Mittwoch, 24. April 2024

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Medien und Demokratie
"Im digitalen Zeitalter gibt es keine Idylle mehr"

"Wir sind im Übergang von der Mediendemokratie alten Typs zur Empörungsdemokratie des digitalen Zeitalters", sagte der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen im Dlf. Das Publikum habe eine neue Medienmacht: Medienmündigkeit vermisse er allerdings.

Bernhard Pörksen im Gespräch Britta Fecke | 18.02.2018
    Mann mit Sprechblasen zwischen Daumen hoch und Daumen runter
    In der gegenwärtigen Medienrevolution stecke ein großer, noch unverstandener, gesellschaftspolitisch noch nicht entzifferter Bildungsauftrag, sagte der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen im Dlf (imago )
    Britta Fecke: Er ist ein "Influencer", hörte ich vor zwei Tagen in einem Radiosender, der vermehrt jugendliche Hörer erreicht. Mich ließ der Satz stutzen: Wie kann jemand ein Influenza-Virus ein Grippeerreger sein? Dass von Keimen und Bazillen kurz nach Karneval die Rede ist, schien mir normal, aber die Grammatik fragwürdig. Die Aufklärung ergab sich im Laufe der Sendung: Influenza ist in dem Kontext keineswegs die grassierende Grippe-Epidemie, sondern ein zumeist junger Mensch, der durch seine starke Präsenz in den sozialen Netzwerken Einfluss nehmen kann: ein Influencer. Das englische Wort wird auch anders geschrieben als die Grippe, klingt im Radio aber gleich. Dieser Influencer ist vor allem für die Werbung interessant, denn über ihn erreichen Marketingstrategen eine große Gruppe potentieller Käufer. So ein Beeinflusser kann aber auch zur politischen Meinungsbildung beitragen. Mit welchen Auswirkungen?
    Darüber möchte ich mit Professor Bernhard Pörksen von der Fakultät für Medienwissenschaften an der Universität Tübingen sprechen. Sein Buch: "Die Große Gereiztheit - Wege aus der kollektiven Erregung" erscheint morgen.
    Herr Pörksen, zeigt die Macht dieser Influencer, dass sich die Informationsgesellschaft neu organisiert?
    Bernhard Pörksen, Professor für Medienwissenschaft
    Bernhard Pörksen, Professor für Medienwissenschaft (picture alliance / ZB - Karlheinz Schindler)
    Bernhard Pörksen: Ja, tatsächlich kann man das daran erkennen. Influencer sind so etwas wie Stichwortgeber der digitalen Öffentlichkeit, und mal machen sie Werbung für Gartenmöbel, mal für italienische Modeschule oder mal erfinden sie ihre eigenen Nachrichtensendungen, die sie dann auf YouTube unterbringen. Und sie zeigen etwas, eine zentrale Verschiebung, eine zentrale Veränderung. Die Macht, die Deutungsautorität des klassischen Journalismus, der klassischen Gatekeeper schwindet. Jeder ist heute zum Sender geworden, jeder kann sich zuschalten und seine eigenen Ideen, seine eigenen Themen oder auch seine eigenen Produkte setzen - mal mit guten und mal mit schlechten Absichten.
    Fecke: Sie sprechen von Gatekeepern. Welche Tore werden denn da bewacht?
    Pörksen: Nun, das klassische Modell von Öffentlichkeit, das Modell der Mediendemokratie, wie ich versuche zu zeigen, das Modell der Mediendemokratie sieht vor: Es gibt mächtige publizistische Machtzentren mit einer institutionellen Adresse. Man weiß, wo man sich melden muss. Und diese Gatekeeper in Gestalt von Journalistinnen und Journalisten entscheiden an der Pforte zur öffentlichen Welt und damit zur öffentlichen Wahrnehmung, was wird sichtbar gemacht, was kann als relevant, was kann als interessant gelten und was eben nicht. Und diese Gatekeeper lassen sich heute umgehen. Das ist ein zentraler Prozess. Medienwissenschaftler sprechen in diesem Zusammenhang - ein besonders scheußliches Wort - von Disintermediation. Die Vermittler, die zentralen Vermittler lassen sich umgehen. Jeder vermag, seine Themenidee in die Öffentlichkeit einzuspeisen.
    "Eine Öffnung des kommunikativen Raums"
    Fecke: Aber das kann man doch auch als Chance sehen, dass Frau Jedermann die Themen, die sie bewegt, einer Öffentlichkeit präsentieren kann und eben nicht an einer Instanz vorbeigehen muss.
    Pörksen: Unbedingt! Das ist eigentlich eine grandios gute Nachricht, eine Öffnung des kommunikativen Raumes, ein Zugewinn an Freiheit, der aber eigentlich - und das versuche ich zu zeigen und deutlich zu machen - auch mit einem Zugewinn an publizistischer Verantwortung einhergehen müsste, und das sehe ich im Moment nicht. Ich denke, wir sind im Übergang, im Übergang von der Mediendemokratie alten Typs zur Empörungsdemokratie des digitalen Zeitalters, in dem das Publikum eine neue Medienmacht bekommen hat im Verbund mit Plattformen und Netzwerken.
    Fecke: Sie haben in Ihrem Buch den Satz geprägt, es ist eine Zeit der Empörungskybernetik, also eine Zeit, in der sich die Impulse gegenseitig befeuern.
    Pörksen: Absolut! Wir haben ja noch mal an die alte Zeit der Massenmedien erinnert, die Idee eines klassischen Leitmediums, des mächtigen Senders, der mächtigen Zeitung, die nun regiert, worüber die Republik spricht, was auf die Agenda gesetzt wird. Und ich behaupte, im digitalen Zeitalter wird das klassische Leitmedium abgelöst durch ein Wirkungsnetz. Alte und neue Medien, soziale und journalistische Medien treten gewissermaßen im Verbund in Erscheinung. Und wenn Sie Erregungsdynamik studieren, Erregungsdynamik ganz gleich, ob es um Missbrauch, ob es um Hate Speech, ob es um eine rassistische oder irgendwie kritikwürdige Äußerung geht, wenn Sie Erregungsdynamik studieren, dann sehen Sie: Es wird immer dann bedeutsam, es wird immer dann mächtig, wenn dieses Zusammenspiel in einem Wirkungsnetz zustande kommt. Alte und neue Medien, diese Trennung wird zunehmend obsolet.
    "Eine eigene Emotions- und Erregungsindustrie entsteht"
    Fecke: Aber wenn Sie jetzt diese Anlehnung an die Naturwissenschaft nehmen - Sie sind ja auch Biologe, Sie sprechen von Erregungskybernetik -, Sie wissen auch, wenn dauernd gefeuert wird über die Nerven, dann gibt es auch eine Reizadaption. Das heißt, es gibt auch eine Gleichgültigkeit, die einsetzt.
    Pörksen: In dieser Phase der Gleichgültigkeit sind wir aus meiner Sicht noch nicht, sondern wir sind in einem Moment, in dem Vernetzung Verstörung bedeutet. Erregungskybernetik ist auch so gemeint: Wir haben ja heute im digitalen Zeitalter in Gestalt von Messdiensten wie Google Analytics, CrowdTangle SpyNews und Ähnlichem mehr unfassbar präzise Echtzeitquoten. Das heißt, wir können sehr genau sehen, welches Thema geht gerade in Mecklenburg-Vorpommern viral, oder warum interessieren sich Menschen an einem anderen Ort der Welt für einen seltsamen Riesen-Tintenfisch in einem japanischen Hafenbecken, wie lässt sich ein Scherzvideo womöglich aufgreifen und hier verstärken. Das heißt, wir können gewissermaßen Impulse, Reize, die in der Öffentlichkeit bereits vorhanden sind, sehr genau und in Echtzeit messen, und dann entsteht und bildet sich eine eigene Emotions- und Erregungsindustrie, die sich da draufsetzt und sagt, okay, das virale Video wird nun auch an anderen Orten der Welt systematisch gepusht, und am Ende des Tages reden im Extremfall Millionen von Menschen über einen einzigen Scherz, machen sich über einen einzigen Tweet lustig, diskutieren ein einzelnes Foto.
    Fecke: Das heißt, wir haben noch nicht gelernt, mit dieser Informationsflut und vielleicht auch Überforderung umzugehen. – Was wäre denn dann eine Möglichkeit, uns besser zu schulen?
    Pörksen: Die Grundidee der Netzutopie war ja, mehr Information macht automatisch mündiger. Heute können wir sagen, mehr Information verunsichert ganz offensichtlich und steigert die Chancen effektiver Desinformation. Was ist die Antwort darauf? Ich glaube, heute im digitalen Zeitalter, in dem jeder zum Sender geworden ist, muss jeder gleichsam auch lernen, als ein eigener Redakteur zu agieren und sich die Fragen stellen, die früher in einer anderen Zeit nur Ihnen vorbehalten waren als Journalistin, nämlich was ist glaubwürdige relevante veröffentlichungsreife Information. Diese Fragen gehen heute jeden an und ich sage und versuche, das in diesem Buch zu entfalten: Im guten Journalismus, wissend, dass es auch viel schlechten Journalismus gibt, im guten Journalismus steckt eine Kommunikationsethik praktischer Art für die Allgemeinheit. In den Regeln und Maximen des guten Journalismus - höre auch die andere Seite, sei skeptisch, agiere transparent, publiziere wahrheitsorientiert, prüfe erst und publiziere später - in den Regeln des guten Journalismus steckt eine allgemeine Kommunikationsethik, die für jeden von Belang sein könnte oder sollte.
    "Es herrscht eine große gesellschaftliche Blindheit"
    Fecke: Warum kennen so wenige diese Ethik? Haben wir selber in diesen klassischen Medien zu wenig für uns geworben?
    Pörksen: Nein, das glaube ich nicht. Ich glaube, dass es eine große gesellschaftliche Blindheit gibt im Hinblick auf die Digitalisierung. Das ist ein Prozess, der eine ganz große Veränderung, eine Gesellschafts- und Stimmungsveränderung bedeutet. Aber wir sind als Gesellschaft immer noch nicht in der Lage, gleichsam in einer Art der mentalen Pubertät immer noch nicht in der Lage, die verantwortungsethischen Konsequenzen wirklich zu diskutieren, zu sehen, dass in der gegenwärtigen Umbruchssituation, einer laufenden Medienrevolution ein großer, noch unverstandener, gesellschaftspolitisch noch nicht entzifferter Bildungsauftrag steckt. Medienmündigkeit auf der Höhe der Zeit einzuüben, sich zu verabschieden von einem rein technisch bestimmten Kompetenzbegriff, darüber zu streiten, wie soll dieser Lebensraum einer liberalen Demokratie, der öffentliche Raum eigentlich verfasst sein, wie wollen wir miteinander umgehen, darum geht es, und diese Frage ist aus meiner Sicht noch in ihrer Schärfe und auch in ihrer Dringlichkeit nicht wirklich erkannt.
    "Kommunikationsutopie einer redaktionellen Gesellschaft"
    Fecke: In einem Ihrer Artikel steht, dass soziale Netzwerke reguliert werden müssten von einem Plattformrat. Wie soll sich der denn organisieren?
    Pörksen: Das ist mein Vorschlag, den ich im Sinne dieser Kommunikationsutopie einer redaktionellen Gesellschaft formuliere. Wir haben ja im Grunde genommen drei publizistische oder kommunikative Machtzentren im digitalen Zeitalter: zum einen nach wie vor den klassischen Journalismus, zum anderen das medienmächtig gewordene Publikum, jeder ist zum Sender geworden, und schließlich und endlich natürlich die Plattformen in Gestalt von sozialen Netzwerken wie Facebook, in Gestalt von Suchmaschinen wie Google oder Microblogging-Diensten wie Twitter. Wie kann man die regulieren und wie kann man die auf eine Weise regulieren, dass man eben nicht jetzt gewissermaßen durch neue Schnell-Schnell-Gesetze auf Bevormundung setzt, sondern die Medienmündigkeit des Einzelnen auf diesem Weg steigert? Das war meine Frage, und das ist ja so etwas wie die Eine-Million-Euro-Frage. Wie kann man das Ideal von Mündigkeit, das einer Demokratie erst ihre Würde gibt, bewahren und gleichzeitig doch gegen Desinformation und Manipulation effektiver kämpfen?
    Mein Vorschlag in diesem Sinne lautet: Wir brauchen einen Plattformrat, zusammengesetzt aus den Plattformunternehmern, zusammengesetzt aus Journalistinnen und Journalisten, Wissenschaftlern, Juristen, Vertretern des Publikums. Plattformen müssen ihre eigenen redaktionellen Ethik-Codices unter Beteiligung des Publikums, unter Beteiligung der genannten Gruppen entwickeln. Sie müssen gezwungen werden, sehr viel transparenter zu machen, wie sich Öffentlichkeit durch sie verändert, wer mit welchen Absichten wirbt, wer gewissermaßen als unbezahlter oder schlecht bezahlter und schlecht betreuter Müllsortierer im Außendienst irgendwo womöglich in Indonesien die ganze Zeit damit beschäftigt ist, Enthauptungsvideos aus dem Netz herauszubugsieren. Wir brauchen hier eine ganz andere Form von Transparenz, die es dem Publikum ermöglicht, die Plattform als eine Art Medium zu sehen, und dann mit einer anderen Medienmündigkeit zu wählen, will ich eigentlich bei dieser Plattform sein, oder gefällt mir deren Politik gar nicht, gefallen mir die gesellschaftlichen Effekte, die öffentlichen Effekte, die sie provoziert, gar nicht, sollte ich sie womöglich wechseln.
    "Es gibt keine Idylle mehr"
    Fecke: "Die große Gereiztheit", Ihren Buchtitel haben Sie Thomas Manns Zauberberg entliehen. Wo sehen Sie die Parallelen zwischen dem Zustand, den Sie jetzt in Ihrem Buch schildern, und dem Leben im abgeschiedenen Sanatorium vor dem Ersten Weltkrieg?
    Pörksen: Auf den ersten Blick gibt es überhaupt keine Parallele. Was hat die Situation irgendwo in einem Sanatorium in Davos, wo sich Menschen ankeifen und anrempeln und einen Blutsturz erleiden, weil der Tee zu kalt ist, oder sonst irgendeine Nichtigkeit passiert und sie in Langeweile und diffusen Sinnkrisen vor sich hindämmern, was hat diese Situation mit unserer heutigen zu tun. – Nun, ich würde sagen, die Grundaussage dieses übrigens fantastischen und irrwitzig komischen Kapitels über die große Gereiztheit im Zauberberg von Thomas Mann ist: Wenn sich die Luft einer Epoche ändert, dann ändert sich alles. Wenn sich die Atmosphäre ändert, die Stimmung, dann ändert sich alles. Dann gibt es in gewissem Sinne keinen Zauberberg mehr, keinen Ort der Flucht, keine Idylle der Weltabgewandtheit. Dann sind selbst die, die eingehüllt in ihren Wolldecken oben auf einem Berg sitzen, gleichsam infiziert von der Gesamtstimmung. Und ich behaupte, im digitalen Zeitalter gibt es keine Idylle mehr, keine Ausstiegsvariante, keine Möglichkeit, gewissermaßen diesem permanent pulsierenden elektrischen Bewusstseinsstrom der Menschheit zu entkommen.
    Fecke: Doch! Sie können ja abschalten.
    Pörksen: Na ja. Ganz gleich wo wir sind, versuchen Sie es mal. Gehen Sie auf eine Party, schalten Sie Ihr eigenes Handy ab, und Sie sehen Menschen, die beieinanderstehen und auf einmal anfangen, darüber zu reden, was jetzt gerade in Florida passiert. Sie fahren dann zum Bahnhof und Sie sehen auf den Bildschirmen die Breaking News Nachrichten, was ist gerade in Florida passiert. Sie steigen in die U-Bahn und Sie haben die entsprechenden Schlagzeilen oder die aufgeregten Gespräche.
    Fecke: Ich bin einsam damit, wollen Sie sagen?
    Pörksen: Ich hoffe natürlich nicht, dass Sie einsam sind. Aber ich denke, wenn Sie sich tatsächlich effektiv isolieren, sind Sie in gewissem Sinne sozial nicht mehr vorhanden.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.