Samstag, 27. April 2024

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Mehmet Daimagüler und Ernst von Münchhausen
"Mangelhaft"

Wie ist das Leben im Gefängnis – und warum hat es nichts zu tun mit Kuscheljustiz? Diesen Fragen gehen die beiden Rechtsanwälte in ihrem Buch nach, das nicht nur ein Reiseführer durch deutsche Gefängnisse sein will – sondern vor allem eine Streitschrift gegen den sicherheitspolitischen Populismus.

Von Matthias Becker | 03.02.2020
Gefängniszelle der Justizvollzugsanstalt München-Stadelheim.
Gefängniszelle der Justizvollzugsanstalt München-Stadelheim (Blessing Verlag / imago / HRSchulz)
"Im Volksmund heißt das Gefängnis wegen seiner Architektur auch ‚Café Achteck‘. In der Mitte thront ein großer Turm, von dem vier Magistralen abgehen, in denen sich die Zellen befinden. Nicht nur wegen des Turms, sondern insbesondere wegen der zinnenbekrönten Außenmauern und des Haupttors erinnert das Gebäude an eine mittelalterliche Festung."
So klingt es also, wenn erfahrene Rechtsanwälte ein Gefängnis beschreiben, in diesem Fall die Justizvollzugsanstalt Bruchsal in der Nähe von Karlsruhe. Wie in einem Reiseführer.
"Das Freizeitangebot reicht von kulturellen und religiösen Veranstaltungen bis hin zu Sportveranstaltungen. Auch gibt es einen Kraftraum und eine Sporthalle. Die Zellen haben, zumindest in einem älteren Trakt, lediglich kleine Fenster. Diese liegen dann auch noch so hoch, dass man nicht nach draußen schauen kann. Grundsätzlich werden das Essen und die allgemeine Versorgung als gut empfunden."
Mehmet Daimagüler und Ernst Freiherr von Münchhausen, bekannte Strafverteidiger und Publizisten, legen mit ihrem Buch "Mangelhaft" tatsächlich so etwas wie einen Baedeker für die bundesdeutsche Knastlandschaft vor: Markante Gefängnisse werden in alphabetischer Reihenfolge vorgestellt, von der JVA Bautzen bis zur JVA Waldheim, launig und mit hoher Anekdoten-Dichte beschrieben. Die Autoren weisen auf Sehenswürdigkeiten und historische Begebenheiten hin, sie geben Tipps, die dem Besucher die Orientierung erleichtern und sogar ein Glossar mit gängigen Knast-Ausdrücken hilft bei der Verständigung mit den Insassen.
Knast-Reiseführer und politische Streitschrift
Vielleicht entstand dieses Buch ja tatsächlich, weil die beiden Anwälte ihren verurteilten Mandanten etwas in die Hand drücken wollten, um sie auf eine bevorstehende Freiheitsstrafe vorzubereiten. Diesen Zweck erfüllt das Buch jedenfalls hervorragend. Für Leserinnen und Leser, die keinen Zwangsurlaub auf Staatskosten planen, ist "Mangelhaft" ebenfalls geeignet – allerdings müssten sie etwas Geduld aufbringen. Denn anstatt die Dauerkrise des Strafvollzugs in Deutschland zu analysieren und ihre politischen Ursachen aufzuzeigen, verlassen sich die Autoren ganz auf die Überzeugungskraft ihrer Beschreibungen.
"Zu beobachten ist ein anschwellender Chor jener, die ‚Klartext‘ reden, die ein ‚Ende der Geduld‘ fordern, die vor ‚No-Go-Areas‘ warnen, kurz gesagt: die Schluss machen wollen mit der ‚Kuscheljustiz‘. Hier artikuliert sich eine Stimme, die eine Abkehr von den strafrechtlichen Reformen der Siebzigerjahre verlangt. Jenen Reformen, die den Fokus weg von der Strafe als Vergeltung für begangene Verbrechen hin zur Prävention und Resozialisierung des Verurteilten vollzogen. [...] Jene, die über ‚Wellness-Gefängnisse‘ schwadronieren, haben meistens noch nie ein Gefängnis auch nur aus der Nähe gesehen."
So verbirgt sich in diesem Gefängnis-Reiseführer eine Streitschrift gegen den sicherheitspolitischen Populismus. Die Autoren zeigen, dass die Verhältnisse hinter Gittern im vergangenen Jahrzehnt eher schlechter geworden sind. Das liegt auch am allgegenwärtigen Spardruck und Personalmangel, der zum Beispiel in Berlin drastische Folgen hat.
"Es gibt Teilanstalten in Tegel, die zeitweise nur mit der Hälfte des Personals arbeiten. So bleiben die hafteigenen Betriebe einfach geschlossen wenn nicht genügend Personal für die Aufsicht zur Verfügung steht. Die Gefangenen gehen dann nicht zur Arbeit, sondern bleiben in ihren Zellen - 23 Stunden am Tag."
Spardruck und wachsendes Gewaltproblem
Heute kosten Bewachung Unterbringung und Versorgung eines Gefangenen durchschnittlich 118 Euro am Tag. Diese Tageshaftkosten unterscheiden sich deutlich von Bundesland zu Bundesland. Aber der Druck, Ausgaben zu senken, ist überall zu spüren. In einigen Anstalten werden deshalb Versorgung, Reinigung und teilweise sogar die Bewachung von Privatfirmen abgedeckt. Es gibt weniger Angebote in den Bereichen Ausbildung, Therapie und Sport. Hinzu kommt, dass Dominanz und Hierarchie unter den Gefangenen eine wichtigere Rolle spielen als früher. So berichten Mehmet Daimagüler und Ernst Freiherr von Münchhausen:
"Gerade in Jugendhaftanstalten besteht ein massives Gewaltproblem. Inhaftierte berichten, dass man zwei Möglichkeiten hat: Entweder schließt man sich einer Unterdrückergruppe an oder man hat als Einzelgänger nichts zu lachen. Zum Alltag gehört auch, dass sich schwächere Gefangene die Gunst aggressiver Mitinsassen mit Geschenken erkaufen, um sich vor Misshandlungen zu schützen."
"Mangelhaft" ist ein ungewöhnliches Buch über den Strafvollzug. Es liefert viele interessante Fakten, Zahlen und Begebenheiten, ordnet sie aber leider kaum ein. Hier schreiben zwei Justiz-Insider, sie wollen Laien und Außenstehenden ihre Vorurteile und Illusionen nehmen:
"Wie eine Gesellschaft tickt, wie menschlich oder mitfühlend sie ist, erkennt man am Umgang mit den Ausgestoßenen. Die Beschreibung der Haftanstalten bietet nicht nur einen Blick auf den Alltag der Insassen. Wichtiger noch gestattet sie einen klaren Blick nicht auf das, was wir gern laut unserem Selbstverständnis wären, sondern auf das, was wir sind."
Und so ist das Buch – trotz des abgebrühten, manchmal beinah zynischen Tonfalls auch ein Plädoyer – für einen besseren, humaneren Strafvollzug – und damit lesenswert.
Mehmet Daimagüler und Ernst von Münchhausen: "Mangelhaft. Hinter den Mauern deutscher Gefängnisse",
Blessing Verlag, 272 Seiten, 22 Euro.