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Realitäten und Zustände
Freiheit

Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes schützt die Menschenwürde, gleich der zweite Artikel verbrieft das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit. In welchem Verhältnis aber steht die Freiheit zu liebgewonnenen sozialen Standards? Die Politikwissenschaftlerin Ulrike Ackermann meint: in einem ungünstigen.

Ulrike Ackermann im Gespräch mit Katja Weber | 25.12.2017
    Besucher gehen am 23.03.2017 über eine Treppe mit den Schriftzug "Für das Wort und die Freiheit" auf der Buchmesse in Leipzig.
    Ob auf der Leipziger Buchmesse oder in unserem Alltag: Das Wort "Freiheit" (dpa / Jan Woitas)
    Ulrike Ackermann, Sozialwissenschaftlerin, ist Professorin für Politikwissenschaft, seit 2008 Gründerin und Direktorin des John Stuart Mill Instituts für Freiheitsforschung in Heidelberg. Als freie Publizistin und Autorin hat sie zahlreiche Artikel und Bücher veröffentlicht.
    Katja Weber studierte Germanistik, Medien- und Theaterwissenschaft in Marburg und Berlin. Sie arbeitet als Moderatorin, Redakteurin und Autorin für Deutschlandfunk Nova (Hörsaal) und den rbb-Hörfunk.
    Katja Weber: Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren, steht in Artikel eins der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Unser Grundgesetz wiederum schützt die Freiheit der Person und das Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit, solange dadurch die Rechte anderer nicht verletzt werden.
    Frau Ackermann, wir wollen über das sprechen, was wir meinen, wenn wir "Freiheit" sagen! Die Freiheit ist jedem Individuum zu eigen, sie ist ein Gut, das geschützt wird, das aber auch immer wieder ins Verhältnis zu den Rechten anderer gesetzt wird, zu den Rechten der Gesellschaft, in der wir leben. Wir zeichnen dieses Gespräch für den Deutschlandfunk in Berlin auf, ganz in der Nähe des Schöneberger Rathauses. Im Turm des Rathauses hängt die sogenannte Freiheitsglocke. 1950 haben die Vereinigten Staaten damit eine Wiedergeburt der Freiheit beschworen. Lassen Sie uns vielleicht mit der politischen Freiheit beginnen, wie fassen Sie diesen Begriff?
    Ulrike Ackermann: Die politische Freiheit verdanken wir im eigentlichen Sinne den Griechen. Sie reicht zurück bis in die Antike, 800 vor Christi. In der Polis ist sozusagen erstmalig der Bürger geboren worden, der Staatsbürger, der mit den anderen Staatsbürgern zusammen die Gesetze selbst macht. Das heißt, persönliche Herrschaft wurde Zug um Zug abgelöst von geteilter Herrschaft, deshalb kann man auch von partizipativer Freiheit sprechen, also dass die Menschen, die Bürger anfangen, sich selber eigene Regeln zu setzen und nicht von oben herab monarchistischen Regeln zu folgen. Und das ist natürlich eine unglaubliche Errungenschaft gewesen.
    Freiheit wurde nicht auf dem Tablett serviert
    Weber: Jetzt habe ich gerade die Freiheitsglocke anzitiert. Die politische Freiheit war ja mit dieser Glocke als eine Art Bildungsauftrag gemeint. Die Deutschen sollten und mussten Freiheit lernen. Lässt sich Freiheit beibringen, lässt sie sich erlernen?
    Ackermann: Na ja, ich denke, vor allem ist es wichtig, ein Bewusstsein darüber zu entwickeln, wie wir zu unseren Freiheiten gekommen sind. Denn die sind uns natürlich überhaupt nicht auf dem Tablett serviert worden, sondern über viele, viele Jahrhunderte haben wir uns unsere Freiheiten erkämpft, erkämpfen müssen, was überhaupt den ganzen Fortschritt unserer Zivilisationsgeschichte ausmacht. Und, so meine ich, Freiheit ist sozusagen Motor genau dieser Zivilisationsgeschichte gewesen, ist entstanden aus einem tätigen Akt der Befreiung.
    Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
    Die Politikwissenschaftlerin und Publizistin Ulrike Ackermann (Imago/Horst Galuschka)
    Weber: Jetzt sagten Sie "Freiheiten". Also Freiheit gibt es im Plural offenbar, neben der politischen gibt es auch die individuelle. Ich kann mich gemäß meiner Neigung, meiner Fähigkeiten frei entwickeln, soweit ich dabei die Rechte anderer nicht verletze. In welchem Verhältnis steht denn politische Freiheit - das war ja das, was Sie gerade entwickelt haben - in welchem Verhältnis steht die zur individuellen Freiheit?
    Ackermann: Na ja, also die politische Freiheit, das sind Rechte der Bürger, das … Politische Freiheiten spiegeln sich in einer bestimmten Regierungsform wider, die Demokratie ist die schönste entwickeltste Form davon. Also diese politischen Freiheiten beziehen sich auf den Staatsbürger, dass man gemeinsam mit anderen, wie eben in der Polis entstanden, die öffentlichen Angelegenheiten gemeinsam regelt, sich gemeinsam Gesetze macht, was noch nicht identisch ist mit dem Privatleben. Und Privatleben in diesem Sinne, so wie wir es heute verstehen, oder individuelle Freiheit, wie wir sie heute verstehen, kannten die Griechen überhaupt nicht. Also auch die Entstehung von dem, was wir heute Individuum nennen, also Individualisierungsprozesse über viele, viele Jahrhunderte, das ist sozusagen die Genese der individuellen Freiheit. Also die individuelle Freiheit ist natürlich keine abstrakte Angelegenheit, sondern sie ist entstanden nicht nur als Idee, sondern mit dem Sozialisationsprozess selber. Also so, wie die Menschheit sich sozialisiert hat über viele Jahrhunderte, so ist überhaupt das moderne Individuum entstanden, das seine Freiheitsrechte und seine individuelle Freiheit erkennen kann, in die Hand nimmt und leben kann.
    Weber: Zwischen Privatheit und Öffentlichkeit ist die Religion angesiedelt. Vielleicht fügen wir einen kleinen Exkurs zur Religionsfreiheit ein, eine weitere Freiheit! Ich kann in Deutschland an Jesus glauben als den Sohn Gottes, ich kann den Papst als den Stellvertreter Gottes auf Erden verehren, ich kann an Jahwe glauben, an Allah, ich kann das alles auch bleiben lassen oder ich kann mit dem Glauben oder den vermeintlichen Glauben an das fliegende Spaghettimonster das alles auch persiflieren. 1950 bei der Freiheitsglocke war das anders. Die Urheber dieser Glocke, die konnten sich Freiheit ohne Gott überhaupt nicht vorstellen. Die Inschrift lautet: "Möge diese Welt mit Gottes Hilfe eine Wiedergeburt der Freiheit erleben." Wie verhält sich jetzt also Religionsfreiheit einerseits zur individuellen und andererseits zur politischen Freiheit?
    Ackermann: Die Religionsfreiheit verdanken wir beiden Freiheiten, der politischen und der individuellen, in diesem langsamen und über Jahrhunderte währenden Entwicklungsprozess, nämlich das Auseinandertreten von Glauben und Wissen, das Auseinandertreten von kirchlicher Macht und der entstehenden bürgerlichen, staatlichen Macht, also Säkularisierungsprozesse, die unsere westlichen Gesellschaften über Jahrhunderte gezeichnet haben, die übrigens natürlich auch alle überhaupt noch nicht abgeschlossen sind. Also auch innerhalb der europäischen Nachbarländer ist die Stellung der Kirche sehr unterschiedlich und die Trennung der Sphären zwischen Staat und Kirchen auch nicht immer trennscharf, wie man sich es zum Teil wünschen würde. Das heißt, in diesem historischen Prozess ist mit diesem Freiheitsgewinn tatsächlich einerseits die Möglichkeit entstanden, sich frei zu fühlen von der Religion, aber auch frei zu fühlen für die Religion. Also die Freiheit von der Religion ist gekoppelt mit der Freiheit für die Religion, dass unterschiedliche Religionen in einem Staatsgebilde nebeneinander existieren können, solange sie sich nicht gegenseitig schädigen, strafen, umbringen und so weiter.
    Das Gegenteil von Zwang
    Weber: Nun kam vor fast zehn Jahren ein Buch von Ihnen raus mit dem Titel Eros der Freiheit, darin schreiben Sie vom Janusgesicht der Freiheit. Die politische Freiheit, sagen Sie und schreiben Sie, kann die individuelle unterjochen und auch vernichten. Ist es denn trotzdem möglich, dass der Einzelne in einem politisch unfreien System seine individuelle Freiheit bewahrt, geht das?
    Ackermann: Das ist eine schwierige Frage, weil es auch eine sehr schwierige Situation ist. Freiheit ist das Gegenteil von Zwang. Und in einer Diktatur beispielsweise leben die Menschen bekanntlich nicht frei. Aber es gibt natürlich auch immer wieder die Möglichkeit, um zu überleben, in die sogenannte innere Immigration zu gehen, diese innere Freiheit für sich zu wahren. Allerdings ist es natürlich ein innerer, auch ein innerpsychischer Raum, den man sich erhalten kann, der aber unter äußerlichem Druck und Zwang steht und natürlich überhaupt keine Handlungsfreiheit möglich macht. Und Freiheit ohne Handlungsfreiheit ist natürlich nicht nur eine halbe Freiheit, sondern das ist eigentlich Unfreiheit.
    Proteste vor der türkischen Botschaft in Berlin zum Auftakt des Prozesses gegen Steudtner und weitere Menschenrechtler
    Für die Freiheit: Proteste vor der türkischen Botschaft in Berlin zum Auftakt des Prozesses gegen Steudtner und weitere Menschenrechtler (imago/Christian Ditsch)
    Weber: Wir haben bislang von der Freiheit des Individuums gesprochen als etwas Wünschenswertem. Also wenn wir Ihrem Buchtitel folgen, Eros der Freiheit, dann ist das etwas, was wir begehren, etwas, worauf wir Lust haben geradezu. Aber sie kann ja auch eine Zumutung sein, eine Überforderung.
    Ackermann: Natürlich. Das zeigt unsere gesamte Freiheitsgeschichte. Freiheit ist kompliziert, Freiheit ist sehr anspruchsvoll. Beispielsweise diese große Errungenschaft und dieser Wert der Wahlfreiheit, verschiedene Optionen wählen zu können, verschiedene Wege einschlagen zu können, diese Freiheit entpuppt sich manchmal als die Qual der Wahl. Und das meine ich jetzt nicht nur auf den Supermarkt bezogen, sondern auch in Lebenssituationen. Vor allem kann man mit dem Ergreifen der Freiheit natürlich auch immer scheitern. Man ist selbst verantwortlich für bestimmte Wege, die man einschlägt, und diese Wege müssen nicht die richtigen sein. Das heißt, zur Freiheit gehört das Scheitern, zur Freiheit gehört auch die Angst vor der Freiheit, weil man damit durchaus sichere, gewohnte Wege verlässt, sich ins Unbekannte begibt, sich ins Neue begibt.
    Weber: Das heißt, zur Freiheit gehört auch die Angst vor ihr?
    Ackermann: Ja, das würde ich auf jeden Fall sagen. Aber wichtig ist vor allem, sich dies auch einzugestehen. Also das ist immer ein kleines Problem auch bestimmter, sage ich mal, liberaler Traditionen gewesen, die sozusagen immer nur auf die Vernunft gesetzt haben. Der Mensch besteht nicht nur aus Vernunft, er hat auch eine sehr, sehr unvernünftige Seite, was einerseits sich in Ängstlichkeit und Ähnlichem ausdrückt, aber eben auch in Begehrlichkeiten, in Leidenschaften. Insofern ist Freiheit nichts Abstraktes, sondern das hat auch was eben mit dieser Neugierde zu tun, dieser Lust auf etwas Neues, auch wagemutig zu sein, eben auch Altes, Vergangenes, Überkommenes zu verlassen. Aber es ist immer mit Risiken verbunden. Und wichtig ist, sich selber immer wieder zu vergegenwärtigen, dass es Ambivalenzen gibt und dass das keine Wege sind, die geradlinig sind und die ohne Hindernisse verlaufen.
    Skepsis gegenüber der individuellen Freiheit
    Weber: Sie betonen dennoch oft, dass insbesondere die Deutschen Angst vor der Freiheit haben, und kritisieren das auch. Woran machen Sie das fest, dass die Deutschen so ängstlich sind?
    Ackermann: Ja, es hängt vielleicht auch damit zusammen, dass die Deutschen im Unterschied zu den europäischen Nachbarländern, auch zu Amerika doch recht spät ihre demokratische Revolution hatten und die Einheit der Nation wichtig war, also auch eher ein kollektives Freiheitsverständnis vorherrschend war und die Skepsis gegenüber der individuellen Freiheit, dem Bürger, der tatsächlich sein Leben in die Hand nimmt, recht weit verbreitet war und ist und die Deutschen auch gerne ihren Staat als so eine Art Gottvater zuweilen haben wollen.
    Weber: Und da ist er dann doch schon wieder, der Gott! Nun ist es aber so, dass wir seit diesem Herbst im deutschen Recht die Ehe für alle kennen. Also heiraten können jetzt auch gleichgeschlechtliche Paare. Das könnte doch ein Indiz dafür sein, dass die individuelle Freiheit in Deutschland ausgeweitet wird, auch politisch gefördert wird, dass sie sich entfalten kann, weil jetzt eben dieses bürgerliche Recht, die eigene Liebesbeziehung amtlich festhalten zu lassen, öffentlich zu machen, jetzt auch denen zusteht, die vorher davon ausgeschlossen waren. Wieso sagen Sie trotzdem, individuelle Freiheit wird in Deutschland vernachlässigt?
    Ackermann: Dieses Gesetz ist natürlich ein großer Schritt. Und das ist übrigens interessanterweise auch eine Entwicklung, die wir parallel haben, in Europa, in USA. Das sind Zugewinne an Freiheitsspielräumen. Und die Wertschätzung dieser unterschiedlichen Lebensweisen, die Pluralität der Lebensstile, dass das sozusagen selber ein Wert unserer Gesellschaften geworden ist, das ist was sehr Modernes und das ist natürlich ein großer Fortschritt. Also gerade in dieser Vielfalt der Lebenswege entstehen ja auch immer wieder neue Möglichkeiten des besseren Lebens, wenn man davon ausgeht, dass alle Menschen auf der Suche nach dem guten Leben sind, dass diese Varianzen des guten Lebens immer mehr zugenommen haben und auch die Toleranz gegenüber sehr unterschiedlichen Lebensweisen. Also darin sehe ich einen großen Fortschritt, wenn wir uns zurückentsinnen an die ‘50er-Jahre beispielsweise. Auf der anderen Seite geht es manchmal auch einher, dass durchaus auch im bestgemeinten Sinne der Staat meint, den Bürgern etwas Gutes tun zu wollen und sie sozusagen ein wenig zu ihrem Glück zwingen möchte und deshalb die Neigung hat, sich in Lebensbereiche einzumischen, in das Alltagsleben der Bürger, was ich zuweilen als sehr übergriffig empfinden würde. Und das lassen sich dann wiederum auch viele Bürger sehr gefallen, was mich dann wiederum wundert!
    Die Freiheitsglocke im Turm des Schöneberger Rathauses in Berlin. Sie ist ein Geschenk der USA aus dem Jahr 1950 und wurde nach dem Vorbild der US-amerikanischen Liberty Bell geschaffen. Auf Deutschlandradio Kultur ist sie sonntags um 11:59 Uhr zu hören.
    Die Freiheitsglocke im Turm des Schöneberger Rathauses in Berlin. (Foto: Jens Kalaene / dpa)
    Weber: Auf diese fürsorglichen Eingriffe wollen wir noch zu sprechen kommen. Aber lassen Sie mich das noch mal verstehen, Sie sprachen davon: Ja, es gibt Fortschritt, es gibt Zuwachs an Freiheit, gleichzeitig gibt es Rückschritte. Das heißt, es sind Bewegungen nach vorne und nach hinten gleichzeitig.
    Ackermann: Ja. Also wenn wir uns jetzt noch mal die ganze Welt anschauen, es gibt Messungen von dem Freedom House beispielsweise, weltweit gibt es einen Freiheitsindex, der jetzt gezeigt hat, dass in den letzten Jahren die Länder, in denen Demokratie und Freiheit herrscht, dass diese Zahl rückläufig ist. Und das war schon einmal anders. Also das heißt, das Erstarken autoritärer Regime hat in einer Weise zugenommen, was uns sehr, sehr beunruhigen sollte, was einhergeht mit westlichen Zweifeln über die eigene Geschichte und über die eigenen Errungenschaften der Freiheit. Man hört immer wieder in Diskussionen, dass vom postliberalen Zeitalter die Rede ist. Und dieser Spruch kommt nicht etwa aus Moskau oder aus dem Reich Erdoğans, sondern der kommt durchaus auch vonseiten westlicher Intellektueller, die Zweifel haben, ob unser Modell, das heißt unsere Regierungsform, unser Verständnis von Freiheit, von westlichem Lebensstil, ob das tatsächlich das Beste ist. Ich bin der Meinung, das ist der anspruchsvollste Lebensstil und der freieste, den wir je hatten, insofern ist er zu verteidigen. Aber er steht unter Druck.
    Ein intersubjektiver, gegenseitiger, wechselseitiger Prozess
    Weber: Lassen Sie uns noch mal sprechen über die Zumutung der Freiheit, über die Überforderung, die damit einhergehen kann. Wenn ich wirklich selbstverantwortlich handeln will, dann ist das eine Höllenarbeit. Unsere Gegenwart ist komplex, und um dann wirklich aufgeklärt, selbstbestimmt leben zu können, ein Berufsleben oder ein Familienleben führen zu können, müsste ich mich auf Expertenniveau einarbeiten in Lebensmittelkunde, Ökonomie, Bildungs- und Lehrpläne, in Themen wie Datenschutz, wie Energiewirtschaft. Kann das ein selbstverantwortliches, autonomes Individuum wirklich leisten oder ist es nicht vielleicht auch nachvollziehbar und ganz sinnvoll, dass Verantwortung und Kompetenz auch delegiert wird?
    Ackermann: Natürlich! Wir hätten es nicht so weit gebracht, wenn wir nicht ein ganz ausgeklügeltes System - auch übrigens über die Jahrhunderte - der Arbeitsteilung entwickelt hätten. Es kann nicht jeder Einzelne Experte in allen Angelegenheiten sein. Ich rede auch jetzt nicht das Wort für eine Expertokratie. Unser Wissen nimmt zu, aber das heißt natürlich, dass wir delegieren und dass wir vor allen Dingen vom Wissen der anderen immer profitieren. Also das ist ja ein gegenseitiger Prozess, also unsere Freiheiten, auch die Wertschätzung unserer Fähigkeiten, auch die Wertschätzung von Selbstständigkeit, von Mündigkeit, von Autonomie, das geht ja einher im permanenten Austausch mit diesen anderen Individuen, die zum Teil auch holpern auf ihrem Weg in diese Selbstständigkeit, in diese Mündigkeit. Man regt sich gegenseitig an, man erfährt Ähnliches, man tauscht sich aus, das sind Lebensexperimente, von denen John Stuart Mill seinerzeit gesprochen hat, die dafür sorgen, dass sich sozusagen die Menschheit in ihrer Form und ihrer Kunst der Lebensführung weiterentwickelt. Also, das ist ein intersubjektiver, gegenseitiger, wechselseitiger Prozess.
    Weber: Vorhin sprachen Sie von der Demokratie als die am schönsten entwickelte Staatsform, die Freiheit ermöglicht. In der Demokratie geht die Gewalt, die Macht vom Staatsvolk aus, sie soll in dem Sinne - wortwörtlich - eine Volksherrschaft sein. Wie verträgt sich denn dieser kollektive Anspruch mit dem Recht auf die individuelle Freiheit?
    Ackermann: Wichtig ist mir - und das ist unsere besondere Errungenschaft -, dass wir jetzt nicht die unmittelbare Volksherrschaft um uns herum erleben müssen, sondern die indirekte, dass das Volk souverän ist, aber dass wir eine repräsentative Demokratie haben, dass wir gewählte Volksvertreter haben, die sich vor dem Volk, das sie gewählt hat, verantworten müssen, dass wir einen rechtsstaatlichen Rahmen haben, an den sich alle halten müssen, dass wir eine Gewaltenteilung haben. Das ist sozusagen der äußere Rahmen, das ist der Bedingungsrahmen. Man kann da von einer Verfassung der Freiheit reden auf politischer Ebene, in die sozusagen unser Leben eingebettet ist. Also ohne Rechtsstaat könnten wir unsere individuellen Freiheiten überhaupt nicht tatsächlich ausschöpfen, verteidigen. Also der Staat ist dafür da, den Rahmen zu bieten, damit seine Bürger in Freiheit leben können, deshalb muss er auch Obacht geben, wann er seine Befugnisse überschreitet.
    Politiker als Sozialingenieure
    Weber: Das deuteten Sie eben schon an, der Staat handele ab und an übergriffig. Gelesen habe ich von Ihnen, er behandele die Bürger manchmal wie Kinder oder wie Patienten. Ich weiß, dass Sie gerne Rad fahren, Frau Ackermann. Tragen Sie einen Helm dabei?
    Ackermann: Ich nehme mir die Freiheit, zumindest bisher auf einen Helm verzichtet zu haben. Und diese Freiheit möchte ich auch weiterhin behalten. Also das ist für mich so ein Beispiel dieser Übergriffigkeit. Der Staat hat immer wieder - und übrigens auch Politiker als Sozialingenieure - wir haben natürlich immer die Neigung, auch die Bürger zu ihrem Besten zu führen und zu lenken und die Bürger vor sich selbst zu schützen. Und es ist die Frage, wie weit dieser Griff zu weit reicht, inwieweit nicht nur Bürger sich selbst schützen können und es wichtig ist, dass man auch lernt, für sich selbst verantwortlich zu sein, sondern inwieweit man auch Bürgern das Recht zugesteht, sich möglicherweise selbst zu schädigen. Also wenn Sie eine Tugenddiktatur errichten wollen, dann darf kein Alkohol getrunken werden, dann müssen alle morgens früh ihren Sport machen, dann müssen natürlich alle Helme tragen. Ach, na ja, also man kann sich da ganz Fürchterliches ausdenken. Und manchmal hat man den Eindruck, dass es viele Leute gibt, die das gar nicht so schrecklich finden und bereit sind, da die Freiheit doch zu begraben.
    Ein junges Paar auf einem Fahrrad, die Frau steht hinten auf dem Gepäckträger und mach Selfies
    Und? Fahren Sie mit oder ohne Helm? (imago stock&people/Westend61)
    Weber: In der Tat wird ja alle Jahre wieder diskutiert, ob nicht so eine Helmpflicht einzuführen wäre, und es gibt ja auch wirklich gute Gründe dafür, Sie haben es auch angedeutet. Es steigt die Zahl der Fahrradunfälle und ein Helm schützt vor Verletzung, unter Umständen auch davor, an den Folgen eines Unfalles zu sterben, dazu gibt es Studien. Es wäre also vernünftig, einen Helm zu tragen. Wieso sträuben Sie sich dennoch?
    Ackermann: Na ja, wenn man an dieser Stelle anfängt, dann müssen Sie sagen, dass das freie Schwimmen ohne Bademeister im Meer eine Gefährdung ist, und dass die Volksgesundheit Schaden nimmt, dass die Versicherungen bezahlen müssen, wenn Leute zu übermütig sind. Dann können Sie mit dem Skifahren aufhören, das ist in gewisser Weise auch ein gefährlicher Sport, alle Meniskusrisse zusammengezählt zwischen Weihnachten und Neujahr, das kostet den Staat und die Versicherung auch viel. Also wo fangen Sie an, wo hören Sie auf mit diesen Reglementierungen? Das ist die große Frage. Übrigens muss das natürlich auch immer wieder neu austariert werden. Also ich bin selbst eine leidenschaftliche Raucherin über viele Jahre gewesen, ich habe es selbst aufgehört, ich finde es jetzt heute angenehm, dass ich in Kneipen gehen kann, in denen nicht geraucht wird, war aber immer - und bin es heute noch - für die Wahlfreiheit, dass es beides gibt und dass man nicht jetzt die Menschen zu ihrem Glück zwingen darf, zu ihrer Gesundheit zwingen darf.
    Ein offener Paternalismus
    Weber: Kann ich das so verstehen, wenn eine Helmpflicht für Radfahrer eingeführt würde, würden Sie dieses umgehen und weiter barhäuptig fahren?
    Ackermann: Tja, dann würde ich irgendwann einen Strafzettel bekommen, mit ziemlicher Sicherheit. Das ist zumindest eine Form, sagen wir mal, des Paternalismus, der offen ist. Also ein klares Verbot, das ist ein harter Paternalismus, der Staat befielt das und jenes. Man kann sich mit dem Verbot auseinandersetzen, man kann es brechen, man geht das Risiko ein, dann Geldstrafen zahlen zu müssen oder sich wie ein Verbrecher zu fühlen. Aber es ist zumindest eine offene Angelegenheit. Was ich bedenklicher finde, sind Formen des manipulativen Paternalismus oder des weichen Paternalismus, dass die Menschen in nicht so offensichtlicher Manier zum besseren Leben hingeschubst werden sollen, das finde ich zum Teil viel problematischer.
    Weber: Ja, diskutieren wir vielleicht so ein Beispiel, das ist auch aus dem Grenzbereich von Leben und Tod: In Österreich wären wir beide automatisch Organspenderinnen, wenn wir nicht spenden wollten, aus welchen Gründen auch immer, müssten wir aktiv veranlassen, aus dieser Spenderdatei gestrichen zu werden. In Deutschland dagegen muss die Zustimmung zur Organspende eingeholt werden, nicht der Widerspruch. Österreich kann folglich viele Transplantationen ermöglichen, Deutschland entsprechend nicht. Heißt, das österreichische Verfahren rettet Leben! Wie wägen Sie hier ab: die individuelle Freiheit des potenziellen Spenders gegen die des Kranken, der auf das Organ angewiesen ist?
    Ackermann: Das ist ein sehr schönes Beispiel, was auf diesen Ambivalenzkonflikt hinweist. Natürlich ist es im langfristigen Interesse der Medizin und auch lebensverlängernder Möglichkeiten, mit Organen Gesundheit schenken anderen, die todkrank sind und so weiter. Das ist natürlich ein hohes Gut. Aber Organspende muss etwas Freiwilliges bleiben. Ich sehe in dieser Opt-in-/Opt-out-Regelung, die manipulativ ist, eine Nötigung, für die wir zu erwachsen geworden sind. Das ist für mich ein Beispiel, wie Bürger wie kleine Kinder behandelt werden. Sie entscheiden, was mit ihrem Körper passiert, auch wenn sie tot sind. Dieses Recht hat jeder und das soll nicht der Staat haben.
    Weber: Auch wenn andere davon profitieren könnten?
    Ackermann: Das muss eine Freiwilligkeit sein. Natürlich ist zu hoffen, dass die Leute aufgrund von Einsicht dazu kommen, dass Organspenden sehr klug sind, dass sie möglicherweise selber davon profitieren in einem extremen Fall, dass es langfristig gesehen zum Wohle aller ist. Aber das kann nicht über Zwang oder auch einen manipulativen Zwang und diese Schubsgeschichte eingeführt werden, das, finde ich, geht nicht. Das ist unwürdig für unseren Stand gesellschaftlicher Entwicklung.
    "Menschen zu ihrem Besseren nötigen zu wollen, das ist antiaufklärerisch"
    Weber: Das, was wir hier besprechen, nennen Ökonomen und Psychologen "Nudging", Sie haben gerade gesagt "schubsen". Also es geht um einen Schubs in die gewünschte Richtung, Richard Thaler, der US-Ökonom, auf den das zurückgeht, spricht hier von libertärem Paternalismus. Also er denkt in dem Begriff die freie Wahl zwischen verschiedenen Handlungsoptionen mit Fremdbestimmung, mit Bevormundung zusammen. Ich vermute, das ist ein Begriff, der Ihnen Unwohlsein verursacht?
    Ackermann: Absolut. Also ich finde, das ist ein Widerspruch in sich. Das wird eben auch weicher Paternalismus genannt. Also die Bürger und die Menschen zu ihrem Besseren nötigen zu wollen, das ist nicht nur antiaufklärerisch, wenn man den schönen Satz über die Mündigkeit von Kant noch im Ohr hat, es dient auch nicht einer Steigerung und Weiterentwicklung der Eigenverantwortlichkeit und Autonomie eines jeden. Also wenn sozusagen immer die Leute weiterhin in bestimmte Richtungen gedrängt werden, lernen sie nicht, für sich das Maß zu halten, für sich die Wege zu nehmen, die manchmal auch schwierig sind, wo man auch manchmal etwas Falsches macht, wo man sich möglicherweise auch selber schädigt. Wenn permanent die Leute gelenkt werden, werden sie nicht erwachsen, werden sie nicht eigenverantwortlich und werden nicht lernen, sich wirklich um sich selbst zu kümmern.
    Weber: Da Sie Kant ansprachen, also der Ausgang des Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit: Ist im Falle dieser Organspende die staatsverschuldete Unmündigkeit, in der der Mensch gehalten wird?
    Der deutsche Philosoph Immanuel Kant ("Kritik der reinen Vernunft") in einem Stich von Johann Leonhard Raab nach einem Gemälde von Gottlieb Döbler aus dem Jahr 1781.
    Der deutsche Philosoph und Aufklärer: Immanuel Kant (dpa / picture alliance / Bertelsmann Lexikon Verlag)
    Ackermann: Ja, also ich habe überhaupt nichts gegen Aufklärungskampagnen, warum es klug und gut ist, Organe zu spenden, und dass man, weil man es später vergisst vielleicht, sich vorher darum kümmern soll. Dagegen ist überhaupt nichts zu sagen. Aber diese Opt-in-/Opt-out-Sache, dass man, wenn man nicht widerspricht, man automatisch seine Organe spendet, das hat nichts mit Wahlfreiheit und Entscheidungsfindung zu tun. Und eine Entscheidungsfindung kann auch sehr schwierig sein! Man kann auch sich falsch entscheiden. Aber das kann man einem autonomen, einem freien, einem erwachsenen Individuum doch nicht abnehmen!
    Weber: Lassen Sie uns noch auf ein anderes Feld zu sprechen kommen. Die Freiheit, wie Sie sie verstehen, wird auch durchs Netz bedroht. Also bei jeder Suchanfrage hinterlassen wir Daten, bei jedem Posting auf Facebook, bei jedem Online-Einkauf. Smartphones können inzwischen Gesichter erkennen, im öffentlichen Raum werden ähnliche Technologien erprobt. Und dann sagen viele User: Na und, ich habe ja nichts zu verbergen! Kann es individuelle Freiheit geben, wenn unser doch vordigitales Konzept von Privatheit - wir sprachen eben darüber - wenn dieses Konzept sich verändert?
    Ackermann: Das ist eine der größten Herausforderungen in den nächsten Jahren oder Jahrzehnten, muss man sagen, ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, was die großen Chancen des Internets und der digitalen Revolution sind. Das ist in vielen Punkten ein Zugewinn von Freiheit, im Übrigen auch von individueller Freiheit, Rollenspiele, man kann sich unterschiedliche Identitäten geben et cetera, et cetera. Aber es ist natürlich ein Eingriff in die private Sphäre, nicht nur unter datenschutzrechtlichen Gesichtspunkten, sondern eine Preisgabe von Privatheit und ein neues Sich‑Unterwerfen unter neue Formen der sozialen Kontrolle, eben nicht nur der staatlichen, sondern der großen digitalen Konzerne, denen man sich unterwirft, die individuelle Freiheit empfindlich einschränken. Deshalb ist mir so wichtig, darauf aufmerksam zu machen, was ist eigentlich digitale Selbstbestimmung. Also den Begriff der Selbstbestimmung und der individuellen Freiheit, den wir aus der analogen Zeit kennen, zu übertragen auf das, was wir jetzt heute haben und wie wir uns im Netz bewegen und wie wir im Rahmen dieser Digitalisierung leben.
    Rückzugsort, um neue Gedanken und Eigenständigkeit zu entwickeln
    Weber: Das heißt, Sie streiten dafür, dass wir alle etwas zu verbergen haben dürfen und das dann auch können, selbst wenn es vielleicht ethisch fragwürdig ist?
    Ackermann: Absolut. Also da würde ich Herrn Zuckerberg sehr stark und hart widersprechen, der sagte, wenn man nichts zu verbergen hat, dann ist doch nicht schlimm, wenn alle alles sehen! Also das sehe ich überhaupt nicht. Dieser Raum, dieser autonome Raum, der jenseits irgendeiner sozialen Kontrolle ist, das ist überhaupt der Raum für Subjektivität, das ist der Raum für Kreativität, das ist genau der Raum, der nicht uniformierbar ist, den man nicht zwangsweise mit allen teilen kann. Ja, das ist eigentlich auch ein Rückzugsort, um neue Gedanken zu entwickeln, Eigenständigkeit zu entwickeln, Stärke zu entwickeln und Autonomie.
    Weber: Nach dem, was wir besprochen haben - und wir sprachen auch eben vom Janusgesicht der Freiheit -, ist denn eine harmonische Verbindung von politischer und individueller Freiheit denkbar oder bleibt die dann doch immer ein Ideal, etwas, wonach wir streben, wonach wir verlangen, woran wir vielleicht auch scheitern und uns abarbeiten?
    Ackermann: Na ja, also es wird sich immer reiben, so wie sich auch die wirtschaftliche Freiheit manchmal mit der politischen Freiheit reibt und der individuellen Freiheit. Es geht um das Austarieren. Also die Errungenschaften unserer politischen Freiheiten wie beispielsweise der repräsentativen Demokratie, unserem Rechtsstaat, der Meinungsfreiheit, in welcher Weise Bürger partizipieren politisch, das sind Riesenerrungenschaften. Aber umso wichtiger ist es, dass man auch immer wieder schaut, dass die Bürger und die Menschen eben nicht in Politik aufgehen. Sie sind eben nicht nur Staatsbürger, sie sind nicht nur Wähler, sondern sie sind Individuen, die ganz eigenmächtig in ihrem privaten Felde arbeiten, experimentieren, leben, glücklich sind, unglücklich sind nach ganz unterschiedlichen Weisen des Glücksstrebens, sich aneinander reiben, was diese unterschiedlichen Weisen des Glücks anlangt. Und da muss sich der Staat auch zurückhalten, indem er nicht uniform Weisen des Glücks vorgibt, mit denen alle glücklich werden müssen. Also diese Form von verordneter Glückseligkeit, das hatten wir in der Vergangenheit und in Diktaturen.
    Weber: Frau Ackermann, besten Dank für das Gespräch!
    Ackermann: Ich danke Ihnen!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.