenüber Schwarzen. Eine thematische Kontinuität also, der nun auch der neue Roman folgt. Der Geschichte von "Morduntersuchungskommission" liegt ein wahrer Fall zu Grunde, den Max Annas fiktional aufarbeitet: Der bis heute nicht restlos aufgeklärte Mord an dem mosambikanischen Vertragsarbeiter Antiono Manuel Diogo, der am 30. Juni 1984 in einem Zug zwischen Berlin und Dessau getötet wurde.
"'Er ist aus dem Zug geworfen worden‘, sagte Konnie.
'Das ist eine Erklärung.‘ Günter sah kurz hoch. 'Eine gute Erklärung. Dann nämlich hat er die nötige Dynamik in der Bewegung, die Fallhöhe, das eigene Gewicht. Und dann passt das mit dem Auffindungsort. Also ja … das ist auch mein Eindruck. Er ist aus dem Zug geworfen worden.‘
Jetzt schaute Günter auf.
'So was macht doch in der DDR keiner‘, sagte Rolf."
Wer tötet so brutal in der sonst so sicheren DDR?
Wer also macht so etwas in der sonst so sicheren, dicht überwachten DDR – ohne dass die Behörden etwas mitbekommen? Ein ungeheuerliches, ein eigentlich undenkbares Geschehen. Bei ihren Recherchen stoßen Otto Castorp und seine Kollegen auf immense Schwierigkeiten: Obwohl offensichtlich ist, dass der Tote aus dem Zug gestoßen wurde – so ist damit natürlich noch lange nicht klar, wie und wo er zu Tode kam. Und: Seine Identität ist unbekannt; die Polizei muss also erst einmal herausfinden, wer der Tote war, um seine letzten Stunden rekonstruieren zu können. Keine leichte Aufgabe, die Annas´ Mordkommissionsermittler quer durch die DDR-Gesellschaft in den achtziger Jahren führt – und insbesondere auch dorthin, wo sich die grundsätzlich von der Bevölkerung abgeschirmten "Afrikaner" finden. Also Vertragsarbeiter, die damals aus Angola, Mosambik, Algerien in die DDR kamen.
"Gibt es da auch mal Ärger, wenn die Afrikaner mit den Frauen tanzen wollen?‘ Otto fragte das fast ohne Betonung, als sei es eigentlich gar nicht so wichtig.
'Da muss man schon aufpassen, dass die denen nicht zu nahe kommen.‘ Der Harte sah zum Mann hinter der Theke. 'Ist doch wahr.‘
'Und an dem Abend haben die euch verkloppt.‘ Otto blickte zwischen dem Wirt und dem Harten hin und her.
Der Wirt schaute erstaunt auf.
Der Harte schüttelte den Kopf. 'Da kennst du uns aber schlecht‘, sagte er. 'Wir haben denen eine Lektion verpasst. Die mischen sich da nicht so schnell nochmal ein. Das ist unser Land.‘"
Die abgeschirmten Afrikaner gehörten sozial nicht dazu
Max Annas leuchtet die Zeitgeschichte der DDR – mit Blick insbesondere auf die Migration – nüchtern und exakt aus; zugleich liegen die aktuellen, fremdenfeindlichen Bezüge von "Morduntersuchungskommission" auf der Hand. Allerdings hat eine Kneipenschlägerei unter Männern, die sich letztlich gar nicht so schlecht miteinander verstehen, eine ganz andere Dimension als solch ein grausiger Mord wie der mit dem unbekannten Toten vom Bahndamm. Die Ermittlungen gehen weiter – jedoch nur bis zu einem bestimmten Punkt.
"Keine Minute später kam Heinz in den Versammlungsraum. Er schaute kurz in die Runde und setzte sich dann auf den freien Stuhl am Kopfende. Zündete sich erneut eine Zigarette an. Hielt den Rauch ein, entließ ihn, atmete ein. 'Der Fall ist für uns zu Ende‘, sagte er.
'Und wer übernimmt?‘
Heinz schüttelte den Kopf. 'Niemand übernimmt.‘
'Hat sich jemand gestellt?‘, fragte Otto.
'Du weißt sehr gut, dass das nicht der Fall ist.‘
'Sondern?‘
'Wir stellen die Arbeit ein.‘
'Und niemand übernimmt?‘
Heinz fixierte Otto. 'Ich habe in Übereinstimmung mit den Genossen vom Ministerium für Staatssicherheit beschlossen, dass der Fall nicht weiter verfolgt wird.‘"
Menschen, die Jagd auf Ausländer machen, vielleicht sogar Neonazis - in der DDR undenkbar. Die Akten werden geschlossen, offiziell hat das Opfer Selbstmord begangen. Aber ein Krimi ist ein Krimi. Und so ist auch diesmal bei Max Annas ein Schnüffler dabei, den die Anweisungen von oben nicht scheren – und der in diesem Fall auf eigene Faust weiter ermittelt.
Annas' Schnüffler ermittelt auf eigene Faust weiter
"‚Es war 20.45 Uhr. Der Zug wurde angekündigt und fuhr gleichzeitig langsam ein.
Otto holte einen Zettel aus der Jackentausche, dazu einen Kugelschreiber, und notierte zu allen Personen, die er gerade gesehen hatte, ein paar Worte. Vor ihm stieg der Schaffner des Zuges aus der Tür und zündete sich eine Zigarette an. Es war 20.50 Uhr.
Als er die Kippe auf die Gleise warf, kam noch eine Gruppe von Männern in Ottos Alter mit schnellen Schritten die Treppe hoch. Er zählte sechs. Ein siebter hatte Mühe zu folgen. ‚Komm schon‘, rief einer von der obersten Stufe, während ein anderer in der Zugtür wartete. Der Alkohol, den die Männer ausdünsteten, war auf dem ganzen Bahnsteig zu riechen. Der Schaffner stieg als Letzter ein.
Pünktlich um 20.53 Uhr fuhr der Zug los."
"Morduntersuchungskommission" ist ein straff inszenierter Kriminalroman, der auf Konzentration und Reduktion setzt, was hervorragend gelingt, fast könnte man von einem Dogma-Krimi sprechen. Ein nüchterner, dokumentarischer Genreroman also, der auf jeden Firlefanz und billigen Effekt verzichtet. Trotzdem baut sich eine immer stärker verdichtete Atmosphäre von Bedrohung auf, an deren Ende nur eine Explosion stehen kann. Oder ein Systemwechsel. Spoilern unerwünscht, es verbietet sich natürlich, den Schluss dieses tollen Krimis preiszugeben. Aber so viel kann man verraten: Der finale Knall ist spektakulär, und er wirft im allerletzten Moment unerwartet nochmal ein ganz anderes Licht auf die Geschichte. Höchst spannend ist damit nicht bloß dieser erste Fall für den DDR-Kripoermittler Otto Castorp – sondern auch die Frage, wie die neue Reihe von Max Annas für ihn wohl demnächst weiter gehen wird.

Max Annas: "Morduntersuchungskommission"
Rowohlt Verlag, Hamburg. 345 Seiten, 20 Euro